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BERICHT/1055: Polizeiwillkür gegen Antiatom-Aktivistin (ROBIN WOOD-Magazin)


ROBIN WOOD-Magazin Nr. 102/3.2009
Zeitschrift für Umweltschutz und Ökologie

nachspiele
Polizeiwillkür gegen Antiatom-Aktivistin


Wenn der Staat seine BürgerInnen mehr fürchtet als die Radioaktivität. Eine skurrile, aber wahre Erzählung über eine Konfrontation mit dem Rechtsstaat.

November 2008: Der CASTOR kommt ins Wendland. Eine Aktivistin wird für rund drei Tage in Langzeitgewahrsam genommen - vorsorglich. Der Staat will sie nicht vor dem atomaren Strahlenmüll schützen. Die Polizei schützt die ungehorsame Aktivistin davor, unter Umständen eine Ordnungswidrigkeit zu begehen. Sie könnte ja gegen den CASTOR-Transport mit einer Kletteraktion in luftiger Höhe demonstrieren und dafür eine Anzeige kassieren. Deshalb soll sie - so die übereinstimmende Begründung von Polizei und Gerichten, die ihre entsprechenden Beschlüsse bereits vor Anhörung der Betroffenen gefasst haben - "zur Gefahrenabwehr" weggesperrt werden.

Eine solche Sonderbehandlung bekommt nicht jedE. Die Aktivistin hatte mit drei weiteren ROBIN WOOD-KletterInnen drei Tage vor dem Atommülltransport ins Zwischenlager Gorleben eine Bahnbrücke in Lüneburg besetzt, die über die CASTOR-Strecke führte, und dort Transparente aufgehängt, um ihren Protest friedlich zum Ausdruck zu bringen.

Nach der Räumung wurde eine Aktivistin in so genannten Langzeitgewahrsam erst in die Polizei-Inspektion Lüneburg und dann nach Braunschweig gebracht. Die anderen drei KletterInnen kamen mit einer Kontrolle der Personalien davon.

Die Haftbedingungen im Langzeitgewahrsam sind alles andere als gemütlich. Etwas Ersatzbestrafung ist da sicher gewollt. Zudem legt die Polizei Wert darauf, dass die Aktivistin sich in Gewahrsam nicht verletzt, daher darf sie so gefährliche Gegenstände wie Stift und Papier nicht erhalten. Und wenn ihr das nicht passt, kann sie sich ein Bild davon machen, wie die OrdnungshüterInnen sie überzeugen möchten: An der Wand des Gewahrsamtraktes der Polizeidirektion in Braunschweig-Querum hängen aussagekräftige Bilder, die Fesselungs- und Folterungstechniken darstellen. Eine Delle in der Wand wurde sorgfältig umrahmt. "Kopfstoß gleich kopflos" lautet die Bildunterschrift. Die Beamten haben sogar Humor.

Auf Initiative örtlicher Initiativen und von ROBIN WOOD wurden die Bilder und die Zustände in der Braunschweiger Polizeidirektion öffentlich. Es gab eine Pressekonferenz und eine gemeinsame Begehung der Gewahrsamszellen zusammen mit Beobachterinnen von amnesty international und einer Landtagsabgeordneten.

Danach teilte der Braunschweiger Polizeipräsident schriftlich mit: "Die Fotos mit Fesselungsbeispielen im Braunschweiger Polizeigewahrsam wurden entfernt." Die Gewahrsamsordnung für Niedersachsen sei mit Wirkung zum 1.1.2009 geändert worden, um den "Forderungen des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe" nachzukommen.

Wenige Monate nach der Ingewahrsamnahme flatterte der Aktivistin ein Strafbefehl ins Haus. Wird die Polizei für ihre menschenverachtende Handlung nun zur Rechenschaft gezogen? Aber nein, Fehlanzeige! Der Strafbefehl richtet sich gegen die Aktivistin. Statt einer Ordnungswidrigkeitsanzeige wegen Kletterns erntet sie nun also eine Strafanzeige. Der Vorwurf lautet "Widerstand" und "Körperverletzung". Die Polizei hatte der Gefangenen innerhalb von dreieinhalb Tagen Gewahrsam einen ca. 30-minütigen "Freigang" gewährt. "Frei" heißt hier: mit Handfesseln an eine Polizistin gebunden. Statt sich zu bedanken, weigerte sich die Gefesselte, sich vom Sonnenschein zu verabschieden und freiwillig in die fensterlose, weiß gekachelte Zelle zurückzukehren.

Aus der Akte ist zu entnehmen, die Gefangene habe sich passiv verhalten und "schwer" gemacht. Die Polizei ist offenbar der Meinung, die Angeklagte könne das Gesetz der Schwerkraft aufheben und schwerer wiegen, als die Waage anzeigt.

Dank der Bemühungen des Rechtsanwaltes der Aktivistin wird der Fall nun doch nicht vor dem Amtsgericht Braunschweig verhandelt. Das Verfahren wurde eingestellt. Die Staatsanwaltschaft wollte zwar zunächst keine Einstellung auf Staatskosten annehmen, die Aktivistin aber blieb stur und setzte sich durch.

Die Geschichte ist jedoch noch nicht zu Ende: Wenn es darum geht, AktivistInnen zu verurteilen, arbeiten die Behörden fleißig. Wenn es dagegen darum geht, eine behördliche Maßnahme auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen, gibt es scheinbar keine Eile. Über entsprechende Anträge der Betroffenen auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anordnung und Durchführung des Langzeitgewahrsams wurde noch nicht entschieden. Die Betroffene wurde noch nicht einmal - wie von ihr beantragt - angehört.

Die Behörden haben ihr Ziel, die Umweltschützerin von ähnlichen Aktionen abzuhalten, verfehlt: Sie hat seitdem zwei weitere geheime Atomtransporte enttarnt und aufgehalten.

Cécile Lecomte war französische Meisterin im Sportklettern. Heute besetzt sie Strommasten und steigt den Atomkonzernen aufs Dach, mehr unter:
www. bewegungsstiftung.de/lecomte.html

Einzelheiten zum Vorfall:
http://www.eichhoernchen.ouvaton.org/deutsch/repression/langzeitgewahrsam.html


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

• Ein riesiges Polizeiaufgebot schützt den strahlenden CASTOR im Wendland vor Protesten der Bevölkerung

• Um gegen den Castortransport ins Wendland zu protestieren, besetzt ROBIN WOOD im November 2008 eine Bahnbrücke - daraufhin wird eine Aktivistin von der Polizei massiv unter Druck gesetzt


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Quelle:
ROBIN WOOD-Magazin Nr. 102/3.2009, S. 14-15
Zeitschrift für Umweltschutz und Ökologie
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. November 2009