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BERICHT/189: Mahatma Gandhi - Die Überwindung westlicher Gewalt (Forum Pazifismus)


Forum Pazifismus Nr. 17 - I/2008
Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gewaltfreiheit

Mahatma Gandhi - Die Überwindung westlicher Gewalt
Gedenkveranstaltung zum 30. Todestag von Hartmut Gründler am 17. November 2007 in Tübingen

Von Ulrich Duchrow


16. November 1977 (Buß- und Bettag) verbrannte sich Gründler in Hamburg während des SPD-Parteitages aus Protest gegen die "fortgesetzte regierungsamtliche Falschinformation" in der Energiepolitik, besonders bezüglich der Endlagerung. Nicht etwa aus Verzweiflung, sondern um ein Zeichen zu setzen, wählte er den Tod durch Selbstverbrennung, wovon er Presseorgane sowie Politiker und auch den Kanzler vorab schriftlich informierte, unter Beifügung seines politischen Testamentes. So schrieb er - von sich selbst in der dritten Person sprechend - am 14. November 1977, zwei Tage vor seiner Selbstverbrennung, in einem doppelseitig bedruckten Din-A5-Flugblatt, betitelt "Bitte weiterreichen. Bitte verständigen Sie rasch einen Publizisten aus Presse, Funk, Fernsehen! Auch an Bundestagsabgeordnete!!! - Selbstverbrennung eines Lebensschützers - Appell gegen atomare Lüge" u.a. folgendes: "Gründler nennt seine Aktion eine Tat nicht der Verzweiflung, sondern des Widerstandes und der Entschlossenheit. Er will dem Sachzwang der Profitgier, des Dummenfangs, der Überrumpelung hier, der Trägheit und Feigheit dort einen Sachzwang des Gewissens entgegensetzen."

Aus dem Internet-Lexikon Wikipedia


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Erlauben Sie mir, angesichts des Gedenkens an den Todestag von Hartmut Gründler mit einigen Versen aus einem der Klagelieder des Propheten Jeremia zu beginnen. Dieser Prophet hatte der Elite des alten Volkes Israel, die lieber auf Lügenpropheten hörte, unbequeme Wahrheiten zu sagen. Auch sein Leben endete im Dunkel.

Verse aus Jeremia 20:

Du hast mich verführt, Gott,
und ich ließ mich verführen.
Du hast mich gepackt und überwältigt.
Jeden Tag werde ich zum Gespött,
alle verlachen mich.
Ach, sooft ich rede, muss ich rufen,
muss ich schreien: Gewalt und Misshandlung.
Ja, das Wort Gottes
wurde mir täglich zu Spott und Hohn.
Dachte ich aber:
Ich will nicht mehr an Gott denken
und nicht mehr im Namen Gottes reden,
dann brannte es in meinem Herzen wie Feuer,
es erfüllte mein Inneres ganz.
Ich versuchte, dies auszuhalten,
ich vermochte es aber nicht.
Ach, ich hörte das Gerede von Vielen:
Grauen ringsum! Verklagt ihn!
Wir wollen ihn verklagen!
Selbst alle Menschen,
die in Frieden mit mir verbunden sind,
warten gespannt auf meinen Sturz ...
Warum nur kam ich heraus
aus dem Mutterschoß?
Nur um dann Mühsal und Kummer zu sehen
und in Schmach meine Tage zu beenden.

Offenbar müssen die Menschen, die frühzeitig das Unheil sehen, das aus kollektiver Gewalt folgt, und die deshalb gewaltfrei schreien "Gewalt!" und ihr aktiv entgegentreten, eben diese Gewalt an ihrem eigenen Leben erleiden. Sie würden wie wir alle dieser Erfahrung gern ausweichen. Aber dann brennt es in ihnen wie Feuer. Sie können nicht anders. Aus der jüngeren Vergangenheit wissen wir das von Gandhi, Martin Luther King jr., Oscar Romero - um nur einige der Bekanntesten zu nennen.

Nun sind es aber nicht nur die herausragenden Personen, die zu diesem Handeln herausgefordert sind, sondern wir alle, wenn wir denn in einem durch und durch von Gewalt geprägtem System leben wie wir in Europa seit über 500 Jahren und, von da ausgehend, inzwischen auf dem ganzen Erdball. Denn die Zeichen des Unheils bis hin zur Zerstörung eben dieser Erde und der darauf lebenden Menschen sind unübersehbar. Darum ist es eine Überlebensfrage, von den prophetischen Menschen zu lernen, wie das Leben geschützt werden kann. Da Hartmut Gründler Schüler Gandhis war und dieser seinen Ansatz ausdrücklich als Gegenentwurf zum westlichen System verstand, versuche ich im Folgenden einiges zu entdecken, was uns weiterhelfen kann.


Gandhi - Staat, Religion und Gewalt

Ich orientiere mich an einem Buch von Dieter Conrad "Gandhi und der Begriff des Politischen: Staat, Religion und Gewalt." [1] Es erschien 2006, also in unserem Kontext des imperialistischen Kapitalismus.

Der globale kapitalistische Markt unterwirft alles Leben der Logik der Kapitalakkumulation für die Eigentümer von Kapital. Das US-Imperium mit seinen Untergliederungen und Verbündeten schützt diesen Mechanismus durch militärische, politische und ideologische Gewalt. Insbesondere das von ihm vertretene Christentum wird fundamentalistisch gewendet bis hin zur Durchführung von Kreuzzügen. Die Medien verkünden, dass dies alles der Demokratie und den Menschenrechten diene. Um diese durchzusetzen, entwerfen Ideologen des Pentagon den Krieg der Kulturen. Insbesondere der Islam ersetzt das frühere Feindbild des Kommunismus. Die spiegelbildliche Reaktion der Angegriffenen greift zum Gegenterror, ebenfalls fundamentalistisch begründet.

In dieser Situation Gandhis Theorie und Praxis der Ökonomie des "Genug für alle" und der gewaltfreien Politik der Wahrheit als interkulturelles Angebot an den Westen vorzustellen, eröffnet überraschende Hoffnungsperspektiven.

In einer historischen Einführung in Gandhis praktische Politik im Kontext des indischen Befreiungskampfes gegen die britische Kolonialmacht zeigt Conrad zunächst im Vergleich mit anderen Ansätzen, wie Gandhi die gegenseitige Durchdringung von Religion und Politik versteht (Kapitel 1).

