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BERICHT/265: Verteidigung und Grundrechte (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 25 - I/2010
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Verteidigung und Grundgesetz
Die friedenspolitisch verheerende Rechtsprechung des Verfassungsgerichts

Von Jürgen Rose


Angesichts der skizzierten hochproblematischen Entwicklung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie der "Transformation" der Bundeswehr zur postmodernen Interventionsarmee scheint es - im Sinne des unverändert gültigen Imperativs Immanuel Kants, der anno 1798 im "Streit der Fakultäten" postuliert hatte: "Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Rechte angepasst werden" dringend angebracht, den Blick auf die völker- und verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundeswehr zu richten.

Dabei empfiehlt es sich, die althergebrachte Juristenweisheit zu beherzigen, derzufolge ein Blick ins Gesetzbuch - im vorliegenden Falle das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland - die Rechtsfindung ungemein zu erleichtern pflegt. Gleichwohl bestätigt die Suche nach einer verfassungsrechtlich fixierten Aufgabenstellung der deutschen Streitkräfte erneut, dass keine Regel ohne Ausnahme gilt. Lediglich recht lakonisch und vage nämlich formulierten die Verfassungsgeber im einschlägigen Artikel 87a des Grundgesetzes: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf Ihre zahlenmäßige Stärke und die Grundzüge ihrer Organisation müssen sich aus dem Haushaltsplan ergeben", und sie ergänzten noch: "Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt."

Zuvörderst weist diese Verfassungsvorschrift die Kompetenz für die Aufstellung von Streitkräften dem Bund zu. Damit zieht sie eine Konsequenz aus der deutschen Militärgeschichte, denn bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges existierten im Deutschen Reich Armeen der Länder. Darüber hinaus gründet in dem hier verankerten Budgetrecht des Bundestages der Status der Bundeswehr als einer Parlamentsarmee. Und schließlich konstituiert Art. 87a GG die verfassungsrechtliche Grundsatzentscheidung zugunsten einer militärischen Organisation der Verteidigung Deutschlands: Der Bund ist zur Aufstellung von Streitkräften zum Zwecke der Verteidigung berechtigt - ohne dass sich indessen aus den einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes eine zwingende Verpflichtung zur Aufstellung von Streitkräften herleiten ließe.

Im Hinblick auf den bereits unter historischer Perspektive abgehandelten Mythos von der Landesverteidigung als konstitutivem Auftrag der Bundeswehr muss bei der Betrachtung des Artikels 87a des Grundgesetzes geradezu ins Auge springen, dass es dort lediglich heißt: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf." Nicht aber: "Der Bund stellt Streitkräfte zur Landesverteidigung auf". Was nun konkret unter jener Zweckbestimmung - der "Verteidigung" - zu verstehen ist, lässt die Verfassung an dieser Stelle offen.

Oft wird der Artikel 115a des Grundgesetzes, wo vom Verteidigungsfall die Rede ist, als vermeintliche Option der Sinndeutung genannt. Dieser Artikel bildet zusammen mit den Artikeln 115b bis 115l den Abschnitt "X a. Verteidigungsfall" des Grundgesetzes, welcher für den speziellen Fall der dann in der Tat gegebenen Landes-Verteidigung - wenn nämlich, "das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht" - die dann zu ergreifenden Maßnahmen auflistet und die dafür erforderliche Kompetenzverteilung zwischen den Verfassungsorganen - die so genannte "Notstandsverfassung" - regelt. Letztere wurde erst 1968 nach inner- und außerparlamentarisch lange und erbittert geführtem Kampf ins Grundgesetz eingefügt. Demnach werden im Verteidigungsfall die in Friedenszeiten geltenden Rechtsnormen außer Kraft gesetzt - ab dann gilt "Kriegsrecht". Aus dem Umstand, dass der Verteidigungsfall ausschließlich dann eintreten kann, wenn das Territorium der Bundesrepublik Deutschland selbst angegriffen wird, nicht aber wenn beispielsweise nur ein Nato-Verbündeter attackiert wird, ohne dass davon das Bundesgebiet betroffen ist, wird ersichtlich, dass es sich bei dem in Artikel 115a bis 115l aufgeführten Ausdruck "Verteidigungsfall" lediglich um einen spezifischen Unterbegriff des viel weiter gefassten Terminus "Verteidigung", wie er in Artikel 87a des Grundgesetzes auftaucht, handelt. So reicht es beispielsweise aus, dass der Nato-Rat den Bündnisfall erklärt hat, um die Bundeswehr im Rahmen des Art. 87a GG zur Verteidigung von Nato-Verbündeten einzusetzen, ohne dass hierzu gemäß Art. 115a GG die Feststellung des Verteidigungsfalls durch den Deutschen Bundestag erforderlich wäre.

