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BERICHT/1056: Ingewahrsamnahmen als Mittel zur Unterbindung politischen Protests (ROBIN WOOD-Magazin)


ROBIN WOOD-Magazin Nr. 102/3.2009
Zeitschrift für Umweltschutz und Ökologie

nachspiele
Einfach wegsperren
Ingewahrsamnahmen als Mittel zur Unterbindung politischen Protests

Von Ute Bertrand


Bei Demonstrationen und auch bei ROBIN WOOD-Aktionen nimmt die Polizei immer wieder Menschen in Gewahrsam. Wie sich im Nachhinein herausstellt, sind diese Maßnahmen oft rechtswidrig. Konsequenzen für die Polizei hat dies in der Regel jedoch nicht.

Die Freiheitsentziehung ist eine der einschneidendsten polizeilichen Maßnahmen. Unter welchen Voraussetzungen es erlaubt sein soll, jemanden in Gewahrsam zu nehmen, ergibt sich aus Regelungen im Grundgesetz und den Polizeigesetzen der Länder. Gewahrsamnahmen können daher von Bundesland zu Bundesland verschieden lang dauern. Die Polizei hat die Möglichkeit, Menschen in Gewahrsam zu nehmen, wenn sie dies für unerlässlich hält, um die Begehung einer Straftat oder einer "Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit" zu verhindern. Sie kann also präventiv tätig werden und aufgrund von Prognosen Unschuldige wegsperren - selbst wenn es nur um Ordnungswidrigkeiten geht. Ordnungswidrigkeiten sind Verstöße unterhalb einer Straftat, also etwa Falschparken. Dass nicht einmal ein Verdacht auf eine Straftat im Spiel sein muss, sondern nur eine potentielle Ordnungswidrigkeit, eröffnet der Polizei also ein sehr weites Betätigungsfeld.

Immer muss die Polizei bei einer Ingewahrsamnahme "unverzüglich" eine RichterIn benachrichtigen, die dann in jedem Einzelfall über Zulässigkeit und Dauer des Gewahrsams innerhalb der gesetzlich zulässigen Höchstzeiten entscheiden muss. In der Realität aber dauert es oft - entgegen den Vorschriften - viele Stunden bis zur Richterentscheidung. Notgedrungen viel Erfahrungen mit zum Teil massenhaften

oder ausgesprochen lang dauernden Ingewahrsamnahmen haben die Menschen während der CASTOR-Transporte im Wendland. Dort gilt das "Niedersächsische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (SOG)". Es erlaubt, Menschen bis zu zehn Tagen in Gewahrsam zu nehmen, in Bayern sind es sogar 14 Tage. Seit 2001 ist nach Auskunft des niedersächsischen Innenministers Uwe Schünemann vom April 2009 diese maximale Gewahrsamsdauer von zehn Tagen in Niedersachsen siebenmal vorgekommen, in zwei Fällen wurden Menschen vier Tage lang in Gewahrsam genommen. Auch der damalige Sprecher der Initiative X-1000mal quer, Jochen Stay, wurde kurz vor dem CASTOR-Transport 2001 - mit Verweis auf eine Äußerung auf einer Kundgebung - aufgrund eines Gerichtsbeschlusses für vier Tage in Gewahrsam genommen. Das Oberlandesgericht in Celle erklärte dies im Nachhinein für rechtswidrig. Im November 2008 traf es im Rahmen einer ROBIN WOOD-Aktion die Aktivistin Cécile Lecomte [s.S. 14 - 15]. Auch hier lässt sich nur im Nachhinein klären, ob es zulässig war, sie tagelang wegzusperren. Eine Entscheidung dazu steht noch aus.

Wer in Gewahrsam genommen wird, landet oftmals in überbelegten, überheizten und voll gekachelten Zellen, in denen wegen Dauerbeleuchtung jede Nachtruhe unmöglich ist. Persönliche Gegenstände wie Handys werden einem weggenommen, ebenso "Geräte der Unterhaltungselektronik" wie Radios - mit der Begründung, man könne sich selbst oder andere damit gefährden. Bei Durchsuchungen wird man gezwungen, sich komplett auszuziehen.

