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BERICHT/952: Brasilien - Überwindung von Diskriminierung in der Landlosenbewegung (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 107, 1/09

Chancen und Grenzen
Versuche zur Überwindung der Diskriminierung von Frauen
in der brasilianischen Landlosenbewegung

Von Irmi Salzer


Die brasilianische Landlosenbewegung MST (Movimiento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra - Bewegung der landlosen Landarbeiter) wurde 1984 gegründet und versucht nach eigenen Angaben drei (miteinander verknüpfte) Ziele zu erreichen: die ländliche Besitzstruktur zugunsten der LandarbeiterInnen und Landlosen zu verändern, eine Agrarreform durchzusetzen und eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Eines ihrer Prinzipien ist der Kampf gegen jegliche Form der Diskriminierung, so auch gegen die Diskriminierung von Frauen. Inwiefern dieses Prinzip in einer vom Machismo geprägten Gesellschaft wie in Brasilien verwirklicht werden kann, wird im folgenden Beitrag ansatzweise diskutiert.(1)


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Schon 1989 wurde in den Prinzipien von MST verankert, dass die Partizipation von Frauen auf allen Ebenen des MST gefördert sowie jegliche Ungleichbehandlung von Frauen bekämpft werden soll. Seit 2002 gibt es einen eigenen Sektor, der sich mit Frauen- und Gleichberechtigungsfragen innerhalb wie außerhalb der Organisation beschäftigt. In jedem Zeltlager, jeder Landreformsiedlung sollen Frauen und Männer als RepräsentantInnen dieses "Gender-Sektors" an einer Neudefinition der Geschlechterbeziehungen arbeiten. Frauen werden speziell zur Teilnahme an Bildungsveranstaltungen und Versammlungen ermutigt, in den Gremien des MST wird ein 50%iger Frauenanteil angestrebt. Trotz dieser langjährigen Versuche, den "Machismo" innerhalb der Bewegung zu bekämpfen, sind die geschlechtsspezifischen Hierarchien und Praktiken der Unterdrückung an der Basis der Bewegung nach wie vor allzu präsent.


Kollektive Ermächtigung als Chance

Das zentrale Mittel zur Erreichung der Ziele sind Landbesetzungen mit der anschließenden Errichtung von Zeltlagern (acampamentos). Nach erfolgreicher Besetzung und Legalisierung organisiert der MST seine Mitglieder in Landreformsiedlungen (assentamentos). In den Zeltlagern versucht der MST eine kollektive Organisationsform zu verwirklichen, die auf gleicher Präsenz und Wertschätzung von Männern und Frauen basiert. Durch einen möglichst basisdemokratischen Charakter aller Entscheidungsprozesse sollen die übernahme von Verantwortung und die Partizipation möglichst aller TeilnehmerInnen gefördert werden. Tatsächlich kann die hierarchische geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die damit einhergehende Ausbeutung weiblicher Arbeit in den Zeltlagern aufgeweicht werden. Die dort stattfindende Sozialisierung des Privatlebens aufgrund räumlicher, strategischer und politischer Notwendigkeiten führt zu einer Aufwertung der Arbeit der Frauen. Ihre produktiven und reproduktiven Tätigkeiten sowie ihre Teilnahme am Kampf um Land werden anerkannt. Nachdem die Isolation von Frauen einer kollektiven Alltagsbewältigung weicht, eröffnen sich Räume weiblicher Interaktion. Dies führt zu Solidarisierung und Ermächtigung vormals vereinzelter Individuen. Da die soziale Kontrolle in den Zeltlagern sehr ausgeprägt ist, spielt auch die Gewalt gegenüber Frauen eine eher geringe Rolle.


Und wieder alles beim alten

In den Landreformsiedlungen hingegen findet meist eine Rückkehr zu individualisierten Wohn- und Arbeitsformen statt, eine neuerliche soziale Isolierung der Frauen ist die Folge. Durch die Abgeschiedenheit und die schlechten Transportverbindungen vieler Landreformsiedlungen ist die Individualisierung oft noch stärker ausgeprägt als beispielsweise in einem Dorf oder einer Stadt. Auch die Arbeitsteilung ist wiederum nach herkömmlichen Mustern organisiert: den Frauen werden private und reproduktive Tätigkeiten zugeordnet, den Männern die öffentlichen und produktiven. Bei den wenigen Gelegenheiten zur sozialen Interaktion wie z.B. den Versammlungen sind Frauen sowohl zahlenmäßig als auch hinsichtlich ihrer aktiven Beteiligung unterrepräsentiert. Viele sehen sich außerstande, zu den Treffen zu kommen, da sie "ihre" Arbeit sonst nicht erledigen könnten oder kleine Kinder zu beaufsichtigen haben.

