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BERICHT/225: Totale Kriegsdienstverweigerung und Gewissensfreiheit


Forum Pazifismus Nr. 20 - IV/2008
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Totale Kriegsdienstverweigerung und Gewissensfreiheit
Offener Rechtsbruch im Umgang mit radikalen Antimilitaristen

Von Ralf Siemens und Werner Glenewinkel


Seit Anfang Oktober sitzt ein junger Mann im Bundeswehrarrest. Bei Arrestantritt sind ihm alle eigenen Bücher abgenommen worden, er sitzt 23 Stunden am Tag allein in einer Zelle. 7 Tage. Er verweigert sowohl den Wehr- als auch den Zivildienst. Im Kriegsfall würden auch Zivildienstleistende zur Aufrechterhaltung des Militärapparates beitragen, lautet die Begründung für seine Totalverweigerung. Jan-Patrick Ehlert aus Flensburg ist totaler Kriegsdienstverweigerer oder kurz Totalverweigerer.


Vom Drückeberger zum Dienstleister

In über 50 Jahren haben mehr als 3 Millionen Wehrpflichtige den Kriegsdienst verweigert und sind in der öffentlichen Wahrnehmung vom Drückeberger zum gesellschaftlich unentbehrlichen Dienstleister aufgestiegen. Ihre Gewissensentscheidung gegen den Kriegsdienst wird mittlerweile in den meisten Fällen als glaubwürdig anerkannt, weil sie als Zivildienstleistende "gebraucht" werden - als Personalersatz im ausgedünnten und schlecht bezahlten Pflege- und Gesundheitssektor und zur Aufrechterhaltung der "allgemeinen Wehrpflicht".


Totalverweigerung als ziviler Ungehorsam

Ganz anders ergeht es denjenigen, die nicht nur den Kriegsdienst mit der Waffe, sondern auch den Ersatzdienst aus Gewissensgründen verweigern. Sie verlassen den geschützten Bereich des von der Verfassung garantierten Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung (KDV), da die staatliche Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gemäß Art. 4 Abs. 3 Grundgesetz (GG) nur vor dem Kriegsdienst mit der Waffe, nicht aber vor waffenlosen kriegsbezogenen oder kriegsfördernden Diensten schützt. Sie verzichten auf jede Möglichkeit, aus opportunistischen Gründen eine Ausmusterung herbeizuführen oder Lücken im Wehrpflichtnetz nutzend aus der Dienstpflicht herauszufallen. Sie müssen grundsätzlich und mit "offenem Visier" verweigern, um sich und ihrem Gewissen treu zu bleiben. Sie leisten zivilen Ungehorsam, weil sie die Kriegsdienstpflicht und die damit verbundenen Ersatzdienste nicht leisten wollen und können - mit erheblichen persönlichen Konsequenzen.


Totalverweigerer im Schatten des Rechts

Den Totalverweigerern droht Strafverfolgung wegen "eigenmächtiger Abwesenheit" von der Truppe oder vom Zivildienst (§ 15 Wehrstrafgesetz/WStG, § 52 Zivildienstgesetz/ZDG) bzw. "Fahnenflucht" oder "Dienstflucht" (§ 16 WStG, § 53 ZDG), wenn sie der Einberufung nicht nachkommen. Es handelt sich hierbei um Vergehen, die mit Freiheitsstrafen bis zu drei bzw. fünf Jahren geahndet werden können. In der Regel werden die Totalverweigerer dann durch Polizei bzw. Feldjäger dem Dienst zugeführt. In der Kaserne oder im Zivildienst werden sie konsequent die ihnen gegebenen Befehle (im Zivildienst: "dienstliche Anordnungen") verweigern und erfüllen damit die Straftatbestände "Gehorsamsverweigerung" (§ 20 WStG) bzw. "Nichtbefolgen von Anordnungen" (§ 54 ZDG).