Der Kernpunkt besteht darin, dass der Geist der Wahrheit zur Liebe gegenüber den Kleinsten der Kreaturen und darum in die Politik treibt: "To see the universal and all-pervading Spirit of Truth face to face one must be able to love the meanest of creation as oneself. And a man who aspires after that cannot afford to keep out of any field of life. That is why my devotion to Truth has drawn me into the field of politics; and I can say without the slightest hesitation, and yet in humility, that those who say that religion has nothing to do with politics do not know what religion means" (S. 29).

Es geht also nicht um die politische Durchsetzung der Interessen einer konkreten Religionsgemeinschaft - gerade dies bekämpft Gandhi gegen Tendenzen einiger hinduistischer und muslimischer Gruppen. Vielmehr arbeitet er für Versöhnung. Umgekehrt bekämpft er aber auch die Befriedungspolitik im eigenen Interesse, die für die Kolonialmacht charakteristisch ist. Denn es geht ihm um Selbstbestimmung seines Volkes in Würde und Selbstachtung. Interessant im Blick auf Gründler ist die Tatsache, dass auch Gandhi fundamental bei der Koppelung von Leben, Wahrheit und Politik einsetzt.

Gandhis Position wird verständlicher, wenn man einige Begriffe genauer bestimmt. Er hat einen doppelten Religionsbegriff. Er unterscheidet die konkreten Religionen von der dahinter liegenden eigentlichen Religion, der Bindung an die Wahrheit:

"Let me explain what I mean by religion. It is not the Hindu religion, which I certainly prize above all other religions, but the religion which transcends Hinduism, which changes one's very nature, which binds one indissolubly to the truth within and which ever purifies. It is the permanent element in human nature which counts no cost too great in order to find full expression and which leaves the soul utterly restless until it has found itself, known its Maker and appreciated the true correspondence between the Maker and itself" (S. 52).

Ein Beispiel dafür ist die Kuhverehrung im konkreten Hinduismus. Er interpretiert sie als Ausdruck des Schutzes der gesamten Schöpfung Gottes. Was wie ein abstruser religiöser Aberglauben aussieht, hat eine tiefe religiös-ökologische Bedeutung:

"The central fact of Hinduism however is cow-protection. Cow-protection to me is one of the most wonderful phenomena in human evolution. It takes the human being beyond its species. The cow to me means the entire sub-human world. Man through the cow is enjoined to realize his identity with all that lives ... The cow is a poem of pity. One reads pity in the gentle animal ... Protection of the cow means protection of the whole dumb creation of God ... The appeal of the lower order of creation is all the more forcible because it is speechless. Cow protection is the gift of Hinduism to the world." (S. 54).

Zusammenfassend sagt er: "There are many religions, but religion is only one" (S. 56). Und diese Religion durchdringt alle Lebensbereiche, denn: "Through religion we are able to know our duties as human beings. Through religion we can recognize our true relationship with other living beings", mit anderen Worten, Religion zielt auf "serving humanity" im Kontext der gesamten Schöpfung (S. 58). Diese gemeinsame Wahrheit drückt er in der Formel aus: "God is Truth/Gott ist Wahrheit" (60). Aber er dreht diese Formel auch um, damit auch die Atheisten eingeschlossen sind: "Wahrheit ist Gott": "Hence I have said that truth is God. This God is a Living Force. Our Life is of that Force" (61).

Diese Wahrheit ist aber niemals Besitz, den man in einem imperialen Verständnis von Mission anderen aufzwingen kann. Vielmehr muss die Wahrheit kommunikativ gefunden werden. Darum kann der Zugang zur Wahrheit nur durch Gewaltfreiheit (ahimsa) gekennzeichnet sein. Hieraus ergibt sich für Gandhi die politische Methode des gewaltlosen "Festhaltens" an der Wahrheit (Satyagraha), nur mit ihrer Hilfe kann die Wahrheit durchgesetzt werden. Da aber die Wahrheit als Ziel nie voll erreichbar ist, muss das Mittel, sie zu erreichen, das Ziel bereits in sich enthalten. Der Weg ist das Ziel. Niemals kann das Ziel jedes Mittel heiligen. Schon hier wird der zentrale Unterschied zum Westen deutlich. Denn in dessen Wissenschaft, Technik, Politik und Wirtschaft ist Vernunft und Handeln auf die instrumentelle Vernunft reduziert.

Auf diesem Hintergrund ergibt sich für Gandhi auch ein doppelter Begriff von Politik. Auf der einen Seite grenzt er sich ab gegen eine Reduktion auf den engeren Begriff von Politik im Sinn des Ringens um die Ausübung öffentlicher Macht. Ihm geht es stattdessen um die Überwindung der reinen Machtpolitik durch einen umfassenden Begriff von Politik, der "jegliche Aktivität für die Wohlfahrt der Menschen" einschließt ("any activity for the welfare of the people", 65). Diese Aktivität kann die Form von Widerstandsaktion annehmen oder die Form der Entwicklung und Durchsetzung eines konstruktiven Programms. Ihre gewaltfreie Durchsetzung gibt dem politischen Handeln den religiösen Charakter. Dabei geht es bei Gewaltfreiheit nicht um passives Hinnehmen, sondern um die "aktiv konfrontierende Gewaltlosigkeit"(69).

In Gegensatz zu diesem moralisch-religiösen Verständnis von Politik ist der okzidentale Begriff von Politik zu sehen (71 ff.). Dieser hat sich weitgehend hinentwickelt zur Bezeichnung eines Handlungsmodus. Einerseits wird er zunehmend benutzt im Blick auf die verschiedenen Handlungsbereiche (Kulturpolitik, Wirtschaftspolitik usw.), andererseits konzentriert er sich auf die Spezifika List und Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von Interessen - ein Phänomen, an dem auch Gründler beständig Anstoß nahm und an dem er sich bis zuletzt abarbeitete. Seit der Monopolisierung der rechtmäßig geordneten physischen Gewalt beim Staat am Beginn der Neuzeit steht der Begriff Gewalt bei der Bestimmung des Politischen im Mittelpunkt.

Insbesondere Max Weber spielt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Für ihn gibt es keine Klammer mehr zwischen evangelischem gewaltfreien Handeln und politischer Gewaltminimierung durch rechtlich begrenzte Gewalt, die noch bei Luther in Gottes Liebeshandeln gegeben war, sondern er konstatiert einen radikalen Gegensatz zwischen einer "akosmistischen Liebesethik" und dem Handeln der Politik, das er in den Satz fasst: "für die Politik ist das entscheidende Mittel: die Gewaltsamkeit" (76 ff.). Daraus folgert er den Gegensatz zwischen dem Heiligen und dem Politiker. Der eine handelt nach Gesinnungs- oder Brüderlichkeitsethik, der andere nach Verantwortungsethik, ja, der Politiker muss mit dämonischen Mächten paktieren.

