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BERICHT/977: Tschernobyl - deutsch-belarussische Jugendbegegnung (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 150 - Juni/Juli 09
Die Berliner Umweltzeitung

Belarus begegnen
Thema Tschernobyl - Jugendbegegnung von deutschen und belarussischen Jugendlichen

Von Fiona Schmidt


Wenn der Begriff "Tschernobyl" aufkommt, verbinden die meisten Menschen damit die Katastrophe am 26. April 1986 und ihre Folgen in den darauffolgenden Wochen. - Der besorgte Anruf eines Bekannten aus der Wetterstation, der davor warnt, in den Regen zu gehen, oder vermehrt auftretende Fehlbildungen bei Kälbern auf dem eigenen Hof in dem Jahr danach. Doch allen, die nach der Katastrophe geboren wurden, fehlt ein solcher Bezug. Vielleicht weiß man um die Eckdaten, den Verlauf des Unglücks und vage Zahlen von erkrankten Menschen in den betroffenen Gebieten. Dem GAU (Größter Anzunehmender Unfall) haftet ein historischer Charakter an. Hinzu kommt die starke Polemisierung der öffentlichen, medialen Diskussion um Atomkraft, welche von der Atomlobby dominiert und weitgehend verharmlost wird.


Ein Anti-Atom-Austausch

Anfang April fand der erste Teil einer Jugendbegegnung zwischen deutschen und belarussischen Jugendlichen in Minsk und Gomel statt. In einer Gruppe von 12 jungen Menschen aus Berlin und Hannover wollten wir uns mit dem Thema Tschernobyl, dessen Auswirkungen auf die heutige und zukünftige Lebenssituation der Menschen in Belarus und mit dem für Belarus neu geplanten Kernkraftwerk beschäftigen.

Eingeladen wurden wir vom Institut für Strahlensicherheit BELRAD in Minsk. Das nicht-staatliche Institut wurde 1990 vom Atomphysiker und ehemaligen Leiter des Strahlensicherheitslabors im Institut für Kernenergetik, Prof. W.B. Nesterenko gegründet und wird seit seinem Tod im Jahr 2008 von seinem Sohn Alexeij Nesterenko geleitet. Die Arbeit des Instituts besteht in der Strahlenmessung der Menschen verstrahlter Gebiete, Bildungs- und Aufklärungsarbeit zum besseren Umgang mit der Strahlenbelastung, sowie dem Angebot, Lebensmittel in Messstellen auf Strahlung überprüfen zu lassen. Außerdem verteilt das Institut ein eigens entwickeltes Präparat aus Pektin, welches im Magen aufquillt und dabei Schwermetalle und Strahlung aufnimmt, sodass die Strahlenbelastung des Körpers reduziert werden kann.


Leben mit der unsichtbaren Gefahr

70 Prozent des radioaktiven Falldowns nach der Katastrophe von Tschernobyl kontaminierte 21 Prozent der Fläche von Belarus. Am Rand der radioaktiv verstrahlten Zonen, welche in vier unterschiedlich stark belastete Bereiche aufgeteilt sind, passiert man eine Kontrollstelle. Doch hinter den gelben Warnschildern mit dem Atomzeichen darauf verläuft das Leben weiter in seinen gewohnten Bahnen. Eine wunderschöne ländliche Idylle mit Birkenwäldern, Pferdekarren, leuchtend blau-grün geschnitzten Holzzäunen um die Häuser herum, Störchen und durchwachsenen Graslandschaften täuschen über die Gefahr hinweg, die sich hier im Boden, in Pflanzen, Tieren und Menschen anreichert. Die mit über 40 Curie pro Quadratkilometer verstrahlten Gebiete wurden evakuiert und sind als Sperrzone deklariert. Ortsschilder sind durchgestrichen, viele Häuser abgerissen und vergraben worden, um Plünderungen von stark verstrahlten Haushaltsgegenständen oder Baumaterial zu verhindern. Die anderen stehen noch und werden langsam von Sträuchern, Bäumen und Wurzeln überwuchert.

In den bis 15 Curie pro Quadratkilometer belasteten Gebieten wird auch heute Land- und Forstwirtschaft betrieben. Ein Teil der dort erwirtschafteten Lebensmittel wird zentral mit Lebensmitteln aus nicht oder weniger belasteten Gebieten vermischt, um so eine gemäßigtere Strahlenbelastung für die Gesamtbevölkerung zu bekommen, denn 80 Prozent der Strahlung im Körper wird über die Nahrung aufgenommen. Wer es sich also leisten kann, Essen aus dem Supermarkt dazuzukaufen, kann schon einiges für seine Gesundheit tun. Doch gerade die arme Bevölkerung kann sich diesen Luxus nicht leisten. Ihr und vielen Kleinbauern, die die Skepsis der Konsumenten am meisten zu spüren bekommen, bleibt meist nur der belastete Ertrag aus dem eigenen Garten, vom eigenen Feld oder aus dem Wald.