Neben der Strafverfolgung durch die zivile Gerichtsbarkeit bekommen die Totalverweigerer, die in der Bundeswehr sind, das militäreigene "Disziplinarrecht" in aller Härte zu spüren. Im Rahmen ihres "Erziehungsrechts" darf die Truppe gemäß Wehrdisziplinarordnung (WDO) auch freiheitsentziehende Maßnahmen verfügen. Für den "Disziplinararrest", der bis zu 21 Tage dauern kann (§ 26 WDO), braucht ein Vorgesetzter nach § 40 WDO lediglich die Zustimmung eines Richters der militäreigenen Gerichtsbarkeit ("Truppendienstgerichte").

Bei der Anwendung des Disziplinarrechts gegen Totalverweigerer offenbaren sich die Grenzen dieses Systems besonders deutlich: Die Bundeswehr versucht, den Totalverweigerer mit möglichst vielen und immer längeren Arresten zur "Einsicht" zu bringen bzw. seinen Willen zu brechen. Der Totalverweigerer beruft sich auf seine einmalig getroffene Entscheidung, mit der er sich gerade außerhalb des gesamten Systems Wehrpflicht stellt.


Arrest-Willkür mit System

Zwischen April2007 und Oktober 2008 sind sechs totale Kriegsdienstverweigerer zur Bundeswehr einberufen worden. In den Jahren 2004 bis 2006 wurde die Bundeswehr nicht mit einberufenen Totalverweigerern konfrontiert, da sie entweder "vergessen" oder ausgemustert wurden. Bei den Jüngsten Totalverweigerern haben religiöse, pazifistische oder politische Motive zu ihrer Entscheidung geführt. Drei Totalverweigerer haben ihre Entscheidung auch darauf zurückgeführt, dass die Wehrpflicht höchst ungerecht sei, wenn jeder Zweite ausgemustert und nur noch jeder Sechste eines Jahrgangs zur Bundeswehr einberufen wird.

Sowohl die Arrestbedingungen wie auch die Dauer der Freiheitsentziehung variieren von Totalverweigerer zu Totalverweigerer. Mal wird das Besuchsrecht, durch eine interne Vorschrift auf eine Stunde wöchentlich beschränkt, großzügig gehandhabt oder auch gestrichen, mal der Außenkontakt nur auf den Postempfang reduziert und telefonische Kontakte selbst zu direkten Familienangehörigen unterbunden, mal "dürfen" sie eigene Literatur mit in die Zelle nehmen, mal wird ihnen dies bis auf Bibel und Militaria verwehrt.

- Jonas Grote, zum April 2007 einberufen, wurde nach zwei 21-tägigen Arresten auf Weisung des "Bundesministers der Verteidigung" entlassen.

- Der zum Juli 2007 einberufene Alexander Hense konnte nach 25 Tagen Arrest die Kaserne verlassen, weil das militäreigene Gericht einen Antrag auf Verhängung eines dritten Arrestes abgelehnt hatte.

- Moritz Kagelmann, er war zum Oktober 2007 einberufen, wurde während des laufenden vierten Arrestes nach insgesamt 55 Tagen Militärhaft Mitte Dezember entlassen.

- Der zum April 2008 einberufene Matthias Schirmer wurde aufgrund seiner gegen die zweite Arreststrafe gerichtete Beschwerde vorzeitig nach 34 Tagen aus dem Arrest entlassen:

Besonderes Augenmerk verdient der Umgang der Bundeswehr gegenüber Silvio Walther, ebenfalls einberufen zum April 2008. Von Feldjägern wurde er seiner Einheit zugeführt. Für die "eigenmächtige Abwesenheit" erhielt er nicht nur einen siebentägigen Arrest, sondern musste auch noch eine "Disziplinarbuße" in Höhe von 120 Euro bezahlen. Der Arrest wurde in einer vier Quadratmeter kleinen und ungeheizten Zelle vollstreckt. Nach dem ersten Arrest folgen zweiter, dritter und vierter Arrest mit einer Dauer von 10, 14 und 21 Tagen. Bereits in der ersten Woche des vierten Arrestes beantragte die Truppe einen fünften Arrest und machte somit deutlich, dass sie selbst von einer "erzieherischen Wirkung" der laufenden Maßnahme nicht ausgeht. Dann aber wird ein Arrest offen rechtswidrig. Das Truppendienstgericht lehnte nicht nur diesen Antrag ab, sondern veranlasste folgerichtig die sofortige Entlassung. Nach insgesamt 40 Tagen in Militärhaft erhielt er ein "Dienstverbot" und wurde anschließend aus der Bundeswehr entlassen.