Damit verbunden ist die Zweck-Mittel-Unterscheidung. Um ein gutes Ziel zu erreichen, sind die gewaltsamen Mittel gerechtfertigt. Weber steht in der Tradition von Hobbes, der den Menschen als atomistisches Individuum versteht, das unaufhörlich nach mehr Macht, Reichtum und Ansehen strebt und deshalb in einen Krieg aller gegen alle verstrickt ist, den nur der Souverän, der Staat in geregelte Bahnen lenken kann. Damit ist Weber inhaltlich der eigentliche Antipode von Gandhi.

Interessanterweise ist Max Weber der Kategoriengeber von Helmut Schmidt, auf den dessen Antipode Gründler auf tragische Weise fixiert war. Schmidt hat immer wieder die Webersche Formel verwendet: Er handele nach Verantwortungsethik, die Gesinnungsethik sei auf den privaten Bereich beschränkt und habe in der Politik nichts verloren.

Wenn Gründler annimmt, dies sei persönliche Schizophrenie, so ist es leider schlimmer: Helmut Schmidt spiegelt einfach die neulutherisch-liberale Position wider, z. B. die Friedrich Naumanns. Diese bürgerlich-schizophrene Grundhaltung ist nicht auf eine oder die andere Person beschränkt, sondern stellt eine kollektiv-kulturelle Konstante der liberalen Epoche des Westens dar.

Gandhi seinerseits ist von einer anderen christlichen Tradition, nämlich von Tolstoi beeinflusst, obwohl er sich auch charakteristisch von diesem unterscheidet. Zentral für beide ist die Erkenntnis der zutiefst gewaltsamen Natur des Staates (84 ff.). Daraus zieht Gandhi den zentralen Schluss, dass die Unterscheidung von Mittel und Zweck aufgehoben werden muss. Die Ziele selbst werden durch den Modus der Verwirklichung bestimmt. Ja, die Vorstellung eines endgültigen, zu erreichenden Zustands ist überhaupt aufzugeben - ein Gedanke, den der lateinamerikanische Philosoph, Theologe und Ökonom F. Hinkelammert in jüngster Zeit scharf herausgearbeitet hat.[2] Denn in der Vorstellung einer fortschreitenden Annäherung an die Perfektion liegt der Grund für den Totalitarismus des kapitalistischen Marktes ebenso wie des stalinistischen Planzentralismus. Gandhi drückt es so aus: "The last word is never spoken in politics" (85). Das hat ganz praktische Folgen für das politische Vorgehen. Satyagraha, die gewaltfreie Aktion, stellt sich auf die unvermeidliche Fortsetzung ein, "auf fortwährendes Hervorarbeiten des Richtigen, dessen Verlässlichkeit sich in Machtumwandlungen äußern soll" (Conrad, 86). Gandhi sagt: "A non-violent revolution is not a programme of 'seizure of power', but is a programme of transformation of relations hips, ending in a peaceful transfer of power".

Heute gibt es eine Befreiungsbewegung, die genau auf diese Weise arbeitet: die zapatistische in Mexiko mit Subcommandante Marcos. Sie hat mehrfach betont, dass es nicht um die Machtergreifung geht, was nur die Eliten austauschen würde, sondern um die Verwandlung des Charakters der Macht selbst - weg von autokratischer hin zu partizipatorischer Macht. Darum ist ihr Leitsatz: "Fragend gehen wir voran". Auf die Mittel kommt es endgültig an, nicht nur vorläufig. Damit kann es für Gandhi oder die Zapatisten die Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik nicht geben. Es wäre völlig verfehlt, Gandhi als Gesinnungsethiker zu qualifizieren. Ihm geht es um die Transformation der Politik selbst und damit um eine Überwindung der falschen Alternative in Begriff und Praxis.

Conrad setzt voraus, dass gewaltfreie Politik möglich ist, macht dies aber nicht ausdrücklich zum Gegenstand seiner Untersuchung, sondern betrachtet es als deren Horizont. "Gandhi erhob zeitlebens keinen anderen Anspruch als den, sich der als überzeugend antizipierten Antwort empirisch, durch das was er 'Experimente mit der Wahrheit' nannte, zu nähern" (91) - ein Begriff, der für Gründler eine zentrale Rolle spielte. D.h. die praktische Bewahrheitung des Richtigen suchte er in der gewaltfreien Aktion.


Wie sieht die westliche Sicht von Religion und Politik im einzelnen aus der Perspektive Gandhis aus?

Zur Beantwortung dieser Frage muss man die Spannung zwischen religiösem und politischen Handeln in der westlichen Tradition und in der Perspektive Gandhis untersuchen (vgl. Kap. 4, 114ff). Ausgangspunkt ist die Frage, ob wirklich die Trennung von Religion und Politik ohne Schaden aufgehoben werden kann. Sie war ja in Europa die Grundlage für den Frieden nach den Religionskriegen.

Ist umgekehrt Gandhis Verbindung von Religion und Politik nicht naiv und gefährlich? Kann Politik wirklich auf Gewalt verzichten? Hier ist noch einmal der Begriff der Verantwortung zu thematisieren. Max Weber sagt: "Du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst ... bist du für seine Überhandnahme verantwortlich" (116). Weber bestimmt die Verantwortung als Berücksichtigung der Folgen seines Handelns, nun aber genauer: Folgen nicht nur für sich selbst, sondern für andere.

Diese Formulierung knüpft an Luther an. Dieser hatte die Ansicht vertreten, dass ein Christenmensch, wenn es um persönliche Unrechtserfahrung geht, der Bergpredigt gemäß sein Recht nicht mit Gewalt erzwingen, wohl aber es "bekennen" soll. D.h. er soll öffentlich das Unrecht beim Namen nennen bei gleichzeitiger Bereitschaft, Unrecht zu leiden - eine Vorform von gewaltfreiem Widerstand. Nach Luther soll aber jemand im politischen Amt, wenn es um Unrecht an anderen geht, diesem Unrecht - notfalls mit Gewalt wehren.