Wie festgehaltene Personen behandelt werden dürfen, regelt in Niedersachsen - ergänzend zum SOG - die Polizeigewahrsamsordnung. Nur wenn der Gewahrsam länger als 48 Stunden dauert, muss der Raum demnach mindestens mit Tisch und Stuhl ausgestattet sein. Ansonsten genügen sicher befestigte Liegen. Außerdem müssen eine Gegensprechanlage oder Klingel vorhanden sein. Die Zellentüren sollen "aus Sicherheitsgründen" mit Weitwinkelspionen versehen sein. Menschen in Langzeitgewahrsam haben die Möglichkeit eines begleiteten Aufenthalts im Freien von 45 Minuten täglich, aber nur, "wenn es die personellen und räumlichen Voraussetzungen zulassen". "Beschäftigungsangebote" werden nicht gemacht. Teilweise werden Tageszeitungen zur Verfügung gestellt. Für Gefangenensammelstellen ist insbesondere der Platzbedarf geregelt. Dauert dort die Ingewahrsamnahme nur wenige Stunden, wird eine Größe von 3,5 Quadratmetern pro Person als angemessen angegeben.

Die Landesregierung hält es für gerechtfertigt, dass die Bedingungen des Gewahrsams noch schlechter sind als die im normalen Strafvollzug - wegen "der mit bis zu zehn Tagen vergleichsweise geringen Höchstdauer des Gewahrsams". Das antwortete die Landesregierung auf eine Kleine Anfrage, die vier grüne Landtagsabgeordnete (Helge Limburg u.a. vom 10.2.2009) nach der Langzeitingewahrsamnahme von Cécile Lecomte gestellt hatten.

Seit Anfang 2009 ist eine überarbeitete Polizeigewahrsamsordnung in Kraft. Demnach darf die Polizei, wenn es - z.B. bei Großereignissen wie CASTOR-Transporten - zu "Kapazitätsengpässen" kommt, auf "Gewahrsamszentren" und auch auf Justizvollzugsanstalten ausweichen. Die niedersächsischen "Gewahrsamszentren" befinden sich in Hannover und Braunschweig. Außerdem wurden Regelungen zur Behandlung fixierter Personen neu aufgenommen, nachdem der "Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe" dazu Forderungen aufgestellt hatte. So dürfen beispielsweise keine Polizeihandschellen, dafür aber Kletthandschellen angelegt werden.

Wenn die Polizei meint, die Gefahr einer "erheblichen Selbst- oder Fremdverletzung" auf andere Weise nicht abwenden zu können, darf sie Menschen aber weiterhin an Armen, Beinen und der Körpermitte so fesseln, dass sie sich nicht mehr bewegen können. Werden Menschen fixiert, muss einE ÄrztIn hinzugezogen werden. Fixierte Personen müssen ständig persönlich überwacht werden.

Die AnwältInnen des anwaltlichen Notdienstes, der zu CASTOR-Zeiten im Wendland arbeitet, haben seit 1996 weit über 2.000 Verfahren wegen rechtswidriger Freiheitsentziehungen bearbeitet. Wenn die Betroffenen Verfahren anstrengten, um nachträglich feststellen zu lassen, ob ihre Ingewahrsamnahme rechtswidrig war, haben sie in fast allen Fällen gewonnen. Allerdings verweigert die Polizeidirektion die Zahlung von Schmerzensgeld an die Betroffenen. Man bekommt also Recht, wird aber nicht entschädigt - und die Erlebnisse in derGefangenensammelstelle kann dies schon gar nicht vergessen machen.

ROBIN WOOD hat nach dem tagelangen Gewahrsam von Cécile Lecomte noch einmal die Forderung bekräftigt, die Gewahrsams-Paragrafen im "Niedersächsischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung" zu streichen, da sie einem weitgehend eigenmächtigen Vorgehen der Polizei Tür und Tor öffnen. ROBIN WOOD hält es für unverhältnismäßig, jemanden tagelang in Gewahrsam zu nehmen, nur um eine Ordnungswidrigkeit zu verhindern. Eine solche Regelung lässt sich allzu leicht dazu missbrauchen, politische GegnerInnen abzustrafen und an Einzelnen ein Exempel zu statuieren, anstatt die öffentliche Auseinandersetzung in der Sache zu führen. Sie höhlt Bürgerrechte aus und untergräbt eine lebendige Demokratie.

Links:
Kleine Anfrage vom 30.3.2009 mit Antwort zum Polizeigewahrsam in Niedersachsen,
http://www.helgelimburg.de/im_landtag/anfragen/ 2467166.html
Niedersächsische Polizeigewahrsamsordnung,
http://www.recht-niedersachsen.de/21011/p22,2,12340,1.htm

Ute Bertrand, Hamburg
ute.bertrand@robinwood.de


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

• Bis zu 48 Stunden können die in Gewahrsam genommenen
AktivistInnen in einer solch voll gekachelten Zelle mit
Dauerbeleuchtung eingesperrt werden

• Was Polizisten dürfen, lässt sich oft erst im Nachhinein klären


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Quelle:
ROBIN WOOD-Magazin Nr. 102/3.2009, S. 16-17
Zeitschrift für Umweltschutz und Ökologie
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2009