Im Namen des Volkes?

Die Urteile der zivilen Gerichte gegenüber Totalverweigerern reichen von Einstellungen nach Jugendstrafrecht bis hin zu Haftstrafen ohne Bewährung. Die wenigen aktuellen und rechtskräftig gewordenen Urteile lassen nur begrenzt Verallgemeinerungen zu. Doch scheint sich der Trend seit der Jahrtausendwende zu bestätigen, dass Geldstrafen die Regel, Freiheitsstrafen die Ausnahmen sind.

- Jonas Grote wurde im Oktober 2007 vom Amtsgericht Nürnberg zu 120 Stunden gemeinnütziger Arbeit nach Jugendstrafrecht verurteilt, 40 mehr als die Staatsanwaltschaft gefordert hatte.

- Alexander Hense wurde vom Amtsgericht Pforzheim im November 2007 die Auflage erteilt, 100 Stunden gemeinnützige Arbeit zu leisten. Die Staatsanwaltschaft, sie hatte eine achtmonatige Freiheitsstrafe auf Bewährung gefordert, ging in die Berufung. Das Landgericht Karlsruhe verurteilte ihn im März wegen "Fahnenflucht u.a." zu einer Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen. Das Jugendstrafrecht fand keine Anwendung.

- Moritz Kagelmann wurde im Oktober 2008 durch das Amtsgericht Strausberg wegen "eigenmächtiger Abwesenheit" und "Gehorsamsverweigerung" zu einer Geldstrafe in Höhe von 60 Tagessätzen verurteilt.

- Gegen Silvio Walther und Mathias Schirmer laufen die Strafverfahren, aber es sind noch keine erstinstanzlichen Verhandlungstermine anberaumt worden.


Das Beispiel Andreas Reuter

Dass radikale Kriegsdienstverweigerer auch von ordentlichen Gerichten nicht "fair" behandelt werden, musste Andreas Reuter erfahren. Er war wegen Zivildienstflucht angeklagt, weil er der Einberufung zum Juli 2005 nicht nachgekommen ist. Das Amtsgericht Zittau agierte schon im Vorfeld der Verhandlung voreingenommen, in dem es Akteneinsichten verwehrte und Anträge der als Wahlverteidiger zugelassenen drei Totalverweigerer ignorierte. Während der Verhandlung gegen den erklärten Gegner von Gewalt saßen sechs bewaffnete Polizisten auf Weisung des Richters in der ersten Reihe, und den Verteidigern wurde überraschend die Zulassung entzogen. Anträge Reuters auf Unterbrechung der Sitzung, um seine Verteidigung neu zu organisieren, wurden abgelehnt. Aus Protest gegen die absurde Verhandlungsführung blieb er während der Urteilsverkündung sitzen, worauf der Richter wegen ungebührlichen Verhaltens eine Ordnungsstrafe von 100 Euro verhängte (Anm. d. Red.: siehe dazu den Beitrag "... wenn's der Wahrheitsfindung dient" in Forum Pazifismus 19, Seite 33ff). Das Urteil wegen Dienstflucht lautete auf 2 Monate Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung.

Nach einem für juristische Laien schwer nachzuvollziehende Berufungs- und Revisionsgerangel wurde Andreas Reuter vom Landgericht Görlitz im September 2008 zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen verurteilt.


"Von der Pflicht zum Frieden und der Freiheit zum Ungehorsam"

Mit diesem Satz hat das Komitee für Grundrechte und Demokratie ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom Juni 2005 kommentiert. Ein bemerkenswertes Urteil, weil es bei ernsthaften Gewissensbedenken von Soldaten gegen bestimmte Befehle die Berufung auf Artikel 4 Abs. 1 GG zulässt. Dem Soldaten müsse in einem solchen Fall eine "gewissenschonende, diskriminierungsfreie Handlungsalternative" angeboten werden (vgl. Grundrechte Report 2006, S. 68 f.; Anm. Red.: Das Urteil wurde auszugsweise veröffentlicht in Forum Pazifismus 07, Seite 9ff). Für Totalverweigerer kann es aber innerhalb der Bundeswehr keine gewissenschonende Alternative geben.