Dieser frühen theologischen Fassung des Problems gegenüber lässt sich der eigentliche Differenzpunkt Gandhis zum westlichen Ansatz präziser bestimmen als nur in den Weberschen Kategorien von Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Gandhi knüpft nämlich über Tolstoi bewusst an die Bergpredigt an. Dabei geht er aber über Luther hinaus, denn die Wirkungsgeschichte von dessen Position zeigte, dass das aktive Element des Friedenshandelns nach der Bergpredigt verloren ging. Schon Luther selbst in den Bauernkriegsschriften zeigt einen Sündenfall an, der zwar historisch erklärt werden kann, der aber die Schwäche seines Ansatzes zeigt. Die Christperson geht über der Weltperson verloren. Und diese handelt, in Weberschen Kategorien gesprochen, nach den Eigengesetzlichkeiten der Politik, und diese ist durch Gewalt gekennzeichnet. Es ist unbestreitbar, dass die Eigengesetzlichkeit politischer Gewaltausübung die neuzeitliche Form des Politischen bestimmt.

Bei Luther verweist Conrad allerdings noch auf die Kernbestimmung des Politischen als "Dienst für andere", was die Betonung der Verhältnismäßigkeit und Billigkeit (aequitas) bei seiner Bestimmung staatlichen Handelns erklärt (130). Aber auch hier ist eine Schwäche zu konstatieren, insofern nämlich bald das Handeln für andere in ein Handeln anstelle anderer übergeht (121). Westliche Politik wird durch Repräsentation, nicht durch Partizipation bestimmt (131).

Auch hier ist an Gründlers Konflikt mit den politischen Akteuren zu erinnern. Er fordert mit Recht die Einbeziehung aller Bürgerinnen und Bürger in eine solch lebenswichtige Frage wie den Aufbau einer Atomindustrie. Die Politiker verschanzen sich in ihren repräsentativen Machtstrukturen und gehen höchstens zum Schein - wie Matthöfer - auf einen Bürgerdialog ein.

Zurück zu Gandhis Kritik an westlicher Gewaltpolitik im Sinn Webers (132 ff.). Er sieht in der physischen, verletzenden Gewalt den Abbruch jeglicher Kommunikation. Das gilt sogar für den zu schützenden Nächsten. Dieser wird nicht gefragt, ob er gewaltsam geschützt oder dem Evangelium entsprechend Unrecht leiden und so die Gewalt entlegitimieren will. Er wird ungefragt zum Objekt des gewaltsamen Schutzes gemacht. Für Gandhi hat dies eine ganz konkrete Bedeutung. Denn in Indien spielte sich die britische Kolonialmacht gerade als Schutzmacht auf. Umgekehrt schließt er für ein unabhängiges indisches Gemeinwesen weder Recht noch Gericht, noch selbst eine Art Polizei aus (135). Aber diese haben ihren Sinn in Gandhis Bestimmung der Politik als gegenseitigem Dienst, und zwar als uneigennützigem Dienst, "als Inbegriff aktiver Selbstentäußerung an die Welt" (136).

"Gandhis 'Neu'-Entdeckung in der Politik bestand im Genau-Nehmen dessen, was 'Handeln für andere' bedeutet, und damit der systematischen Exploration einer Möglichkeit zwischen strategischem Kollisionshandeln und 'untätiger' Kommunikation... Gandhis politische Botschaft ist nicht Gewaltlosigkeit, sondern gewaltlose Aktion; daher seine Bemühungen, alles Negative aus Begriff und Terminologie zu tilgen, die Ersetzung von non-resistance oder passive resistance durch Satyagraha...[3] Verzicht auf Gewalt heißt im Rahmen von Satyagraha, dass die Aktion in keinem Falle die Re-Aktion des anderen durch Zerstörung der Person oder Verhinderung ihrer Entschließung ausschalten darf. Und zwar gilt dies nach beiden Seiten: Das Eintreten für andere darf nicht zur Ausschaltung des Vertretenen, das Entgegentreten nicht zur Ausschaltung der gegnerischen Person getrieben werden. Weder darf dem einen die ungefragt gewährte Hilfe, Vertretung, Beschützung gegen seinen Willen aufgenötigt bleiben, noch darf dem andern die Entschließung zur Änderung seines Verhaltens abgeschnitten werden. Aber: die Anderen werden nicht gefragt, ob überhaupt etwas geschehen soll. Sie werden in eine Lage gebracht, in der sie sich entschließen müssen zu handeln, wenn sie ihren Willen zur Geltung bringen wollen. Sie geraten in Zugzwang" (137 ff.).

Es scheint mir genau dies die Stelle zu sein, an der Gründler von Gandhi abgewichen ist. Ich habe mich gefragt, ob nicht auch Gandhis Methode des unbegrenzten Hungerstreiks Gewalt gegen sich selbst ist. Auch der kann zum Tode führen.

Was ist genau der Unterschied zur Selbstverbrennung? Wahrscheinlich, dass dieser Tod dem Gegenüber keine Möglichkeit zum Subjektsein, zur Entscheidung, also zur "Änderung seines Verhaltens" mehr lässt. Darauf legte Gandhi den entscheidenden Wert. Beim Hungerstreik bis zum Tod tötet letzten Endes der Andere. Bei der Selbstverbrennung übt der Herausforderer Gewalt gegen sich selbst und bricht somit selbst jede Kommunikation ab. Aber auch die, die für den Widerstand gewonnen werden sollen, um die Bewegung zur Massenmobilisierung werden zu lassen, gibt es keine Möglichkeit, Subjekte zu werden und an diesem Handeln zu partizipieren.

Dies ist eine Feststellung, keine Verurteilung. Es bedeutet aber, dass Selbsttötung im Engagement für die Wahrheit kein Weg zur Weiterentwicklung von Gandhis Ansatz ist. Es bleibt eine persönliche Entscheidung, die wir respektieren, aber im Sinn Gandhis nicht als Handlungsform der Satyagraha empfehlen können.

Conrad nennt Luthers "Recht bekennen auf jedes Risiko hin" "einen Ansatz zu Satyagraha", was jener aber nicht wirklich als kommunikative politische Methode ausgearbeitet hat. Bei Gandhi hingegen wird Wahrheit "als Ziel einer in sozialer Interaktion unablässig zu erarbeitenden Annäherung als fragmentarisch im Experiment sich zu bewähren aufgefasst - eigentlich wohl aber als nicht ganz berechenbares substantielles Gegenüber, als der namenlose Mitspieler im politischen Kräftemessen. Aus Sätzen wie 'God is Truth' (I), 'truth comes not as truth but only as truth so-called' (II), 'Every human being has some truth in him' (III) ergeben sich die Rahmenbedingungen eines politischen Handelns, das sich nie als autorisiert betrachten kann, irgendeinen beteiligten anderen Menschen aus der Rolle des Mitspielers zu werfen und zum bloßen physischen Objekt zu machen. ... Der andere wird als mitwirkungsverpflichtet auf Wahrheit hin in Anspruch genommen, das Handeln für ihn ist als Handeln für Wahrheit dialogisch" (149 f.).

