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LATEINAMERIKA/066: Folgen des Klimawandels für die indigene Bevölkerung in den Anden (FoodFirst)


FoodFirst Nr. 3/2010
FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte

Klimagerechtigkeit
Die Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschenrechte der indigenen Bevölkerung in den Anden

Von Roxana Castellón/Dorothee Häußermann


Die Folgen des Klimawandels sind für die indigene Bevölkerung in den bolivianischen Anden immer deutlicher zu spüren. Das Abschmelzen der Gletscher, von denen viele indigene Gemeinden in Bezug auf Trinkwasser, Hygiene und Landwirtschaft abhängig sind, verschlechtert die unmittelbaren Lebensverhältnisse der Menschen.


Seit den fünfziger Jahren ist die Temperatur in den Anden um durchschnittlich 0,15 Grad Celsius pro Jahrzehnt gestiegen. Dieser Temperaturanstieg verursacht unumkehrbare Schäden an der andinen Natur. Nach Angaben des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) ist es "sehr wahrscheinlich", dass die Andengletscher in den nächsten Jahrzehnten vollständig abschmelzen werden. Ein Beispiel dafür ist das Schmelzen des Chacaltaya-Gletschers. Vor zehn Jahren prognostizierten Forscher der Universität La Paz, dass der Gletscher bis 2015 existieren würde. Im März 2009 mussten die Wissenschaftler jedoch feststellen, dass er gänzlich abgeschmolzen war - sechs Jahre früher als erwartet. Das Schmelzen dieses Gletschers ist ein Vorbote für eine Entwicklung, die sich auf die ganze Kordillerenkette ausdehnen könnte.

Die Konsequenzen des Klimawandels stehen für die bolivianische Bevölkerung in keinem Verhältnis zum Beitrag des Landes zur Erderwärmung. Die Treibhausgasemissionen Boliviens beliefen sich auf 0,34 Prozent der globalen Emissionen im Jahr 2000. Doch im Jahr 2007 war Bolivien unter den sechs Ländern der Welt, die am meisten von extremen Wettereignissen betroffen waren. Das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung macht die Andenbevölkerung besonders verwundbar, da ihre Ausgangsbedingungen schlechter sind und sie weniger finanzielle Ressourcen hat, um sich an den Klimawandel anzupassen.


Auswirkungen des Klimawandels

Die jährliche Schmelze der bolivianischen Gletscher erhält die bofedales (Hochlandmoore) und speist die Flüsse, die die örtliche Bevölkerung mit Trinkwasser versorgen. Die Gletscher spielen eine zentrale Rolle in der Regulierung des Wasserhaushaltes. Sie speichern Wasser in Zeiten hoher Niederschläge und geben während der Trockenzeit allmählich Wasser ab. Auf diese Weise mildern sie die Folgen von Dürreperioden und Unwettern. Langfristig wird der Rückgang der Gletschermasse die Verfügbarkeit von Wasser während der Trockenzeiten verringern, während gleichzeitig die Temperaturen in dieser Jahreszeit als Folge des Klimawandels steigen werden. Laut IPCC ist das beschleunigte Schmelzen der tropischen Gletscher für Bolivien kritisch, da hier die Verfügbarkeit von Wasser ohnehin problematisch ist.


Gefährdung der Existenzmittel

Die Beziehung zwischen der Khapi-Gemeinde und dem Illimani-Gletscher ist in vielen Hinsichten beispielhaft für die Situation der bolivianischen Andenbevölkerung. Khapi ist die Heimat von etwa 190 Menschen, van denen 90 Prozent dem Volk der Aymara angehören. Die Überlebensgrundlage der Menschen von Khapi ist die Subsistenzwirtschaft. Sie bauen eine Vielfalt von Feldfrüchten an und betreiben Viehzucht. Die Khapi halten Tiere wie Lamas, Alpacas und Schafe nicht nur wegen des Fleisches, sondern auch wegen ihrer Arbeitskraft und wegen der Wolle, aus der sie Kleider machen.

Seit der Zeit ihrer Vorfahren verwendet die örtliche Bevölkerung das Wasser, das vom Illimani-Gletscher herabfließt, um die Felder zu bewässern und die Tiere zu tränken. Die Mehrheit der Familien hat neben dem, was sie anbauen, keine zusätzliche Einnahmequelle. Der Verlust der Wasserquellen, die verlängerten Trockenzeiten und die Zunahme von Extremwetterereignissen beeinträchtigt den Anbau ihrer Feldfrüchte und gefährdet ihre Ernten. Folglich ist die Ernährungssicherheit der Gemeinde bedroht.


Der Wassermangel birgt Gesundheitsrisiken

Die Einwohner von Khapi verwenden das Wasser der Flüsse und bofedales auch für ihre persönliche Hygiene, für die Nahrungsmittelzubereitung, zum Kleiderwaschen und zum Reinigen ihrer Häuser. Der Wassermangel wird die hygienische Zubereitung von Nahrungsmitteln erschweren. Daher besteht die Gefahr, dass Durchfallerkrankungen inklusive Cholera zunehmen werden. Weil die reduzierte Wassermenge die Hygiene beeinträchtigt, wird damit gerechnet, dass auch die Anzahl der Hauterkrankungen steigt.