Im Artikel 26 des Grundgesetzes stellt der Verfassungsgeber immerhin klar, was er unter gar keinen Umständen unter "Verteidigung" verstanden wissen will. Dort nämlich steht unmissverständlich geschrieben: "Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen." Der Angriffskrieg ist der Bundeswehr demnach qua Grundgesetz kategorisch untersagt.

Er ist auch durch das Völkerrecht geächtet, dem wiederum Artikel 25 des Grundgesetzes hierzulande unumschränkte und prioritäre Geltung einräumt: "Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes." Diese Verfassungsnorm bindet auch alle Angehörigen der Bundeswehr, vom einfachen Soldaten bis zum höchsten General, strikt an das Völkerrecht, das seinerseits den Angriffskrieg verbietet.

Dass Friedenswahrung und -sicherung in Europa und der Welt den fundamentalen Daseinszweck der deutschen Streitkräfte zu bilden haben, folgt wiederum aus Artikel 24 des Grundgesetzes, der festlegt, dass der "Bund ... sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen [kann]; er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern."

Als Fazit dieses kursorischen Blicks ins Grundgesetz lässt sich festhalten, dass der Verteidigungsauftrag der Bundeswehr dort nicht abschließend definiert wird, sondern innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen interpretationsoffen ist. Er bleibt einerseits den Restriktionen des Völkerrechts unterworfen, andererseits entsprechend der sicherheitspolitischen Lage zu konkretisieren. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat diese Interpretationsspielräume in der jüngeren Vergangenheit auf sehr unterschiedliche Weise ausgefüllt. Wie nachfolgend aufgezeigt wird, muss in dieser Hinsicht die seit 1994 gepflegte Urteilspraxis des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe als nachgerade verheerend bezeichnet werden, während das Bundesverwaltungsgericht zu Leipzig mit einem Urteilsspruch im Jahre 2005 tiefe Weisheit an den Tag gelegt hat.


Höchstrichterliche Interpretation

Eingespannt ins Prokrustesbett des Kalten Krieges hatte die Bonner Republik nicht den geringsten Anlass, eine extensive Auslegung des im Grundgesetz normierten Verteidigungsauftrages der deutschen Streitkräfte auch nur in Erwägung zu ziehen. Die exponierte Lage Deutschlands an der vordersten Front zweier sich feindselig gegenüberstehender Militärblöcke, die beide über ein Arsenal an Nuklearwaffen verfügten, das ausreichte, die Welt gleich mehrfach in eine radioaktive Wüste zu verwandeln, zwang dazu, die sicherheitspolitischen Ambitionen geographisch wie strategisch eng umgrenzt zu halten. Noch 1982 beschied daher Bundeskanzler Helmut Schmidt nach geheimer Sitzung des Bundessicherheitsrates eine Anfrage der Bündnisvormacht USA, die um die Entsendung von Minenräumbooten der Bundesmarine in den während des ersten Golfkrieges von Iran und Irak verminten Persischen Golf gebeten hatte, negativ. Die offizielle Begründung damals lautete, das Grundgesetz verbiete den Einsatz der Bundeswehr außerhalb des im Artikel 6 des Nato-Vertrages definierten Bündnisgebietes und beschränke ihren Aktionsradius auf die so genannte "erweiterte Landesverteidigung" im Rahmen der nordatlantischen Allianz. Doch musste bereits zum damaligem Zeitpunkt jedem, der das Grundgesetz zu lesen imstande war, klar sein, dass es sich hierbei lediglich um eine verfassungspolitische Aussage handeln konnte, deren Klugheit in Anbetracht der auf dem Siedepunkt befindlichen Konfliktlage zwischen den west-östlichen Antipoden zwar außer Zweifel stand, nichtsdestoweniger verfassungsrechtlich nicht zu halten war.