Diesen Gedanken hat Gründler in seiner grundlegenden Unterscheidung von Mensch 1 und Mensch 2, altem und neuem Adam aufgenommen. Diese schließt die Notwendigkeit der ständigen Selbstkritik ein, da der Kampf zwischen den beiden Tendenzen in uns allen am Werk ist.

Im übrigen ist noch auf die transkulturelle Relevanz der Fragestellung Gandhis hinzuweisen (152 ff). (Einerseits geht die Position Gandhis auf indische Wurzeln zurück, bei denen sich aber nie Gewaltlosigkeit als systematisches politisches Prinzip finden lässt (157). Auf der anderen Seite lassen sich auch westliche Wurzeln erkennen, nämlich vor allem bei Tolstoi (161 f.). Mit ihm teilt Gandhi die Gesellschaftskritik, die Propagierung des Dorfes gegen die Stadt, die Bedeutung des Dienens, die Universalität der Religion, die Hochschätzung der öffentlichen Meinung als des wahren Mediums gesellschaftlicher Veränderung alternativ zur Gewalt. Hinzu kommen Einflüsse aus dem Buddhismus und vor allem aus der Bergpredigt Jesu selbst. Der entscheidende Punkt ist aber nicht, welche Einzelheiten aus welcher Tradition genommen sind, sondern die spezifische Verarbeitung durch Gandhi in seinem konkreten Kontext.) Gandhi bekennt freimütig verschiedene religiöse Einflüsse, zielt aber im Kern auf eine gemeinsame Menschenkultur.

Zusammenfassend sagt Conrad: "Die Sache selbst, um die es im Zusammenhang der Gewaltlosigkeit geht, ... ist die Systematisierung der gewaltfreien Aktion als der religiös stimmigen Durchsetzungs- und Kampfesmethode der Politik. Neu daran ist im Verhältnis zu den einzelnen Ansätzen im indischen sozialen Leben nicht nur die Verallgemeinerung, sondern auch die Verbindung mit dem Prinzip politischer Verantwortung für den anderen und des nicht eigen-interessierten Eintretens für Gerechtigkeit. Sofern diese Elemente aus Tolstois Interpretation der Nächstenliebe abgeleitet erscheinen, fehlt bei Tolstoi jedoch das aktive Element sozialer Auseinandersetzung, der politische Kampf ... Die Sache Kampf ... war  ... Gandhi so wichtig, dass er mehrfach betont und programmatisch für Gewalt noch eher plädierte, wenn die Alternative Unterwerfung oder passives Geschehenlassen von Unrecht sein sollte" (S. 167 ff.).

Damit wird der westliche Staat gleichsam naturrechtlich in Frage gestellt. Naturrecht aber nicht als dogmatisches System, sondern als Prüfung verschiedener, interkultureller Begründungszusammenhänge im Blick auf die Frage, ob sie das Leben der Menschen gewährleisten (174).


Grundrechte und Grundpflichten nach Gandhi

Als das fundamentalste Grundrecht definiert Gandhi das Recht auf Leben, das Recht auf Subsistenz - aber dies verbunden mit der Erfüllung der gemeinwohlbezogenen Pflichten: "The very right to live accrues to us only when we do the duty of citizenship of the world" (185). An abstrakt formulierten Grundrechten hat er kein Interesse. Ihm geht es um die konkreten Rechte und Pflichten, die mit diesem Grundrecht auf Leben verbunden sind. Das wird an zwei überraschenden Forderungen des 11-Punkte-Programms der Unabhängigkeitserklärung des Nationalkongresses von 1930 deutlich:

- der Abschaffung der Salzsteuer und
- der Lizenzierung von Feuerwaffen zur Selbstverteidigung.

Letzteres ist besonders auffallend bei Gandhis Betonung der Gewaltfreiheit. Aber dabei geht es nicht nur um das Naturrecht auf Selbstverteidigung der Einzelnen, sondern um das Volksrecht auf Widerstand gegen Unterdrückung. Inder Situation Indiens war die Armee Instrument der Fremdbestimmung des Staates durch die ausländische Kolonialmacht. Was Gandhi mit dieser Forderung deshalb meinte, wird aus folgender Zusammenfassung Conrads deutlich:

"Stets aber hielt er fest, dass der Weg zur Gewaltlosigkeit über Selbstachtung und Furchtlosigkeit führt, über eine durchaus kriegerisch aufgefasste Tapferkeit, die notfalls im gewaltsamen Kampf zu erwerben und zu erhärten ist. Es geht dabei um die Sicherung des aktiven Charakters und des Wahrheitsbezuges in der gewaltlosen Methode: ihre Eignung als 'Waffe' im Konfliktaustrag kann sie nur haben, wenn sie nicht mit Passivität, Feigheit oder einer allgemeinen Defizit-Haltung zu verwechseln ist. 'My creed of non-violence is an extremely active force. It has no room for cowardice or even weakness. There is hope for a violent man to be some day non-violent, but there is none for a coward. I have therefore said more than once in these pages that if we do not know how to defend ourselves, our women and our places of worship by the force of suffering, i.e., non-violence, we must if we are men, be at least able to defend all these by fighting.' Im Rahmen des Selbstverteidigungsrechts wird das Recht auf Waffenbesitz deshalb gefordert, weil es das Recht auf Waffen- und Gewaltverzicht mitkonstituiert. 'He alone can practice ahimsa [non-violence], who knows how to kill, i.e. knows what himsa is ...'" (197 f.).

Die Salzsteuer ist genau der Punkt, an dem Gandhi später die offene Rebellion praktizierte (198 ff.). Er bezeichnete die Salzsteuer als "Crime against humanity". Denn hier geht es um das Lebensrecht der Armen für ihren eigenen Bedarf und für die Tierhaltung. Dagegen steht das Produktionsmonopol des Staates wie das Stehlen dieser Ressource, die Gandhi mit Luft und Wasser als Lebensgrundlage vergleicht und die nicht über den Staat mit einer indirekten Steuer belegt werden darf. Denn dann könnten sich nur Kaufkräftige diese grundlegenden Lebensmittel leisten. Hinter all dem steht der allgemeinere Gedanke der "eingeborenen Rechte des Menschen auf diejenigen Güter ..., die für die Erfüllung des menschlichen Daseins wesentlich sind" (202). D.h. es geht um die Sicherung menschenwürdiger Subsistenz. "Every human being has a right to live and, therefore, to find the wherewithal to feed himself and where necessary to clothe and house himself" (203). Es geht ihm nicht um rechtsformale Gleichheit, sondern um die Garantie lebensnotwendiger Grundbedingungen. Deshalb fordert er auch einen Mindestlohn für jede Arbeit.