Strahlenschutz heute

Bei dem Besuch einer der letzten 12 von ehemals 300 Messstationen des Instituts BELRAD in der verstrahlten Zone erklärt uns die Leiterin der Strahlenmessstelle, dass die Pilze, welche wir mit ihr messen, eine Strahlung von 14.000 Becquerel pro Kilogramm besitzen. Der EU-Grenzwert für Lebensmittel beträgt 600 Becquerel pro Kilogramm. Den Menschen wird geraten, die stark belasteten Lebensmittel wegzuwerfen oder zu vergraben. Doch noch heute werden bei manchen Kindern Werte von über 1.100 Becquerel pro Kilogramm Körpergewicht gemessen. Ab 20 Becquerel pro Kilogramm wird die Strahlung als gesundheitsschädigend eingestuft.

Wir Menschen haben kein Sinnesorgan für Radioaktivität. Wir können sie nicht riechen, schmecken, sehen, hören. Das hat uns vor allem verstehen lassen, dass manche Leute in die gesperrten Gebiete zurückkehren, Sicherheitsvorkehrungen missachten und das alltägliche Risiko hinnehmen.


Fehlende Hilfe und Unterstützung

Die Situation der Bevölkerung in Belarus ist zudem so prekär, da sie kaum Unterstützung von Seiten der Regierung bekommt. Der Wunsch nach Energieautonomie sowie erfolgreiche Bemühungen der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA), eine den Vereinten Nationen verbundene Organisation zur Förderung und Verbreitung von Kernenergie, ließen den belarussischen Regierungschef Alexander Lukaschenko den Bau eines neuen Atomkraftwerks in Belarus beschließen. Offizielle Umfragen sprechen von Zustimmung in der Bevölkerung, doch die meisten, die wir treffen, widersprechen dem. Die massive Atom-Propaganda erschwert es den Betroffenen zusätzlich, dass ihre Krankheiten als Folge der Katastrophe anerkannt werden. Mittlerweile müssen Beweise erbracht werden, dass eine Erkrankung die Folge von Radioaktivität ist, um spezielle Hilfsleistungen zu bekommen. Eine schikanierende Aufgabe ohne große Erfolgsaussichten.

Aber auch auf internationaler Ebene finden die Betroffenen nur schwer Gehör. Eine 1959 unterzeichnete Resolution zwischen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Internationalen Atomenergieagentur verleiht der Atomenergieagentur die Hauptverantwortung, den Einsatz und die Erforschung für nukleare Anwendungen zu leiten. Doch die Atomenergieagentur ist nicht daran interessiert, die Öffentlichkeit über die steigenden Zahlen von Krebserkrankungen, Herz-Kreislauferkrankungen oder Erbgutschädigungen zu informieren, sondern im Gegenteil, die positiven Auswirkungen der Atomenergie zu propagieren.


Tschernobyl: Eine Bürde für Generationen

Das Ergebnis einer im Jahr 2005 veröffentlichten Studie der Weltgesundheitsorganisation und der Atomenergiebehörde zur Katastrophe von Tschernobyl lautet: 50 Tote, 4.000 behandelbare Schilddrüsenerkrankte und maximal 4.000 weitere Menschen mit verkürzter Lebensdauer. Armut und ein geringer Lebensstandard würden ein größeres Problem darstellen; der Fall Tschernobyl könne ad acta gelegt werden.

Dem stehen Ärzte, Wissenschaftler, lokale Behörden, Nicht-Regierungsorganisationen und Studien, die nicht in der IAEA/WHO-Studie berücksichtigt wurden, gegenüber. Laut verschiedener Angaben ukrainischer Behörden sind bisher 25.000 bis 50.000 Liquidatoren, wie man die bei den Aufräumarbeiten in Tschernobyl eingesetzten Arbeiter nennt, gestorben; Professor E. Lengfelder vom Otto-Hug-Strahleninstitut in München warnt vor einem Anstieg von Schilddrüsenkrebs auf bis zu 100.000 Fälle, und es herrscht internationaler Konsens, dass Radioaktivität das Erbgut schädigt. Somit werden auch die kommenden Generationen massiv an den Folgen von Tschernobyl zu leiden haben, sagen Strahlenschutzexperten voraus. Die Katastrophe wird weitervererbt.

Die Jugendbegegnung in Belarus hat uns viel neues Wissen über Atomkraft und ihre Folgen vermittelt, ein eindrückliches Bild von der Zerstörungskraft der Katastrophe gezeichnet und alle motiviert, weiter gegen die Nutzung von Kernenergie zu protestieren. Zeigen wir Solidarität mit den Atomkraft-Gegnern in Belarus und den Opfern der Tschernobyl-Katastrophe.

Infos zur Jugendbegegnung: belarus09.blogspot.com


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Quelle:
DER RABE RALF - 20. Jahrgang, Nr. 150, Juni/Juli 09
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2009