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BERICHT/245: Recht auf Nahrung in Deutschland zunehmend in Gefahr (FoodFirst)


FoodFirst Nr. 3/2011
FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte

Schlaraffenland ist abgebrannt

Recht auf Nahrung in Deutschland zunehmend in Gefahr

von Ingo Stamm


"Zwischen Welternährungskrise und Suppenküchen" - das war vor einigen Jahren die Überschrift einer großen Konferenz in Berlin. Sie sollte die Zusammenhänge zwischen der Essensausgabe in Berlin-Neukölln und der prekären Situation von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen in Ländern des Südens illustrieren. Armut und fehlende Ernährungssicherheit existieren nicht nur in weiter Ferne, auch in Deutschland hat sich die Lage verschärft! Folgerichtig hat FIAN Deutschland vor einigen Jahren seinen kritischen Blick auch auf das eigene Land gelenkt. Der Arbeitskreis "Recht auf Nahrung in Deutschland" hat dabei drei besonders betroffene Gruppen identifiziert: Flüchtlinge, Menschen in Pflegeheimen und Kinder, die von Sozialleistungen abhängig sind.


Doch was bedeutet das Recht auf Nahrung in Deutschland überhaupt? Ist es wirklich angemessen bei dem "Elend der Welt" relative Armut in Deutschland unter dem Label Menschenrechtsverletzung einzuordnen? Kommt es damit nicht zu einer Entwertung der Menschenrechte? Richtig ist, dass nicht jede Form von Armut automatisch als Menschenrechtsverletzung zu skandalisieren ist. Gleichwohl kann die zunehmende Armut in Deutschland als "ein Indikator für mögliche menschenrechtliche Defizite" und als "Risikohintergrund" für die Verletzung von Menschenrechten fungieren, wie Heiner Bielefeldt, ehemaliger Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte und jetziger UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, es formulierte(1). Der UN-Sozialausschuss hat unmissverständlich festgelegt, dass das Recht auf Nahrung nicht erst gefährdet oder verletzt ist, wenn Menschen hungern. Die Realisierung des Rechts bedeutet vielmehr einen diskriminierungsfreien, selbstbestimmten Zugang zu angemessener Ernährung in nachhaltiger Weise, ohne Beeinträchtigung anderer Menschenrechte, für alle Menschen zu gewährleisten. Davon ist Deutschland derzeit weit entfernt.


Besorgniserregende Zustände in Pflegeheimen

Anzeichen für die Gefährdung des Rechts auf Nahrung in Deutschland liegen schon länger vor und scheinen sich in den letzten Jahren zu häufen. Bereits 2001 zeigte sich der UN-Sozialausschuss in Genf angesichts der Prüfung des vierten Staatenberichts Deutschlands über die Einhaltung der Rechte des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) tief besorgt über die Zustände in deutschen Pflegeheimen. Anlass für diese Rüge waren gravierende Probleme im Bereich der Nahrungs- und Flüssigkeitsversorgung von Patienten in Pflegeheimen. Trotz einer breiten Diskussion in Politik und Gesellschaft hat sich die Situation in den letzten Jahren nur geringfügig verbessert. Der zweite Bericht des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) aus dem Jahr 2007 belegt dies. In die Untersuchung flossen 4.217 Prüfungen in stationären Pflegeeinrichtungen unter Einbeziehung von fast 25.000 BewohnerInnen ein. Die Auswertung ergab, dass in zirka einem Drittel der Einrichtungen Defizite bezüglich der ausreichenden Versorgung mit Nahrung und Flüssigkeit bestehen. Auch in diesem Jahr hat der Sozialausschuss in seinen Abschließenden Bemerkungen wieder deutliche Worte gefunden. Die Bundesregierung solle sofortige Maßnahmen ergreifen, um die Situation älterer Menschen in Pflegeheimen zu verbessern. Ein erster Versuch, menschenrechtlichen Vorgaben mehr Geltung zu verschaffen, war die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen (siehe www.pflege-charta.de). Ein wichtiger Ansatz, der jedoch vor allem hinsichtlich seiner Reichweite noch weiter ausgebaut werden muss.