Das ist für ihn die Kehrseite der anderen Grundaussage, dass jeder das Recht zu leben und zu essen hat, wenn er durch körperliche Arbeit (und später nimmt er die geistige Arbeit dazu) seinen Lebensunterhalt verdient (die Lehre von bread labour, die er mit Ruskin und Tolstoi gemeinsam hat). Bei diesem Grundrecht sowohl auf Subsistenz wie auf Selbstverteidigung geht es um die Selbstachtung wobei ihm nicht das eigene Leben das zentrale Anliegen ist. Denn mit den Waffen will er nicht kämpfen, sondern im Kampf will er eher sein Leben lassen, aber die Möglichkeit auf die Waffe zu verzichten, gibt die Unabhängigkeit und Selbstachtung. Freiheit definiert er so als Ablegen der Todesfurcht im Kampf.

Hier entsteht nun der zweite große Gegensatz zum Westen neben der Bestimmung des Staates durch Gewalt (204 ff). Denn für den Westen ist der Ausgangspunkt "Life, Liberty, Property". Gandhi weist den Zusammenhang von Eigentum und Gewalt nach. "Denn der Besitzinstinkt produziert - als Ausschließung anderer - Gewaltsamkeit. Oder geradezu: Besitz ist Verbrechen" (207). Es geht Gandhi nicht nur, wie in der westlichen Eigentumskritik eines Proudhon oder Rousseau, um die Verteilung des Eigentums. Es geht ihm vielmehr um eine andere Grundbestimmung des Menschseins (209). Im Westen geht es um den "Besitzindividualismus", wie Macpherson an Hobbes und Lockes nachgewiesen hat, die als erste die neuzeitlich-kapitalistische Wirklichkeit auf den Begriff brachten. Eigentum ist hier mit der menschlichen Freiheit notwendig gegebenes Fundamentalrecht (211).

Gandhi geht es dagegen um die Relationalität des Subjekts, des Individuum und darum um die Freiheit, auf Eigentum über das Lebensnotwendige hinaus zu verzichten. Denn Zugriff auf Eigentum über das Lebensnotwendige hinaus bedeutet zugleich Ausschließung anderer - und dies mit Gewaltsamkeit, die durch das Für-Sich-Haben-Wollen produziert wird. "Where there is possessiveness, there is violence", sagt er (217). Und das führt nun direkt zur Gewalttätigkeit des Staates. Denn sie ist der rechtsförmige Ausdruck dieses Ausbeutungs- und Beherrschungsinteresses. Eigentum über das Lebensnotwendige hinaus ist an sich schon "Hindernis für die geforderte gewaltlose (=liebende) Zuwendung zur Welt" (218). Das Kolonialsystem zeigt in gesteigertem Maß die korrupte Verbindung von "Eigentümergewalt und politischer Gewalttätigkeit".

Auch an dieser Stelle ist deutlich, wie Gründler seinem Meister nachgeeifert hat. Seine selbstgewählte Armut gibt ihm die Freiheit, sich ganz dem Kampf für Wahrheit und Lebensschutz hinzugeben.

Gandhi übernimmt einen guten Teil der Marxschen und sozialistischen Kritik, verwirft aber die Lösung des Problems durch zentralistischen Staatssozialismus. Denn dadurch wird die Staatsgewalt noch einmal gewalttätiger. Er will die Menschen selbst assoziativ zu den Subjekten der Lebenserhaltung machen. Dazu sollte die zentralisierte Industrieproduktion auf ein Minimum beschränkt und mit vollen Mitbestimmungsrechten der Arbeitenden organisiert werden. Auch die Zwangsgewalt des Staates soll auf einen minimalen Rest beschränkt werden, in Richtung auf das Ideal einer gewaltfreien Ordnung (221). Dazu entwickelt er die so genannte Treuhand-Theorie. Der Eigentümer soll sein Eigentum von sich aus sozialisieren.[4] Das Eigentum soll er nicht für sich, sondern für andere einsetzen und das heißt unter voller Mitbestimmung aller Betroffenen. Er soll wie alle anderen von einem, wie wir heute sagen, living wage leben, d.h. was er für ein Leben in Würde braucht.

"Non-possession is allied to non-stealing. A thing, not originally stolen, must nevertheless be classified as stolen property, if we possess it without needing it. Possession implies provision for the future. A seeker after Truth, a follower of the Law of Love cannot hold anything against tomorrow. God never stores for the morrow. He never creates more than what is strictly needed for the moment. If therefore, we repose faith in His providence, we should rest assured that He will give us everyday our daily bread, meaning everything that we require (225).

Die Treuhandordnung soll gleichzeitig zu einer allmählichen Abschaffung staatlicher Gewaltsanktionen führen, die nur nötig sind, solange die Kluft zwischen Arm und Reich wächst: "A non-violent system of government is clearly an impossibility so long as the wide gulf between the rich and the hungry millions persists" (230).

Es geht aber nicht um gewaltsame Wegnahme des jetzt egoistisch angesammelten Eigentums, sondern um den eigenen Verzicht (234 ff.). Deshalb ist die Bekämpfung des Diebstahls durch Eigentum wieder nur möglich durch gewaltfreie Methoden wie Streik und Verweigerung und dadurch über die Mobilisierung der öffentlichen Meinung.

Darum geht es schließlich zentral um die Gedankenfreiheit, Meinungsäußerungsfreiheit, Schreib- und Druckfreiheit und das Recht zur freien Assoziation als weiterer Kernbereich der Grundrechte. Darin ist die Religionsfreiheit eingeschlossen. Denn hier geht es um das Aussprechen der Wahrheit. Die öffentliche Meinung ist für Gandhi der eigentliche Gegenspieler zur wirtschaftlichen und staatlichen Gewalt.


Was heißt das alles heute in Erinnerung an den Kampf Hartmut Gründlers?

