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LATEINAMERIKA/078: Guaraní-Kaiowá in Brasilien - Leben am Rande der Existenz (FoodFirst)


FoodFirst Ausgabe 1/2016
FIAN Deutschland - Mitgliedermagazin. Für das Menschenrecht auf Nahrung

Leben am Rande der Existenz


Regine Kretschmer im Gespräch mit Cleber Buzzato (GeneraLsekretär der Katholischen Pastorale für indigene Völker in Brasilien, Conselho Indigenista Missionário, CIMI) über die Situation der Guaraní-Kaiowá.


Regine Kretschmer: Cleber, könntest Du mir die aktuelle Situation der Guaraní-Kaiowá schildern?

Cleber Buzzato: Die Guaraní-Kaiowá befinden sich in einer äußerst heiklen Situation. Sie leben am Rande der Existenz, eine Folge der Vertreibung und der Zwangsumsiedlung in Indianerreservate, wo eine große Anzahl von Menschen auf extrem reduziertem Raum leben; Gruppen, die jahrelang in improvisierten Camps am Straßenrand leben und jedem Wetter ausgesetzt sind, Kälte im Winter und Hitze im Sommer. Sie werden auch zur Zielscheibe von Gewalt, die Gründe dafür sind die Folgen der Vertreibung und Überfüllung der Reservate und vor allem ihr Kampf um Land. Hier handelt es sich um die Wiedereroberung eines, wenn auch kleinen, Teils ihrer ehemaligen Territorien.

Die Fazendeiros (Großgrundbesitzer) und die von ihnen angeheuerten Privatmilizen begehen häufig brutale Aktionen. Diese haben in letzter Zeit, vor allem aber seit drei Monaten, deutlich zugenommen und zwar seit dem 29. August 2015, als das Kaiowá-Dorf Ñande Ru Marangatu überfallen wurde. Dutzende von Menschen trugen Schussverletzungen davon, sogar ein Baby wurde getroffen, und der 24 jährige Semião starb. Es gibt Anzeichen von Folter und kollektiver Vergewaltigung.

Die Fazendeiros haben eine neue Taktik entworfen: das gewaltsame Vorgehen bewaffneter Paramilitärs und direkte Attacken. Seither wurden mindestens 15 solcher Überfälle auf Dörfer der Kaiowá verübt. Alle fanden im Süden der Provinz Mato Grosso do Sul statt. Gleichzeitig kommt die Absicherung von indigenem Land nicht voran, die Regierung hat alle Demarkationsprozesse zum Erliegen gebracht. Die Situation ist sehr, sehr schwierig und dramatisch.


Regine Kretschmer: Was ist der Hintergrund dieses Konfliktes?

Cleber Buzzato: CB: Der Hintergrund dieser Konflikte sind Landkonflikte und Landnutzungskonflikte. Die Guaraní wurden während des 20. Jahrhunderts im Rahmen der wirtschaftlichen Erschließung von ihrem Land vertrieben und heute kämpfen sie um die Wiedereroberung von Teilen dieses verlorenen Landes über retomadas (Landbesetzungen) und ihre Würde. Damit begannen sie in den l980er Jahren und haben diese seit den 1990er Jahren intensiviert. Jedes Jahr gibt es Landbesetzungen und die Reaktion der Fazenderos wird im Laufe der Jahre immer gewalttätiger - mit Morden und Überfällen auf ihre Dörfer.

Und es ist abzusehen, dass sie mit den Landbesetzungen weitermachen werden. Das ist eine Entscheidung, die vielleicht aufgrund des Kräfteverhältnisses schwierig nachzuvollziehen ist; es sind kleine Verwandtschaftsgruppen, die das Land besetzen. Und trotzdem sind sie entschlossen, diese weiterzuführen. Die Religiosität ist eine kulturell präsente Kraft, die den Guaraní in ihren Entscheidungen Kraft verleiht.


Regine Kretschmer: Wie kann die internationale Solidarität, und vor allem die deutsche, zum Kampf um die Rechte der Guaraní-Kaiowá beitragen?

Cleber Buzzato: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Briefe an den Präsidenten der Republik oder auch an die Justiz zu schreiben. Dies sind wichtige Initiativen, die eine politische Wirkung auf die brasilianischen AmtsträgerInnen haben. Die europäischen Länder haben aber auch bilaterale Abkommen mit Brasilien und hier ist es wichtig, die Situation der Guaraní-Kaiowá in den verschiedensten Sitzungen und Verhandlungen zu thematisieren. Wir müssen zusehen, dass die Situation der Guaraní-Kaiowá zu einem Kriterium bei Investitionen im Agrobusiness wird. Es gibt viel europäisches Kapital im Agrarbereich, das zur Expansion des Agrobusiness beiträgt, wie zum Beispiel im Falle des Zuckerrohranbaus und der Weiterverarbeitung zu Ethanol. Und dies hat direkte Folgen für die Guaraní.

Es ist also wichtig, Bevölkerung und Politik zu sensibilisieren und die brasilianischen und deutschen Autoritäten, sowie auch den Unternehmer in Verantwortung zu nehmen, so dass die Regierung sich dazu genötigt sieht, eine strukturelle Antwort auf diese ProbLeme zu geben.


Regine Kretschmer: Cleber, vielen Dank für das Gespräch.

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Quelle:
FoodFirst - FIAN Deutschland - Mitgliedermagazin für
das Menschenrecht auf Nahrung, Ausgabe 1/2016, Seite 9
Herausgeber: FIAN Deutschland e.V., Briedeler Straße 13, 50969 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2016

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