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BERICHT/304: Formen der Erinnerungskultur (ZivilCourage)


ZivilCourage Nr. 5 - Dezember 2013/Januar 2014
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK

Formen der Erinnerungskultur
Wie gründlich ist die Vergangenheit vergangen?

von Detlef Thierig



Zurzeit erleben wir einen Boom der Erinnerungskultur. Wagner, Verdi, Schlacht bei Leipzig vor 200 Jahren. Man spricht von Gedenkkultur und feiert die Jubiläen, die im konservativen Mainstream genehm sind. Oder haben die großen Zeitungen im Juli an den 70. Jahrestag der Schlacht am Kursker Bogen erinnert - der größten Panzerschlacht der Geschichte, die den Ausgang des Zweiten Weltkrieges entscheidend beeinflusste? Inhalt und Formen der Erinnerungskultur sind interessant, denn sie prägen entscheidend unser kollektives Bewusstsein.

Aus der Geschichte lernen - das ist eine Forderung, die auch in der Friedensbewegung oft zu hören ist. Aber in dieser allgemeinen Form hat der Satz wenig Aussagekraft. Da ist zuerst die Frage, an welche Geschichte soll erinnert werden? Die Vergangenheit hat viele Aspekte. Wenn man an den Krieg denkt, soll man sich da erinnern an Heldentum, Soldaten-Kameradschaft und an die Begeisterung für das Vaterland oder soll man sich erinnern an die Millionen junger Menschen, die im Dreck der Grabenkämpfe elend verblutet sind? Wir sollten nicht verkennen, dass es die Erinnerungskultur der Marinekameradschaften, Vertriebenenverbände und Reservistenvereinigungen immer noch gibt. Dagegen zu setzen ist eine Bemühung, die nicht nur das Verbrecherische und die Absurdität des Krieges, jeden Krieges ins Bewusstsein rückt, sondern auch die geschichtlichen Erfahrungen der Friedensbewegung im Auge behält.

Von besonderer Bedeutung ist auch die Form der Erinnerungskultur. Wenn das Erinnern allein darin besteht, schreckliche, schändliche Ereignisse in der Vergangenheit zu schildern und nicht zu deuten, dann wird Erinnerungskultur leicht sinnentleert (H. Welzer/D. Giesecke: Das Menschenmögliche - Zur Renovierung der Deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012, Seite 116). Bloße Betrachtung von grauenhaften Vorgängen in der Geschichte, wie Massenmorden, Schlachten oder Bombenterror, erstarren leicht zu inhaltlosen Gesten, wenn nicht die Beziehung zum Heute hergestellt werden kann. Schulkindern, denen man zum dritten oder vierten Male vom Holocaust erzählt, fangen an, wegzuhören oder sogar ein Widerstreben zu empfinden. Solche Abwehr gegen das Anhören von Geschichte lässt sich nur vermeiden, wenn man in der Lage ist, sehr deutlich aufzuzeigen, welche Bedeutung die historischen Vorgänge noch für uns heute haben. Entscheidungen in der Gegenwart sind es, die mit den Erfahrungen aus der Vergangenheit besser getroffen werden können. Damit gewinnen sie Bedeutung für die Zukunft. Kurz gesagt, die Vergangenheitsbetrachtung ist für die Zukunftsgestaltung wichtig, und man könnte noch weiter gehen und sagen: Die Vergangenheitsbetrachtung z.B. als Erinnerungskultur ist nur dann interessant und wertvoll, wenn wir die Möglichkeiten für zukünftiges Handeln daraus ableiten können. "Historische Erfahrungen und historisches Wissen" schreibt Harald Welzer, "haben Gebrauchswert nur, wenn sie sich auf eine Zukunft beziehen, die jemand in einer jeweiligen Gegenwart erreichen möchte" (ebenda, S. 15).