Menschen, die eine grundsätzliche Gewissensentscheidung gegen die Kriegsdienstpflicht getroffen haben, werden mit disziplinarischen und strafrechtlichen Mitteln verfolgt. Dabei wendet die Bundeswehr Methoden an, die jeder Rechtsstaatlichkeit spotten. Der freiheitsentziehende "Disziplinararrest" ist keine erzieherische, sondern einen strafende Maßnahme, die darauf abzielt, die Geisteshaltung des Totalverweigerers zu brechen. Dass der Bundeswehr dieses Recht eingeräumt wird, entspricht nicht dem Geist des Artikel 1 Abs. 1 GG, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist.

Solange es eine Kriegsdienstpflicht gibt, solange wird der Staat zum Täter gegenüber Menschen, die aus Gewissensgründen keinen unmittelbaren oder mittelbaren Dienst am Krieg leisten können.

In Art. 38 Abs. 1 GG steht, dass Abgeordnete des Deutschen Bundestages "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind. Es liegt an ihnen, die Gewissensfreiheit nicht nur bei ihren eigenen parlamentarischen Entscheidungen über Krieg und Frieden in Anspruch zu nehmen, sondern auch denen zukommen zu lassen, die kriegsdienstpflichtig sind. Eine einfache parlamentarische Mehrheit genügt, um die Wehrpflicht zumindest auszusetzen.

Dem Totalverweigerer Jan-Patrick Ehlert wird von der Bundeswehr nahegelegt, einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung zu stellen. Für ihn ist aber auch der Zivildienst keine Alternative - das bedeute nichts anderes, als die Maschine am Laufen zu halten.

Ehlert hat weiterhin alle Befehle konsequent verweigert. Es folgten ein zweiter und ein dritter Arrest von 14 und 21 Tagen. Die Begründung lautet u.a., dass "die militärische Ordnung gefährdet" sei. Erst Mitte November wird er nach insgesamt 42 Tagen Militärhaft aus der Bundeswehr entlassen. Jetzt läuft das zivile Strafverfahren.


Ralf Siemens, Diplom-Politologe und tätig an der Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung, ist Mitglied im Vorstand der Zentralstelle KDV. Dr. Werner Glenewinkel, Jurist und Mediator, ist Dozent an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Vorsitzender der Zentralstelle KDV.


Literatur:

Detlev Beutner, Militärjustiz und Wehrdisziplinarordnung der Bundeswehr, in: Arbeitsstelle Frieden und Abrüstung (Hrsg.), Am Hindukusch und anderswo. Die Bundeswehr: von der Wiederbewaffnung in den Krieg, PapyRossa verlag, Köln 2005.

Otto-Ernst Kempen in: Reihe Alternativkommentare. Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Luchterhand 1989. Bd. 1 Art. 4 III

Komitee für Grundrechte und Demokratie: von der Pflicht zum Frieden und der Freiheit zum Ungehorsam - Aus Anlass der Entscheidung des BverwG vom 21.6.2005. 1. Auflage 2006

Ralf Siemens, Wehrpflicht, die große Lotterie - Zahlen und Fakten zur Willkürpraxis, in: Forum Pazifismus 19 (111/2008), S. 16 ff.

Günter Werner, Die Entwicklung der Rechtssprechung in Strafverfahren gegen Totale Kriegsdienstverweigerer, in: Zentralstelle KDV (Hrsg.), Der Widerstreit zwischen Wehrpflicht und Gewissen, Dokumentation einer Fachtagung im November 1995, S. 13 ff.

http://tkdv-zittau.blogspot.com/ (Dokumentation des Strafverfahrens gegen Andreas Reuter)


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Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 20, IV/2008, S. 22 - 24
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2009