Es sollte deutlich geworden sein: Gandhi ist von äußerster Relevanz nicht nur für die grundsätzliche Kritik der gegenwärtig vom Westen bestimmten politisch-ökonomisch-ideologischen (Un)ordnung, sondern noch mehr für deren Überwindung. Denn heute sind Eigentum und die es schützende Staatsgewalt nicht nur auf Kolonialländer beschränkt, sondern globalisiert."[5] Und die öffentliche Meinung wird massiv manipuliert im Interesse des Kapitals. Das Kapitaleigentum unterwirft die Erde und die Menschheit der Logik der Kapitalakkumulation über das Lebensnotwendige hinaus für eine Minderheit. Ebenso hat sich die Staatsmacht zum Schutz dieser Eigentumsakkumulation globalisiert in Form des Imperiums. Es bindet die Gewalt nicht einmal mehr an das Recht."[6] Das betrifft aber nicht nur die USA, sondern die EU und vor allem auch Deutschland. Beide rüsten für Interventionstruppen zur Verteidigung wirtschaftlicher Interessen.

Die Frage der Atombewaffnung wie auch der industriellen Nutzung der Atomenergie, denen der Kampf Gründlers galt, spielt dabei eine Schlüsselrolle in der Gesamtproblematik. Verschiedene Aspekte greifen hier ineinander:

1. Seit dem Beginn der Neuzeit werden - im Kontext der frühkapitalistischen Entwicklung - Wissenschaft und Technik als Instrumente der Machterweiterung begriffen. Francis Bacon brachte dies auf den Begriff: "Wissen ist Macht". Entsprechend gewaltsam definierte er die Methode: Man muss die Natur auf die Folter spannen, um ihr ihre Geheimnisse abzupressen. Descartes sah in der Natur entsprechend nur das Objekt, das der (männlichen) instrumentellen ratio unterworfen ist. Die Relationalität zwischen Mensch und Natur wurde ersetzt durch ein possessives Herrschaftsverhältnis. Der Mensch wird definiert als "Herr und Eigentümer der Natur". Die Atomtechnik ist die erste Klimax dieser Entwicklung (inzwischen ergänzt durch die Gentechnik). Damit steht sie für den gesamten unökologischen, gewalttätigen Ansatz der westlichen Zivilisation. Mit ihr kann das gesamte Leben auf diesem Erdball ausgelöscht werden. Hier lag Gründlers zentraler Ansatzpunkt, diese Sorge brannte in ihm. Und man fragt sich, wie es wohl um sein Ansehen in der Öffentlichkeit bestellt wäre, wenn nicht in Tschernobyl, sondern in Deutschland ein Atomkraftwerk explodiert wäre.

2. Franz Hinkelammert und ich haben in unserem Buch "Leben ist mehr als Kapital" ausgeführt, dass im Blick auf die Atomwaffen - und im Blick auf die industrielle Nutzung der Kernenergie angesichts des jederzeit möglichen GAUs - zum ersten Mal die Essenz des westlichen Systems - in seiner globalisierten Form - auf die Formel zu bringen ist: "Mord ist Selbstmord". Wer die Atomkraft entfesselt, begeht Mord, der entweder direkt wie im Atomkrieg oder indirekt durch atomare Verseuchung auf längere Sicht den Selbstmord einschließt. Das ist der nihilistische Charakter des modernen imperialistischen, unsozialen und naturzerstörenden Kapitalismus. Es ist nicht unwichtig zu sehen, dass der neuere Terrorismus mit seinen Selbstmordanschlägen genau diese Logik widerspiegelt. Er mordet mit implizitem Selbstmord. Todfeinde werden sich ähnlich. Diese Art von Terrorismus kann letztlich nur überwunden werden, indem die Logik des herrschenden Systems umfassend überwunden wird. Sonst wird dieses ständig weiteren Terrorismus produzieren. Es geht um einen Paradigmenwechsel weg von unserer Kultur des Todes hin zu einer Kultur des Lebens. Ihr wollte Gründler dienen.

3. Alle diese Wahrheiten werden von Wirtschaft, Politik und Medien verschleiert. Denn wenn die Konsequenzen deutlich würden, würde die Mehrheit der Menschen die Atomkraft nicht akzeptieren. Damit wird die Wirksamkeit der Strategie Gandhis stark eingeschränkt. Denn, wie gezeigt, ist ihre Stärke die Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Dieser Realität meinte Hartmut Gründler nur mit seinem Tod entgegentreten zu können. Aber auch Propheten, die diesen Weg nicht gehen, leiden an der sie schier zerreißenden Kluft zwischen ihrer Klarsicht und der Blindheit der Menschen. Sie sehen das Unheil voraus, das aus gegenwärtigen Handlungsweisen folgt. Und es ist zum Wahnsinnigwerden, wenn sie das Unheil kommen sehen, aber die Bevölkerung sich von falschen Propheten betören lässt - zumal sie in sich selbst von eben dieser Zivilisation geprägt sind, sie also die Versuchung kennen.

In diesem Zusammenhang spielt noch eine andere Dimension eine zentrale Rolle, nämlich die psychischen Wirkungen des kapitalistisch-imperialen Neoliberalismus.[7] Dieser spaltet die Menschen in Verlierer und Gewinner. Die Verlierer werden traumatisiert und lethargisch, die Gewinner sind süchtig nach mehr Gewinn und die Mittelklassen sind von Angst und illusionärem Bewusstsein geprägt. So ist es schwierig, die Basis der sozialen Bewegungen zu verbreitern, um im Sinn Gandhis eine Massenbewegung zu mobilisieren. Lässt sich ein Ausweg finden?

Die zentrale Frage wäre also: Wie können soziale Bewegungen nach innen und außen stärker werden? Die erste strategische Antwort ist Bündnisbildung: Die Organisationen der Verlierer und Verliererinnen und der Solidarischen im gesamten Feld der Gerechtigkeit, des Friedens und des Lebens der Schöpfung müssen Allianzen bilden. Denn es geht nicht nur um eine Einzelfrage, sondern um den gesamten herrschenden Systemansatz, der in den Tod führt. Alle einzelnen Initiativen des Widerstandes und der Alternativen sind zentral wichtig, aber sie werden zerrieben, wenn sie allein kämpfen. Ansätze zu dieser Bündnisbildung gibt es u.a. in den Sozialforen. Wie können sie gestärkt werden?