Die Zuordnung der Frauen zur Privatsphäre führt dazu, dass die Verwaltung und Koordination der Landreformsiedlungen vorrangig in den Händen der Männer liegt. Die meisten der Frauen haben diese Zuordnungen internalisiert und sehen sie als "natürlich" an. Wenn sie sich nicht engagieren, dann, weil sie keine Zeit haben oder nicht wollen. Die strukturelle und systematische Ausgrenzung von Frauen wird auf eine Frage der persönlichen Wahl reduziert. Wenn jedoch Siedlerinnen sich nicht mit den ihnen auferlegten Zuschreibungen und Beschränkungen abfinden wollen, stoßen sie immer wieder auf großen Widerstand ihrer Partner bzw. Väter. Das Übernachten außer Haus oder die Reise zu einem Treffen werden schlicht und einfach verboten. In zahlreichen Fällen wagen es die Frauen nicht, sich gegen diese Vorschriften durchzusetzen.


Die Geringschätzung der Frauenarbeit

Neben diesen sozialen und kulturellen Barrieren, denen sich die Frauen im "assentamento" gegenübersehen, sind es jedoch die Implikationen der hierarchischen geschlechtlichen Arbeitsteilung und der Stellung der Frauen im Produktionsprozess, die eine Überwindung von geschlechtsspezifischen Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnissen so schwierig machen. Die Geringschätzung weiblicher Arbeit manifestiert sich auf verschiedenen Ebenen:

Die Beteiligung der Frauen am Produktionsprozess wird als komplementär, nebensächlich und untergeordnet, als "Hilfeleistung" wahrgenommen.
Hausarbeit und Kindererziehung, die klassischen reproduktiven Tätigkeiten also, werden nicht oder kaum als Arbeit gesehen.
Ob Tätigkeiten Wert zugeschrieben wird, hängt davon ab, ob sie von Männern oder Frauen verrichtet werden. Ein Siedler, der im Gemüsegarten arbeitet, verrichtet produktive Arbeit, eine Siedlerin, die eine Kuh melkt, verrichtet "erweiterte Hausarbeit".
Die Verantwortung für sämtliche (Geld-)einkommensgenerierenden Tätigkeiten obliegt den Männern.

Die hierarchische geschlechtliche Arbeitsteilung, die damit einhergehende Zuordnung von Funktionen und die daraus resultierende Festschreibung von geschlechtsabhängigen Rollen sind im Alltag der MST-Siedlungen also ebenso präsent wie auf allen Ebenen der kapitalistischen Gesellschaft. Wie in vielen sozialen Bewegungen, die sich als links/und oder fortschrittlich verstehen, haben sich aber auch im MST sowohl Männer als auch Frauen den Diskurs über Gleichberechtigung und die Ablehnung der Unterdrückung der Frau angeeignet. Einstellungen und Werte, die vertreten, propagiert und oft auch geglaubt werden, stehen mit dem alltäglichen Handeln aber allzu oft im Widerspruch.


Chancen und Grenzen

Den EntscheidungsträgerInnen des MST und insbesondere den Frauen an der Spitze der Bewegung sind diese Probleme anscheinend bewusst. Nach langen Jahren des Kampfes und der Auseinandersetzungen innerhalb der Bewegung gibt es Fortschritte. So hat der MST durchgesetzt, dass Landbesitztitel nicht mehr nur auf Männer, sondern auf Paare oder auch auf Frauen allein ausgestellt werden. Seit einigen Jahren wird das Problem der mangelnden Präsenz von Frauen bei Versammlungen durch Kinderbetreuungsangebote entschärft. Dadurch ist der Frauenanteil in den Treffen und auch Gremien merklich gestiegen. Auch versucht der MST, in seinen Schulen und Bildungsprojekten kontinuierliche Sensibilisierung in Bezug auf die geschlechtsspezifischen Unterdrückungsmechanismen zu leisten. Wenn also die Diskriminierung von Frauen und der Machismo innerhalb des MST keinesfalls als ausgeräumt gelten können, sind das Vorhandensein eines diesbezüglichen Problembewusstseins und vor allem die Formulierung von diesbezüglichen Prinzipien als allgemeine Ziele der Organisation positiv zu bewerten. Solange jedoch die Grundfesten der hierarchischen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung an der Basis der Bewegung nicht erschüttert werden können, dürfte der Weg hin zu Geschlechtergerechtigkeit innerhalb des MST noch ein steiniger sein.


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Anmerkung:
(1) Der folgende Artikel beruht auf den Recherchen der Autorin, die sie im Zuge ihrer Diplomarbeit "Landnutzung, Frauen und Ökonomieverständnis" (Wien 2005) in Zeltlagern und Landreformsiedlungen des MST durchgeführt hat.

Zur Autorin:
Irmi Salzer ist Mitarbeiterin der ÖBV-Via Campesina Austria - Österreichische Bergbauern- und -bäuerinnenbewegung.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 107, 1/2009, S. 12-13
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-355
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
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Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
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Jahresabo: Inland 20,- Euro; Ausland 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2009