Auch bei Veranstaltungen der Friedensbewegung zur Erinnerung an historische Ereignisse fehlt zuweilen ein deutlich erkennbarer Gegenwartsbezug. Bei der Fachtagung "Die Waffen nieder: 100 Jahre Erster Weltkrieg - nichts gelernt" vor dem Bundeskongress der DFG-VK im September gab es eine bewundernswert kenntnisreiche Rückschau auf die Situation vor 100 Jahren und die damaligen Bestrebungen der Friedensbewegung. Die Ausführungen von Wolfram Wette und Guido Grünewald blieben doch einigermaßen beziehungslos in der geschichtlichen Ferne. Man hätte sich mehr Hinweise gewünscht, weshalb die geschilderten Vorgänge auch für uns heute noch Bedeutung haben. Geschichte als Faktenschilderung ist sehr wichtig, aber sie bedarf der Deutung, genauer noch der Hindeutung auf die Gegenwart. Und das ist sicher keine Bevormundung, denn eine Deutung kann man immer noch ablehnen oder korrigieren, sie darf nur nicht fehlen - sie ist die Einladung zur Teilnahme an der Erörterung.

Ein weiterer Punkt, der zum Nachdenken über Erinnerungskultur dazugehört, ist an einem Beispiel am besten zu zeigen. Eine Generation junger Menschen wurde im Ersten Weltkrieg mit dem Massensterben des Stellungskrieges, mit Giftgasangriffen und mit der überlegenen Kampftechnik der Tanks und Flugzeuge konfrontiert. All diese schrecklichen Erlebnisse und Verluste haben zwar zunächst zu einer allgemeinen Kriegsmüdigkeit nach 1918 geführt, aber die Erinnerungen an den Krieg waren nicht so stark, um nur 20 Jahre später eine erneute Kriegsvorbereitung zu verhindern. Die Kriegsteilnehmer waren damals durchschnittlich 40 Jahre alt. Die Erlebnisse an der Front, in der Heimat, waren noch gegenwärtig, waren noch frisch. Warum haben die Erfahrungen aus dem Krieg nicht zu einer Handlungsanleitung geführt? Warum hat man nichts aus der Vergangenheit gelernt? Das Kind, das sich an der Kerze verbrannt hat, lernt aus diesem unangenehmen Erlebnis und es wird später nicht mehr in die Flamme greifen. Warum funktioniert dieser Mechanismus nicht im kollektiven Bewusstsein? Was hält die Menschen eigentlich davon ab, aus Ereignissen, die ihnen materiellen, körperlichen und seelischen Schaden zugefügt haben, die vernünftigen Schlüsse zu ziehen? Der britische Historiker Eric Hobsbawm sagt zu diesem Phänomen: "Die Zerstörung der Vergangenheit oder vielmehr die jenes sozialen Mechanismus, der die Gegenwartserfahrung mit derjenigen früherer Generationen verknüpft, ist eines der charakteristischsten und unheimlichsten Phänomene des späten 20. Jahrhunderts" (Das Zeitalter der Extreme - Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2007, Seite 173). Und das gilt sicher nicht nur für das späte 20. Jahrhundert. Dieses Erschrecken über die Verhinderung des Lernens hat wohl kaum eine zeitliche Begrenzung. Es bleibt zu fragen, wer hat die Macht, das Interesse und die Mittel, die Erinnerung an das Elend des Krieges so nachdrücklich zu verhindern, dass Wiederaufrüstung und erneutes Einsteigen in Kriegsgeschehen möglich sind? Als erstes fallen einem dabei vielleicht Rüstungsproduzenten oder die Militärs ein. Doch sie allein sind dazu heute nicht mehr in der Lage. Der Kreis ist größer und es gilt, ihn zu identifizieren und zu benennen.

Diese Fragen umreißen ein altes und zugleich hochaktuelles Gebiet pazifistischer Arbeit. Zu erkennen, was uns daran hindert, die Absurdität und das verbrecherische Gesicht des Krieges langfristig wahrzunehmen - das könnte man auch als eine lebenswichtige Aufgabe für alle Menschen bezeichnen.


Detlef Thierig ist seit Jahzehnten in der DFG-VK in Nordrhein-Westfalen aktiv.

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Quelle:
ZivilCourage Nr. 5 - Dezember 2013/Januar 2014, S. 13
Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK
Herausgeberin: Deutsche Friedensgesellschaft -
Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen e.V. (DFG-VK)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2014