Dieser Befund bestätigte sich durchschlagend, als am 12. Juli 1994 das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sein Grundsatzurteil betreffend den "Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit" sprach. Vorangegangen war ein jahrelanger innenpolitischer Streit über die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr, die bereits unmittelbar nach Ende des Kalten Krieges im Jahre 1990 begonnen hatten - nicht zuletzt auf Betreiben des damals amtierenden Nato-Generalsekretärs und ehemaligen Starfighter-Piloten der deutschen Luftwaffe, Manfred Wörner, der für das atlantische Bündnis die schneidige Parole ausgegeben hatte: "Out-of-area or out-of-business".

An jenem denkwürdigen Tag bundesrepublikanischer Vorkriegsgeschichte konstatierten die Richter in den roten Roben: "Art. 87a GG steht der Anwendung des Art. 24 Abs. 2 GG als verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit nicht entgegen. Nach Art. 87a Abs. 1 Satz 1 GG stellt der Bund 'Streitkräfte zur Verteidigung' auf; nach Art. 87a Abs. 2 GG dürfen diese Streitkräfte 'außer zur Verteidigung' nur eingesetzt werden, soweit das Grundgesetz es ausdrücklich zulässt. Die mannigfachen Meinungsverschiedenheiten darüber, wie in diesem Zusammenhang die Begriffe der 'Verteidigung' und des 'Einsatzes' auszulegen sind und ob Art. 87a Abs. 2 GG als eine Vorschrift zu verstehen ist, die nur den Einsatz der Streitkräfte 'nach innen' regeln will, bedürfen in den vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung. Denn wie immer dies zu beantworten sein mag, jedenfalls wird durch Art. 87a GG der Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit, dem die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 24 Abs. 2 GG beigetreten ist, nicht ausgeschlossen." (2 BvE 3/92,5/93,7/93,8/93 - BVerfGE 90, 286 -, S. 355f).

So stichhaltig das Argument, dass es von Verfassungs wegen erlaubt sei, deutsches Militär im Auftrag von zur Wahrung des Weltfriedens autorisierten Institutionen bei zugleich strikter Beachtung der Normen des Völkerrechts einzusetzen, so problematisch der Umstand, dass zwar prinzipiell die Verfassungskonformität der so genannten out-of-area-Einsätze der Bundeswehr bestätigt wurde, die verfassungsrechtlich gebotene Klärung des Verteidigungsbegriffs indes nach wie vor ausblieb. Als schlechthin verheerend erwies sich in der Folgezeit freilich, dass die Verfassungsrichter die zum Zweck der kollektiven Verteidigung gegründeten Militärbündnisse Nordatlantikpakt-Organisation (Nato) und Westeuropäische Union (WEU) zu Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit wie Uno und OSZE umdeklarierten. Zwar hatten beide Verteidigungsallianzen in ihren Statuten verankert, dass sie strikt innerhalb des völkerrechtlichen Normenrahmens der Charta der Vereinten Nationen agieren würden, doch erwies sich dies im Falle der Nato als Muster ohne Wert.

Im Jahre 1999 nämlich führte das atlantische Bündnis, ohne dass hierzu der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Ermächtigung erteilt hatte, einen dem Grunde nach völkerrechtswidrigen Aggressionskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien und besaß auch noch die Chuzpe, während der Luftkrieg weiterhin tobte, zum fünfzigsten Jahrestag seines Bestehens eine novellierte Militärstrategie zu verabschieden, in der expressis verbis zu Protokoll gegeben wurde, dass es auch fürderhin ohne Uno-Mandat militärisch zu intervenieren gedenke, wo immer und wann immer dies erforderlich schiene - ganz nach dem Motto: Eine Allianz "lupenreiner Demokraten" kann nicht fehlgehen. Genauso gut hätten freilich die Paten der Mafia den Bankraub ex cathedra für legal erklären können.


Transatlantische Sirenengesänge

Die Bundestagsfraktion der PDS nahm mit dem Gang nach Karlsruhe den bitter notwendigen Versuch auf sich, die gefällige Mitwirkung der Berliner Komplizen der einzig verbliebenen Supermacht bei der systematisch vorangetriebenen Metamorphose der vormaligen Nordatlantischen Verteidigungsallianz zum nunmehr global agierenden Interventionskriegsbündnis zu stoppen. Den springenden Punkt der beim Bundesverfassungsgericht eingereichten Verfassungsklage bildete der Einwand, dass mit dem neuen Strategischen Konzept von 1999 der im Nato-Vertrag ursprünglich niedergelegte Bündniszweck in seinem Wesensgehalt verändert worden sei, und hierzu hätte laut Grundgesetz zuvor der Bundestag seine Zustimmung erteilen müssen.