Hier ist einer der Ansatzpunkte Gandhis zentrale Frage nach der Religion. Auf der einen Seite missbrauchen die imperialen Kräfte die Religion als Fundamentalismus. Insbesondere in den USA und auch in Israel diskreditieren sie den jüdisch-christlichen Glauben in den Augen der Weltöffentlichkeit. Auf der anderen Seite hat die weltweite ökumenische Bewegung unter Führung des Ökumenischen Rates der Kirchen, des Reformierten Weltbundes und des Lutherischen Weltbundes erstaunlich intensive Prozesse zur Überwindung der kapitalistisch-imperialen Globalisierung in die Wege geleitet und erstaunlich klare Glaubensverpflichtungen erarbeitet. Nur beteiligen sich nur wenige offizielle Kirchen in Europa daran, die meisten hingegen zögernd oder gar nicht [8] - eine ähnliche Erfahrung wie die Gründlers. Wie kann hier die biblische Botschaft ihre Wirkungen entfalten, zumal angesichts der Tatsache, dass Jesus von Nazareth genau Gandhis Ansatz verfolgte und darum vom Römischen Imperium am Kreuz ermordet wurde, der Todesart für Aufständische und entlaufene Sklaven?

Aber gerade vom Martyrium sagt man zu recht, dass es die Saat der wahren Kirche sei. Die Märtyrer nähren die Hoffnung, dass nicht nur Selbstmordattentäter bereit sind, ihr Leben einzusetzen, sondern auch Betroffene und Solidarische. In Asien gibt es dafür viele Beispiele, z. B. sehr beeindruckend in den Philippinen. Werden auch Christinnen und Christen sowie Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften im Norden bereit werden zur Leidensnachfolge Jesu und zum Martyrium für Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden? Hier ist die Tradition der historischen Friedenskirchen wie Mennoniten, Brethren und Quaker wiederzuentdecken. Wenn die Glaubensgemeinschaften mit ihren spirituellen Kräften auch im Norden klar an die Seite der kämpfenden sozialen Bewegungen treten würden, könnten die Lügenpropheten überwunden werden.

Das Leben der Menschheit und der Erde steht auf dem Spiel. Die zentrale Frage bleibt: Wie können wir unter den heutigen Bedingungen gewaltfreien Kampf entwickeln zur Verteidigung des Lebensrechtes aller Menschen? Wie werden wir bereit, Konflikte mit dem eigenen Leben zu bezahlen? Es ist höchste Zeit, von Gandhi und Gründler zu lernen. Dann würden wir verstehen, dass aus stellvertretendem Leiden Heilung und Befreiung erwächst - wie es über einen anderen Propheten nach dem Zeugnis von Jesaja 53 gesagt wird:

Verachtet und von Menschen gemieden,
voller Schmerzen, vertraut mit Krankheit,
wie ein Mensch,
vor dem man das Gesicht verhüllt,
so verschmäht war sie, diese Gestalt
- wir achteten ihrer nicht.
Doch in Wahrheit trug sie unsere Krankheiten,
lud sich unsere Schmerzen auf
Aber wir hielten siefür geschlagen,
von Gott getroffen und erniedrigt.
Doch sie war durchbohrt
um unserer Verbrechen willen,
erschlagen wegen unseres Versagens.
Bestrafung lag auf ihr - uns zum Frieden ...
Denn sie wurde abgeschnitten
vom Land der Lebenden,
von der Schuld meines Volkes geschlagen.
Sie fand ein Grab bei denen,
die Verbrechen begehen,
und ein Grabmal bei den Ruchlosen,
obwohl sie kein Unrecht begangen hatte,
und kein Trug in ihrem Mund war. ...

Wer so gerecht ist in meinem Dienst,
wird die Vielen gerecht machen
und ihre Verschuldungen tragen.
Darum will ich dieser Person die Vielen zuteilen
Und die Zahlreichen als Beute geben,
weil sie ihr Leben in den Tod gegeben hat
und sich zu denen zählen ließ,
die Verbrechen begehen.
Doch sie trug die Verfehlung der Vielen
und trat für die ein, die Verbrechen begehen.

Ich hoffe, dass wir zu den immer zahlreicher Werdenden gehören oder bald zu ihnen stoßen, die denen, die für das Leben ihr Leben hingeben, nachfolgen und so die Verbrechen des gegenwärtigen Systems überwinden helfen.


Dr. Ulrich Duchrow ist Professor für systematische Theologie an der Universität Heidelberg. Den hier veröffentlichten Text hat er als Vortrag bei Gedenkveranstaltung "Selbstopfer eines Gewaltfreien verschwiegen im Schatten des 'Deutschen Herbstes' am 17. November 2007 in Tübingen gehalten.


Anmerkungen

[1] Hrsg. von Barbara Conrad-Lütt, mit einer Einführung von Jan Assmann, Wilhelm Fink Verlag, München, 2006

[2] Hinkelammert, Franz J., 1994, Kritik der utopischen Vernunft. Eine Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen der modernen Gesellschaftstheorie, Exodus/Grünewald, Luzern/Mainz

[3] Satyagraha von skr. Satya - Wahrheit (das Seiende) und agraha - Festhalten, Festigkeit in, "wörtlich Festhalten an der Wahrheit, Festigkeit in der Wahrheit. 'Its root meaning is holding on to truth' (Gandhi vor der Hunter-Commission am 5.1.1920, CW 16:368)"

[4] Dass dies möglich ist, zeigt die Firma Hoppmann, vgl. Belitz, Wolfgang (Hrsg.), 1998, "Vorwärts und nicht vergessen..." Das Reformunternehmen Hoppmann 1961-1997, Ursel Busch Verlag, Hille

[5] Vgl. Duchrow, Ulrich/Hinkelammert, Franz, (2002) 2005, 2. Aufl., Leben ist mehr als Kapital. Alternativen zur globalen Diktatur des Eigentum", Publik-Forum, Oberursel

[6] Vgl. Reformierter Weltbund, 2006, Eine ökumenische Glaubensverpflichtung gegen das globale Imperium - Für eine befreite Erdengemeinschaft, in: Wie geht es weiter nach den ökumenischen Vollversammlungen?, Kairos Europa, Heidelberg

[7] Vgl. Duchrow, Ulrich/Bianchi, Reinhold/Krüger, René/Petracca, Vincenzo, 2006, Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus - Wege zu ihrer Überwindung, VSA in Kooperation mit Publik-Forum, Hamburg/Oberursel.

[8] Vgl. ebd.


*


Quelle:
Forum Pazifismus - Zeitschrift für Theorie und Praxis
der Gewaltfreiheit Nr. 17, I/2008, S. 15 - 23
Herausgeber: Internationaler Versöhnungsbund - deutscher Zweig,
DFG-VK (Deutsche Friedensgesellschaft - Vereinigte
KriegsdienstgegnerInnen) mit der Bertha-von-Suttner-Stiftung der
DFG-VK, Bund für Soziale Verteidigung (BSV) und Werkstatt für
Pazifismus, Friedenspädagogik und Völkerverständigung PAX AN
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. April 2008