Die Bedeutung der Gletscher für die indigene Kultur

Das bolivianische Hochland versorgt die Aymara nicht nur mit materiellen Gütern. Das Land ihrer Ahnen ist auch die Grundlage für ihren Glauben und ihre spirituelle Identität. Seit Jahrhunderten tradieren sie ihr Wissen darüber, wie man Weiler und Naturphänomene auf Grundlage von Astrologie und Beobachtung von Fauna und Flora vorhersagt. Ihre traditionellen Festtage und religiösen Praktiken hängen eng mit dem Sonnenkalender und dem Kreislauf von Säen und Ernten zusammen. Das Verschwinden des Illimani-Gletschers, dem die Menschen Opfergaben bringen, die Verschiebung der Jahreszeiten sowie der Verlust der örtlichen Artenvielfalt gefährden die Möglichkeit der Einwohner von Khapi, ihre religiöse und kulturelle Tradition aufrechtzuerhalten.


Verpflichtungen der Staaten

Die Schmelze der Andengletscher führt zu einer Verletzung international anerkannter Menschenrechte, darunter das Recht auf Wasser und auf Nahrung (IPWSKR Art. 11), das Recht auf Selbstbestimmung und das Recht eines Volkes, nicht seiner Existenzmittel beraubt zu werden. (IPWSKR und IPBPR Art. 1). Die Gletscherschmelze ist eine Folge der aktuellen und historischen Treibhausgasemissionen, die ihren Ursprung hauptsächlich in den Industrienationen haben. Wie können die großen Verschmutzerstaaten von Individuen und Gruppen außerhalb ihres Territoriums für die Folgen des Klimawandels verantwortlich gemacht werden?

In Anbetracht der Tatsache, dass der Klimawandel durch menschliche Aktivitäten verursacht ist und schwerwiegende Folgen für die Wahrnehmung von Menschenrechten hat, lassen sich aus den internationalen Menschenrechten nicht nur nationale sondern auch extraterritoriale Verpflichtungen der Staaten ableiten, beispielsweise umgehend Maßnahmen zur Reduktion von Treibhausgasen zu ergreifen. Unterzeichnerstaaten des Sozialpaktes haben die Pflicht, die entsprechenden Rechte zu schützen - nicht nur in ihrem eigenen Land, sondern auch durch internationale Kooperation (Art. 2.1. und Allgemeiner Kommentar 3).

Die Forderungen des Menschenrechtssystems stimmen mit der Internationalen Klimarahmenkonvention (UNFCCC) überein. So betont Artikel 3 des UNFCCC, dass Staaten "gemeinsame aber unterschiedliche Verantwortlichkeiten" haben. Folglich müssen Industrieländer in der Bekämpfung des Klimawandels voranschreiten. Außerdem müssen Länder des globalen Nordens finanzielle und technologische Ressourcen zur Verfügung stellen, um gefährdeten Ländern des Südens bei Vermeidungs- und Anpassungsmaßnahmen zu helfen (UNFCCC Art. 4).

In den letzten Jahren haben sich betroffene Gruppen an Menschenrechtsinstitutionen gewandt, um die Verschmutzerstaaten für den Schaden, den sie verursachen, zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Gruppen - meist marginalisierte Völker - halten Schwierigkeiten, den Kausalzusammenhang zwischen Treibhausgasemissionen und Menschenrechtsverletzungen, die unter anderem in Form von Naturkatastrophen geschehen, zu beweisen. Während die kausale Argumentation tatsächlich Probleme birgt, stellt die im Sozialpakt gebotene Pflicht zur internationalen Kooperation ein eindeutiges Kriterium dar. Eine Menschenrechtsverletzung kann hiernach festgestellt werden, wenn ein Staat oder die internationale Gemeinschaft keinen Gebrauch von ihren verfügbaren Mitteln gemacht hat, um den Klimawandel zu vermeiden, so dass dies zu einer Situation führt, in welcher Menschen ihre Rechte nicht Länger wahrnehmen können. Zum Vergleich: Die Summen, die während der jüngsten Finanzkrise mobilisiert wurden, zeigen wie schnell Staaten finanzielle Mittel bereitstellen können, wenn der nötige politische Wille vorhanden ist.

Es ist an der Zeit, dass die bestehenden Rechte eingefordert werden. Und es ist an der Zeit, dass die Opfer des Klimawandels eine Entschädigung erhalten und ihre Stimmen gehört werden.


Roxana Castellón ist Anwältin und arbeitet für Agua Sustentable, eine Organisation, die sich für nachhaltiges Wassermanagement und Menschenrechte einsetzt.
Dorothee Häußermann ist Mitglied im Arbeitskreis Klima.


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Quelle:
FoodFirst - FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte, Nr. 3/2010, November 2010, S. 7-8
Herausgeber: FIAN-Deutschland e.V., Briedeler Straße 13, 50969 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2011