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FRAGEN/037: Stefan Frey - "Es gibt keine Flüchtlingskrise sondern eine Flüchtlingsschutzkrise" (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Es gibt keine Flüchtlingskrise sondern eine Flüchtlingsschutzkrise

Von Milena Rampoldi, 31. Mai 2016


Stefan Frey von der Flüchtlingshilfe Schweiz sagt uns in seinem Interview: "Es gibt keine Flüchtlingskrise ... sehr wohl aber eine Flüchtlingsschutzkrise." Aus Fremden werden Nachbarn, wenn wir die Menschen aufnehmen, so einfach und so schwierig ist es.


Milena Rampoldi: Welche sind die Hauptziele der Flüchtlingshilfe Schweiz?

Stefan Frey: Die Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH [1] ist der Dachverband der im Asyl- und Flüchtlingsbereich tätigen Hilfswerke Caritas Schweiz, Hilfswerk der Evangelischen Kirchen Schweiz HEKS, Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH, Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen VSJF, Stiftung Heilsarmee Schweiz sowie der Schweizer Sektion von Amnesty International. Sie wurde 1936 gegründet und vertritt seither die Interessen von Asylsuchenden und Flüchtlingen bei den Behörden, in der Politik und der Öffentlichkeit.

Es geht der SFH darum, dass die in der Schweiz Schutz suchenden Menschen in Menschenwürde aufgenommen werden und in Sicherheit eine neue Existenz inmitten der hiesigen Gesellschaft aufbauen können.

Welche Mythen gilt es im Bereich der Flüchtlingskrise und somit auch der Flüchtlingshilfe abzubauen?

Es gibt keine Flüchtlingskrise, weder in der Schweiz noch im übrigen Europa. Es gibt eine Flüchtlingsschutzkrise, die ihre Ursachen in einer seit Jahren nachhaltig aufgebauten Desolidarisierung innerhalb der Gesellschaft und innerhalb der Staatengemeinschaft Europas hat.

Wenn die unbestritten vorhandene politische, soziale und wirtschaftliche Herausforderung im Zusammenhang mit den Flüchtlingsbewegungen nicht menschenwürdig und nicht im Sinne einer nachhaltigen Integration aus politischem Kalkül bewältigt wird, ist das europäische Friedensprojekt gescheitert.

Aus welchen Hauptländern stammen die Schweizer Flüchtlinge und mit welchen Hauptproblemen haben sie zu kämpfen?

Die Haupt-Herkunftsländer sind derzeit Afghanistan, Eritrea, der Irak und Syrien. Die Zusammensetzung kann sich innert kurzer Zeit immer wieder ändern. Das Hauptproblem sind die nach wie vor viel zu langen Asylverfahren, welche eine schwere Hypothek für eine erfolgreiche Integration darstellen. Sollte die Asylreform, über die am 5. Juni 2016 abgestimmt wird, angenommen werden, ist eines der wesentlichsten Probleme gelöst. Was es anschliessend braucht, ist eine kohärente Integrationsstrategie, die aus vielen guten Einzelprojekten eine landesweit harmonisierte und wirksame Integration von Flüchtlingen ermöglicht. Daneben ist der Status des "vorläufig Aufgenommen" (F) für rund die Hälfte aller Menschen, die in der Schweiz Schutz erhalten, höchst problematisch.

Worum geht es am 05. Juni 2016 in der Abstimmung über die Asylgesetzrevision?

Es geht um schnellere und faire Verfahren, die sozusagen ab Ankunft der Schutz suchenden Person einen Rechtsschutz gewähreistet. Die Verfahren werden an einem einzigen Ort, wo alle Akteure untergebracht sind, durchgeführt. Im übrigen verweise ich Sie an die Website www.asylgesetzrevision.ch [2], wo sie die wesentlichsten Punkte zusammen gefasst finden.

Wie können Flüchtlinge ein Land bereichern?

Indem aus Fremden Nachbarn werden. Dazu müssen sich beide aufeinander zu bewegen.

Wie kann die Flüchtlingshilfe dazu beitragen, die Gesellschaft bunter und toleranter zu gestalten?

Wir versuchen z.B. durch Projekttage in Schulen den direkten Kontakt mit Flüchtlingen zu ermöglichen. Tausende von Schulkindern erhalten so jedes Jahr ein ungeschminktes Bild vom Flüchtlingsalltag. Mit dem Projekt Gastfamilien wollen wir die Integration beschleunigen und mit der Förderung von Ausbildungen wollen wir die Abhängigkeit von Sozialhilfe verkürzen. Ob die Schweiz dadurch bunter wird, wissen wir nicht, aber wenn sie nicht noch brauner wird, ist das auch schon gut.


Über die Autorin

Dr. phil. Milena Rampoldi ist freie Schriftstellerin, Buchübersetzerin und Menschenrechtlerin. 1973 in Bozen geboren, hat sie nach ihrem Studium in Theologie, Pädagogik und Orientalistik ihren Doktortitel mit einer Arbeit über arabische Didaktik des Korans in Wien erhalten. Neben ihrer Tätigkeit als Sprachlehrerin und Übersetzerin beschäftigt sie sich seit Jahren mit der islamischen Geschichte und Religion aus einem politischen und humanitären Standpunkt, mit Feminismus und Menschenrechten und mit der Geschichte des Mittleren Ostens und Afrikas. Sie wurde verschiedentlich publiziert, mehrheitlich in der deutschen Sprache. Sie ist auch die treibende Kraft hinter dem Verein für interkulturellen und interreligiösen Dialog Promosaik.
www.promosaik.com


Anmerkungen:
[1] https://www.fluechtlingshilfe.ch/
[2] http://www.asylgesetzrevision.ch/


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2016

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