"Infantilisierung" der Armut

Ein weiteres Indiz für die Verletzung des Rechts auf Nahrung in Deutschland lieferte 2007 eine Studie des Dortmunder Forschungsinstituts für Kinderernährung. Diese kam zu dem schwerwiegenden Urteil, dass die Regelsätze des SGB II den Ernährungsbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen nicht gerecht werden. Diese Erkenntnis war nicht neu, hatten doch bereits Wohlfahrtsverbände und Kinderrechtsorganisationen darauf aufmerksam gemacht, dass die Kinderregelsätze nicht nur völlig willkürlich festgelegt, sondern auch viel zu niedrig angesetzt worden waren. Zunehmend wurde von einer "Infantilisierung der Armut" gesprochen. Seitdem hat sich einiges bewegt: Die Bundesregierung hat eine dritte Altersklasse bei den Kinderregelsätzen eingeführt und nach einem deftigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts, basierend auf dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, eine eigene Berechnung der Leistungen für Kinder vorgenommen. Gleichwohl, geändert hat sich wenig. Die Sätze sind aufgrund geschickter Berechnungsmethoden nicht gestiegen und die Zahl der armen Kinder stagniert auf einem beschämend hohen Niveau. Kinder und Jugendliche bekommen nach wie vor gerade einmal zwischen 78,67 und 124,02 Euro pro Monat für Essen und Trinken (Stand: Oktober 2011). Wie zwei aktuelle Gutachten zur Neugestaltung des SGB II zeigen, wurde bei der Gruppe der 14- bis 18-jährigen im Bereich Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke von dem durchschnittlichen Verbrauch der unteren Einkommensgruppen - der Berechnungsgrundlage der Regelsätze - noch mal um zehn Prozent gekürzt. Beide Gutachten stellen fest: Viele Aspekte der Neuberechnung der Regelsätze sind verfassungswidrig(2). Verschlimmert wird das Gesamtbild durch die Sanktionsmöglichkeiten des SGB II, die bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen besonders scharf sind. Eine Rückkehr zum Warenkorbmodell könnte ein Teil einer menschenrechtsbasierten Armutsbekämpfung sein.


Kein Existenzminimum für Flüchtlinge

Die dritte, besonders betroffene Gruppe sind AsylbewerberInnen und Menschen, die in Deutsch Land mit einer Duldung leben müssen. In einigen Bundesländern werden diesen Menschen auf Basis des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) nach wie vor Lebensmittelpakete oder Gutscheine zur Verfügung gestellt. Eine eigenständige Lebensführung inklusive selbstbestimmter Ernährung ist für die Betroffenen nicht möglich. Zusammen mit dem "Taschengeld", das bar ausgezahlt wird, liegen die Regelsätze des AsylbLG) nach Altersstufe zwischen 28 und 47 Prozent unter den Regelsätzen des SGB II und XII. Ein deutlicher Verstoß gegen das Grundgesetz und gegen die Rechte des UN-Sozialpaktes!(3) Nach fast 20 Jahren AsylbLG prüft die Bundesregierung angesichts der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum derzeit eine verfassungskonforme "Anpassung" der Leistungen. Auf eine Nachfrage des UN-Sozialausschusses, der weitere Informationen zu den Sozialleistungen von Flüchtlingen verlangte, stellte die Bundesregierung weiter in Aussicht, dass eine Neuregelung noch 2011 vorgenommen wird. Voraussichtlich bleibt es bei der Ankündigung. Besser wäre ohnehin eine komplette Abschaffung des AsylbLG - eine Forderung, die von Pro Asyl und anderen Organisationen seit Jahren an die Bundesregierung gestellt wird. Mit der Erfahrung von 25 Jahren Menschenrechtsarbeit muss FIAN auch hierzulande auf eine menschenrechtsbasierte Politik quer durch alle Ressorts drängen und sich mit dem Fokus auf das Recht auf Nahrung in Debatten einbringen. Zum Beispiel wenn es darum geht, ein Armutsbekämpfungsprogramm auf Basis der sozialen Menschenrechte zu gestalten - eine der Forderungen des UN-Sozialausschusses an die Bundesregierung. Der Arbeitskreis "Recht auf Nahrung in Deutschland" hat damit bereits begonnen. Und wer weiß, vielleicht wird es irgendwann auch eine Briefkampagne in ungewohnter Richtung geben - mit Deutschland als Adressaten.


Ingo Stamm ist Mitglied des AK Recht auf Nahrung in Deutschland


Anmerkungen:

(1) Abschlussbericht zur Diskussionsreihe "Armut und Menschenrechte ein Thema für Deutschland" (2008). Deutsches Institut für Menschenrechte.

(2) Becker, Irene: Bewertung der Neuregelungen des SGB II; Münder, Johannes: Verfassungsrechtliche Bewertung, In: Soziale Sicherheit Extra. Sonderheft September 2011.

(3) S. auch: Follmar-Otto, Petra/Mahler, Claudia (2011). Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte gem. § 27a BVerfGG im Verfahren 1 BvL 2/11. Berlin.


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Quelle:
FoodFirst - FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte, Nr. 3/2011, November 2011, S. 4-5
Herausgeber: FIAN-Deutschland e.V., Briedeler Straße 13, 50969 Köln
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2012