Doch mit seiner Entscheidung vom 22. November 2001 (2 BvE 6/99) ließ das Bundesverfassungsgericht die Kläger eiskalt abblitzen. Danach konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass die Verfassungsrichter nicht im Traume daran dachten, den außen- und sicherheitspolitischen Handlungsspielraum der Exekutive in irgendeiner Form einzuschränken - ganz im Gegenteil: Sie stießen die Tür zur künftig weltweiten Entfaltung deutscher Militärmacht sperrangelweit auf.

In Teilen trägt die höchstrichterliche Urteilsbegründung Züge einer Realsatire. Hatten die Rotröcke einführend zum wiederholten Male betont, dass "das Grundgesetz ... sich einer näheren Definition dessen, was unter Friedenswahrung zu verstehen ist, [enthalte]", machten sie im Anschluss von ihrer exklusiven Deutungshoheit hemmungslosen Gebrauch. Das liest sich dann so: "Schon die tatbestandliche Formulierung des Art. 24 Abs. 2 GG schließt aber auch aus, dass die Bundesrepublik Deutschland sich in ein gegenseitiges kollektives System militärischer Sicherheit einordnet, welches nicht der Wahrung des Friedens dient" - als könne nicht sein, was nicht sein darf "Auch die Umwandlung eines ursprünglich den Anforderungen des Art. 24 Abs. 2 GG entsprechenden Systems in eines, das nicht mehr der Wahrung des Friedens dient oder sogar Angriffskriege vorbereitet, ist verfassungsrechtlich untersagt und kann deshalb nicht vom Inhalt des auf der Grundlage des nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1, Art. 24 Abs. 2 GG ergangenen Zustimmungsgesetzes zum Nato-Vertrag gedeckt sein." In Klartext übersetzt: Es ist schon deshalb völlig ausgeschlossen, dass die Nato sich völkerrechtswidrig betätigt, weil widrigenfalls die Bundesrepublik Deutschland qua Grundgesetz dort gar nicht Mitglied sein dürfte. Da die Bundesrepublik Deutschland jedoch nach wie vor Bündnispartner ist, können demzufolge an der Völkerrechtstreue der Allianz keinerlei Zweifel bestehen - ein klassischer Zirkelschluss!

Und als hätte der völkerrechtswidrige Luftkrieg gegen Jugoslawien nie stattgefunden, bescheinigte das oberste Gericht dieser Republik der ehrenwerten Gesellschaft von transatlantischen Interventionskriegern in Sachen Friedenswahrung eine blütenreine Weste: "Schließlich verlässt die mit der Zustimmung zum neuen Strategischen Konzept 1999 eingeleitete und bekräftigte Fortentwicklung des Nato-Vertrags nicht die durch Art. 24 Abs. 2 GG festgelegte Zweckbestimmung des Bündnisses zur Friedenswahrung ... Die im Konzept konkretisierten Einsatzvoraussetzungen der Nato-Streitkräfte sollen ausweislich des Wortlauts nur in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht erfolgen. Nicht in Frage gestellt werden daher dessen zwingendes Gewaltverbot (Art. 2 Ziff 4 UN-Charta), die anerkannten Voraussetzungen für den Einsatz militärischer Macht, die von der Mandatierung von Staaten (Art. 42 i.V.m. Art. 48 UN-Charta) bzw. Regionalorganisationen (Art. 53 UN-Charta) durch die Vereinten Nationen über die kollektive Verteidigung auch dritter Staaten bis zum Eingreifen auf Einladung reichen, sowie die Proportionalität solchen Handelns."

Je süßer Brüssel seine Sirenentöne von humanitärer Intervention und militärischem Humanismus zum höheren Segen des Weltfriedens säuselt, desto vertrauensseliger die Verfassungshüter in Karlsruhe. So etwas nennt man Realitätsverleugnung.


