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BERICHT/967: Soziologe in Mexiko zum Terroristen gemacht (Anne Roth/Andrej Holm)


Soziologe in Mexiko zum Terroristen gemacht

Soziologen leben weiter gefährlich

Von Anne Roth und Andrej Holm, Juni 2009


Am 22. Mai wurde in Mexiko der kolumbianische Soziologe Miguel Ángel Beltrán Villegas festgenommen und als angeblicher FARC-Terrorist nach Kolumbien abgeschoben. Soweit das bisher nachzuvollziehen ist, sind die "Beweise" für sein terroristisches Agieren Hinweise auf einem letztes Jahr von der Armee gefundenen Computer. Forensiker von Interpol allerdings geben darauf nichts, weil die Daten auf dem Rechner offenbar manipuliert wurden (Telepolis: Sprengstoff aus dem Laptop, Juni '08; Interpol-Bericht).

Es gibt inzwischen eine Kampagne vor allem mexikanischer AkademikerInnen, die die Freilassung von Miguel Ángel Beltrán Villegas fordern (Spendenkonto). Das meiste Material zum Fall ist spanisch. "The political kidnapping of Dr. Miguel Ángel Beltrán in Mexico" erklärt einige Details und enthält Informationen darüber, wer Miguel Ángel Beltrán Villegas ist.

Andrés Hernández Vásquez, Anwalt und Doktorand an der Uni Mainz, vergleicht den Fall mit der Festnahme von Andrej Holm und schrieb den Artikel "Guantánamo in Kolumbien", angelehnt an "Guantánamo in Germany" von Saskia Sassen und Richard Sennett, im August '07 im Guardian veröffentlicht.

Es gibt verschiedene von vielen vor allem lateinamerikanischen AkademikerInnen unterschriebene Protestschreiben: Wir sind alle Miguel Ángel Beltrán Villegas. Offener Brief an die Regierungen von Mexiko und Kolumbien; Erklärung des Netzwerks der Künstler und Intellektuellen für die Menschlichkeit; Erklärung der DozentInnen des Instituts für Soziologie der Nationalen Universität von Kolumbien und noch weitere. Ich hoffe sehr, dass es bald Offene Briefe gibt, die online unterschrieben werden können.

Andrej hat diesen Text zur Unterstützung geschrieben:

Dr. Miguel Ángel Beltrán Villegas, Soziologe an der UNAM in Mexiko wurde am 22. Mai mit dem Vorwurf der Mitgliedschaft in der kolumbianischen Guerilla FARC nach Kolumbien abgeschoben und dort inhaftiert. Die wenigen Informationen, die in Deutschland zu diesem Fall bekannt geworden sind, zeigen eine weitere skandalöse Kriminalisierung von kritischen Wissenschaftler/innen im Namen des angeblichen "Kampfes gegen den Terrorismus".

Die Abschiebung und Verhaftung von Dr. Miguel Ángel Beltran erfolgte auf der Basis einer selbst von internationalen Polizeibehörden umstrittenen Auswertung von Computerdaten, die einem FARC-Kommandanten zugeschrieben werden. Der konkrete Vorwurf gegen ihn ist die angebliche Infiltration akademischer Zirkel in Lateinamerika, um diese unter die Führung der FARC zu stellen. Dass dabei seine wissenschaftlichen Arbeiten zu einem halben Jahrhundert Bürgerkrieg in Kolumbien als Indizien herbeigezogen werden, zeigt, dass hier eine kritische und für den Staat unliebsame Forschungsarbeit kriminalisiert werden soll. Ich unterstütze die Forderung nach einer sofortigen Freilassung von Dr. Miguel Ángel Beltran.

Auch in Europa wurden in den vergangenen Jahren mehrere Wissenschaftler wegen des Verdachts terroristischer Aktivitäten festgenommen. Im Mai 2008 wurden zwei Wissenschaftler der Universität Nottingham unter Anwendung des britischen "Terrorism Act" festgenommen und mit Abschiebung bedroht. Anlaß war der Ausdruck von legal erhältlichem Material für die Forschung über Al-Quaida. Im November 2008 wurden im französischen Tarnac 10 Personen im Rahmen von sogenannten Anti-Terrorermittlungen festgenommen. Unter ihnen der Philosoph Julien Coupat, der über 6 Monate in Untersuchungshaft festgehalten wurde. Begründung in seinem Fall unter anderem eine vermutete Herausgeberschaft eines als linksextremistisch eingeschätzten Buches "L"insurrection qui vient" (Der kommende Aufstand) sowie die nicht bewiesenen Beteiligung an einer Unterbrechung des Schienenverkehrs. Julien Coupat musste inzwischen wegen Mangels an Beweisen freigelassen werden. Ich selbst wurde im Juli 2007 als angeblich "intellektueller Kopf" einer terroristischen Vereinigung festgenommen. Indizien auch hier meine wissenschaftlichen Veröffentlichungen sowie eine nie verborgene linke Gesinnung. Der Bundesgerichtshof hat den Haftbefehl gegen mich inzwischen aufgehoben und den 'dringenden Tatverdacht' verneint.

In all diesen Verfahren gerieten Wissenschaftler/innen und ihre Arbeitsweisen in den Fokus polizeilicher Ermittlungen. Kritische Wissenschaft darf nicht auf dem Altar des internationalen "War on Terror" geopfert werden.

Die von der mexikanischen Regierung vollzogene Abschiebung in das immer noch von Menschenrechtsverletzungen geprägte Kolumbien erfolgte ohne jede Rechtsgrundlage. Ich protestiere gegen diese illegale Abschiebung durch die mexikanische Regierung und fordere die unverzügliche und unversehrte Rückkehr von Dr. Miguel Ángel Beltran nach Mexiko.

Dr. Andrej Holm
Institut für Humangeographie
Universität Frankfurt am Main


Anne Roth
Ich lebe in Berlin, bin Medienaktivistin, Journalistin, Übersetzerin, Mutter zweier Kinder und seit Juli '07 vor allem bekannt als Partnerin von Andrej Holm, der morgens um 7 Uhr in unserer Wohnung als Terrorist festgenommen wurde. Seitdem blogge ich über das Innenleben einer Terrorismus-Ermittlung und, seit nicht mehr so spürbar ermittelt wird, zunehmend über Terrorismus und den "Krieg gegen Terror" an sich. Das Paragraph 129-Verfahren dauert allerdings an, auch wenn die Bundesanwaltschaft seit Juli '07 nichts gefunden hat, das den Vorwurf erhärtet hätte. Die Überwachung geht weiter.


Dieser Text von Anne Roth steht unter einer Creative Commons Lizenz.
(siehe Orginaltext)


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Quelle:
Soziologe in Mexiko zum Terroristen gemacht, 09.06.2009
http://annalist.noblogs.org/post/2009/06/09/soziologe-in-mexiko-zum-terroristen-gemacht


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2009