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BERICHT/118: Proteste von Bauern in China (FoodFirst)


FoodFirst Nr. 4/2006
FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte

Wir wollen Gerechtigkeit, wie sie im Gesetz steht
Proteste von Bauern in China

Von Astrid Lipinsky


Bauern verdienen durchschnittlich ein Drittel des Einkommens der Städter. Bauern müssen nicht nur wie Städter Steuern zahlen, sondern müssen außerdem die Dorfstraßen, die Lehrer, das Schulgebäude, die Gehälter und die Bankette ihrer Dorfregierung bezahlen. Wer nicht zahlungswillig ist, wird eingesperrt, ausgehungert oder krankenhausreif geprügelt. Geburtenplanungsquoten werden in den Dörfern gewaltsam durchgesetzt. Bauern werden enteignet, und von dem Geld, für das ihr Land teuer verkauft wird, erhalten sie nichts.


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In den letzten zehn Jahren verloren in China nach offizieller Statistik 66 Millionen Bauern auf diese Weise ihr Land. Industrieunternehmen verschmutzen ihr Wasser und vergiften ihre Felder, ohne dass sie sich wehren können. Die versprochene Entschädigung für Enteignungen kommt nicht bei ihnen an. Als Wanderarbeiter auf den städtischen Baustellen sind sie Menschen zweiter Klasse, niedrig entlohnt und nicht versichert. Bauern, die sich auf die Gesetze berufen, die alles oben Aufgezählte verbieten, werden ausgelacht und von den lokalen Gerichten abgewiesen.

Kein Wunder, dass sie mit kollektiven Protesten ganzer Dörfer ihr Recht einfordern, wenn nötig, direkt in der Hauptstadt. Gegenüber dem Vorjahr stieg sogar nach offiziellen Angaben die Zahl bäuerlicher Proteste 2005 um 6,6 Prozent auf landesweit 87.000. Ein häufiges Mittel des Protests ist die Petition. In ihr wird die Tat dokumentiert, gegen die protestiert wird, einschließlich der gesammelten Beweise. 80 Prozent der 460.000 Petitionen, die 1998 den Staatsrat in Beijing erreichten, kommen von Bauern. Für die Proteste wenden die Beteiligten alle verfügbaren Ressourcen auf: Feldmaschinen, Traktoren und Geld für den Transport bzw. die Reisekosten, Ackergeräte als 'Bewaffnung' und Kochgeschirr, um mit Lärm Aufmerksamkeit zu erregen. Im Landkreis Linqu in der Provinz Shandong protestierten im Jahr 2001 Bauern gegen ihre Zwangsenteignung zur Straßenverbreiterung, indem sie die Straße mit Betttüchern pflasterten und blockierten, auf die sie ihren Protest geschrieben hatten. Grundsätzlich beginnen die Proteste zunächst friedlich mit einer möglichst großen Zahl von Beteiligten - zwischen Hunderten und Hunderttausenden -, weil sich herausgestellt hat, dass die Masse das Gegenüber am ehesten beeindruckt. Übliche Formen sind die Belagerung der Regierungsgebäude (von Dorf, Gemeinde, Kreis etc.), Sitzblockaden oder Steuerstreiks. Die gewaltlose Lösung ist möglich, indem etwa ein führender Funktionär sich den Protestierenden öffentlich stellt, oder mit ihren Delegierten redet. Häufig kommt es aber zur gewaltsamen Niederschlagung der Proteste durch lokale Polizei, Miliz und Armee einschließlich der Plünderung und Verwüstung der Häuser der Protestierenden.

Ihre Ablehnung jeder Art - auch von friedlichen - Protesten hat die chinesische Staatsführung neuerdings mit dem Wahlspruch der "harmonischen Gesellschaft" zusammengefasst. Proteste sind möglichst schon im Entstehungsstadium, jedenfalls aber lokal, zu ersticken. Gelingt das nicht und schaffen es Protestierende aus dem Dorf bis vor den Sitz der Provinzregierung, dann werden die Funktionäre des Dorfes von Gemeinde und Kreis bestraft. Die Protestierenden machen aber immer wieder die Erfahrung - weshalb sie protestieren -, dass die Lokalebene bis zur Kreisverwaltung ihre Beschwerde und ihren Protest ignoriert.

Frauen beteiligen sich aktiv an den Protesten der Männer und werden wie sie Opfer willkürlicher Verhaftungen. Frauen sind aber nur im Ausnahmefall die Initiatorinnen von Protesten; sie tun sich schwer mit der Mobilisierung kollektiver Unterstützung im Dorf für ihr Anliegen. Typisches Frauenanliegen ist ihre Diskriminierung, vor allem der Nichtzugang zu eigenem Land, als eingeheiratete 'Fremde' im Dorf. Das heißt: der Protest der Frauen richtet sich gegen die Männer im Dorf. Ihre Bezugsgrundlage ist das Gesetz. Die Vertreter der Massenorganisation der Chinesinnen, des Chinesischen Frauenverbandes, ermutigen sie zum Gang vor Gericht.

Die Autorin ist Promovierte Chinawissenschaftlerin
und arbeitet in China und Deutschland zu Frauen
und Gender.


Zum Weiterlesen:

Chen Guidi; Wu Chuntao:
Zur Lage der chinesischen Bauern.
Eine Reportage.
Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2006
(Besprechung des Buches in Menschenrechte
für die Frau 2006, Nr. 5. Erscheint im Dezember 2006)

Human Rights Watch:
"We could disappear at any time."
Retaliation and Abuses Against Chinese Petitioners.
Human Rights Watch Bericht Volume 17, Nr. 11. HRW,
New York 2005

Lipinsky, Astrid:
Der Chinesische Frauenverband.
Eine kommunistische Massenorganisation
unter marktwirtschaftlichen Bedingungen.
LIT, Münster 2006
(darin: Beispielfälle zur ländlichen Petition)

O'Brien, Kevin; Li Lianjiang:
The Politics of Lodging Complaints in Rural China.
In: China Quarterly 1995, Nr. 143, S. 756-783


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Quelle:
FoodFirst - FIAN-Magazin für die wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Menschenrechte, Nr. 4/2006, Seite 7
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den 10. Januar 2007