Die Doktrin vom euro-atlantischen Internationalismus

Den bisherigen Tiefpunkt einer unheilvollen höchstrichterlichen Entscheidungspraxis, die in buchstäblich letzter Instanz die ausschlaggebende Verantwortung für die fatale Entgrenzung deutscher Militärmacht trägt, markierte das Bundesverfassungsgericht am 3. Juli 2007, als es eine Organklage der Fraktion Die Linke gegen den Einsatz von "Tornado"-Waffensystemen der Bundesluftwaffe in Afghanistan abwies (2 BvE 2/07). Treffend kommentierte in der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl, selbst ehemaliger Staatsanwalt: "Die Richter haben der Politik, der Nato und der Bundeswehr eine Carte Blanche ausgestellt. Sie haben das heiße Eisen Afghanistan-Krieg nicht angefasst, sondern es nur distanziert betrachtet. Sie haben solchen Militär-Aktionen keine Grenzen gesetzt. Die dritte Gewalt zieht sich zurück und überlässt der exekutiven Gewalt und dem Militär das Terrain und die Offensive."

Mit ihrem nach 1994 und 2001 dritten Urteil zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr begründen die Verfassungsrichter, vermutlich ohne es überhaupt zu merken, eine Doktrin des "euro-atlantischen Internationalismus", die letztlich nicht anderes darstellt als das mit umgekehrten Vorzeichen versehene Prinzip des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus", das im November 1968 der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Leonid Breschnew, deklariert hatte, um nachträglich den Einmarsch von Truppen des Warschauer Vertrages in die damalige Tschechoslowakische Sozialistische Republik (CSSR) zu rechtfertigen. Im Westen besser bekannt als "Breschnew-Doktrin", beschränkte jene außenpolitische Direktive die innere und äußere Souveränität der Warschauer Vertragsstaaten auf die "sozialistische Selbstbestimmung" und formulierte - frei nach der Devise: "Wo der Sozialismus gesiegt hat, ist der Prozess unumkehrbar" - einen Anspruch auf Intervention in deren innere Angelegenheiten. Für den Fall des Abweichens vom rechten Pfad des Sozialismus nämlich sollte den betreffenden Ländern "brüderliche Hilfe", gegebenenfalls auch mit Waffengewalt, zuteil werden. Im Jahre 1985 bereitete Michail Gorbatschow als Generalsekretär der KPdSU Breschnews Chimäre ihr verdientes Ende auf dem Schuttplatz der Geschichte. Nun aber hat das Bundesverfassungsgericht zu Karlsruhe die Mumie exhumiert und ideologisch neu ausstaffiert - und freundlich grüßt darob Genosse Leonid aus seiner Moskauer Gruft.

Der globale Hegemonieanspruch der Nato, den das Bundesverfassungsgericht in seinem wahrlich bahnbrechenden Urteilsspruch konstituiert, entspringt aus zwei Prämissen. Zum einen, so die Richter, "können, wie der 11. September 2001 gezeigt hat, Bedrohungen für die Sicherheit des Bündnisgebiets nicht mehr territorial eingegrenzt werden". Soll heißen: Da sich die Risiken globalisiert haben, darf demzufolge auch die atlantische Allianz global agieren und intervenieren. Zur Rechtfertigung militärischer Gewaltanwendung genügt nach Auffassung des Gerichts stets ein wie auch immer gearteter "Bezug zur eigenen Sicherheit im euro-atlantischen Raum" - und mag dieser auch noch so sehr an den Haaren herbeigezogen sein, wie etwa die Erklärung, von Afghanistan aus sei ein bewaffneter Angriff gegen die USA erfolgt. Kurzum: Immer wenn die Nato ihre Sicherheitsinteressen tangiert sieht, ist sie nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts weltweit automatisch zur Intervention befugt - die bloße Behauptung genügt. Keineswegs sei, so die Verfassungsrichter, hiermit eine strukturelle Veränderung des ursprünglichen Vertrages über ein "klassisches Verteidigungsbündnis" verbunden, dem der Deutsche Bundestag 1955 zugestimmt hatte. Denn andere militärische Einsätze als den gegenseitigen Beistand im Bündnisfall regle der Nato-Vertrag nicht ausdrücklich, und daher seien "auch Krisenreaktionseinsätze erlaubt, ohne dass dadurch der Charakter als Verteidigungsbündnis in Frage gestellt würde".

Zudem erkannte das höchste deutsche Gericht wie schon im Jahr 2001 nicht, dass sich das atlantische Bündnis von seiner friedenswahrenden Zwecksetzung abgekoppelt hatte. Denn nach Ansicht der Verfassungshüter "manifestiert sich in den Erklärungen der Staats- und Regierungschefs der Allianz anlässlich des Nato-Gipfels in Riga vom 28. und 29. November 2006 der Wille der Nato, auch ihre Operation in Afghanistan auf das Ziel der Wahrung und Stabilisierung des Friedens auszurichten" - und an solcher Zusicherung lupenreiner Demokraten waren Zweifel schließlich völlig unangebracht. Die höchstrichterliche Eloge auf das nordatlantische Friedensbündnis gipfelte in der abschließenden Feststellung: "Auch in den Teilen der Erklärungen, die über das Engagement der Nato in Afghanistan hinausgehen, finden sich keine Anhaltspunkte für eine Abkehr der Nato von ihrer friedenswahrenden Ausrichtung, zumal auch dort betont wird, die Nato halte unverrückbar an den Zielen und Prinzipien der Vereinten Nationen fest." Wo Frieden draufsteht, ist auch Frieden drin, lautete demnach die Maxime der blauäugigen Verfassungshüter. Von der Existenz so genannter Mogelpackungen schien man in Karlsruhe noch nie etwas gehört zu haben - ganz im Gegensatz zu den Opfern jener "Bomben für den Frieden", die weit hinten in Afghanistan und anderswo tagtäglich sterben.

Was schlussendlich dem Fass den Boden ausschlug, war der Umgang der Verfassungsrichter mit dem Völkerrecht. So begründeten nach Auffassung des Gerichts "Völkerrechtsverletzungen durch einzelne militärische Einsätze der Nato, insbesondere die Verletzung des Gewaltverbots, nicht bereits für sich genommen einen im Organstreitverfahren rügefähigen Verstoß". Auch nahm das Bundesverfassungsgericht "keine allgemeine Prüfung der Völkerrechtskonformität von militärischen Einsätzen der Nato" vor. De facto erteilte es mit seinem Urteilsspruch der atlantischen Allianz eine Lizenz zum Völkerrechtsbruch. Nach dem frivolen Motto "Ein bisschen Völkerrechtsbruch kann nicht schaden" konstatierten die höchsten deutschen Richter allen Ernstes, dass "selbst wenn man von einer punktuellen Zurechnung einzelner Völkerrechtsverstöße ausginge, sich damit jedenfalls keine Abkehr der Nato von ihrer friedenswahrenden Zielsetzung begründen ließe". Und weiter hieß es im Urteil: "Um mit dem Isaf-Einsatz einen systemrelevanten Transformationsprozess der Nato weg von der Friedenswahrung belegen zu können, müsste dieser Einsatz insgesamt als Verstoß gegen das Völkerrecht erscheinen."

Im Klartext folgt daraus: Solange weder die Bundesregierung noch die Nato selbst dumm genug sind zu erklären, sie führten einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, so lange lässt das Bundesverfassungsgericht sie ohne Vorbehalt gewähren, solange dürfen sie die Bundeswehr für die weltweite "Friedenssicherung" mit Militärgewalt missbrauchen. Auf die Frage "Wollt ihr den globalen Krieg?" antwortet das oberste Gericht der Republik und zugleich Hüter des Grundgesetzes inbrünstig: Nato befiehl, wir folgen!

Was von der in solcher "Rechtsprechung" aufscheinenden richterlichen Attitüde zu halten ist, brachte Christian Bommarius in der Berliner Zeitung mit spitzer Feder auf den Punkt: "Gäbe es den Straftatbestand der richterlichen Desertion, dann hätte ihn das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung über die Tornado-Einsätze in Afghanistan erfüllt. Die Richter sind dem Verfassungsrecht von der Fahne gegangen. ... Das juristische und intellektuelle Niveau dieser Entscheidung ist bedrückend. Aber beschämend ist, dass kein einziger der acht Richter der Versuchung der verfassungsrechtlichen Fahnenflucht in einem abweichenden Votum widerstand." Dem bleibt nichts hinzuzufügen.


Der Diplom-Pädagoge Jürgen Rose war bis Anfang des Jahres Oberstleutnant der Bundeswehr und ist seitdem im Ruhestand. Er ist Mitglied im Vorstand des Darmstädter Signals.

Der Text ist entnommen aus seinem Buch Ernstfall Angriffskrieg. Frieden Schaffen mit aller Gewalt?
(Verlag Ossietzky, Hannover 2009, 270 Seiten, 20,- Euro, ISBN 978-3-9808137-2-3).

Der Schattenblick veröffentlicht diesen Beitrag mit freundlicher Genehmigung des Verlags Ossietzky.


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 25, I/2010, S. 12 - 16
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juli 2010