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MELDUNG/100: Zum Tod von Günter Grass - Minderheiten haben wichtigen Fürsprecher verloren


Presseerklärung vom 13. April 2015

Zum Tod von Günter Grass:
"Bedrängte Minderheiten haben einen wichtigen Fürsprecher verloren"


Mit großer Betroffenheit hat die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) den Tod von Günter Grass zur Kenntnis nehmen müssen. "Bedrängte Minderheiten - und vor allem diejenigen, von denen keiner spricht - haben einen sehr wichtigen Fürsprecher verloren", erklärte der GfbV-Generalsekretär Tilman Zülch am Montag in Göttingen. "Günter Grass war für Verfolgte und Vertriebene da, wenn sie ihn brauchten. Er lieh ihnen seine wortgewaltige Stimme und mahnte gemeinsam mit unserer Gesellschaft für bedrohte Völker, Konsequenzen aus der deutschen Vergangenheit zu ziehen: Angesichts von Völkermord zu schweigen, wird zur Mitschuld."

In dankbarer Erinnerung an das wichtige Menschenrechtsengagement des Literaturnobelpreisträgers erinnert die GfbV an gemeinsame Aktionen mit Günter Grass:

Als im Juni 1968 täglich 10.000 Kinder in der eingeschlossenen Biafra-Enklave in Ostnigeria verhungerten, gründeten die beiden Hamburger Studenten Tilman Zülch und Klaus Guercke die "Aktion Biafra-Hilfe". Daraus entstand die internationale Menschenrechtsorganisation Gesellschaft für bedrohte Völker. Zur selben Zeit baten ihre Gründer die "Spitze" der Studentenbewegung um Unterstützung. Doch diese lehnte ab, sprach von einem Nebenwiderspruch. Denn die UdSSR und das Labour-regierte Großbritannien hatten sich politisch und militärisch für Nigerias Völkermord an den Ibos aus Biafra engagiert.

Günter Grass, von der Biafra-Hilfe um Unterstützung gebeten, handelte sofort. Er sprach anlässlich der großen Biafra-Demonstration vor dem Damm-Tor-Bahnhof in Hamburg, führte den Zug der Demonstranten an. "Als Deutsche sollten wir wissen, was wir sagen, wenn wir das Wort Völkermord aussprechen, ... denn Schweigen wird zur Mitschuld", sagte Grass schon an jenem 4. Oktober 1968 zu den versammelten Demonstranten. Seine Rede, erschienen wenige Tage später in der "Zeit", bewegte viele Menschen zum Handeln.

Grass hat immer wieder seine Stimme für Menschenrechte, für Verfolgte und für Minderheiten erhoben. Darüber zu berichten würde Bände füllen. Und er hat im Laufe der Jahre, auch den Weg der Gesellschaft für bedrohte Völker als Freund begleitet und immer wieder ihre Menschenrechtsinitiativen gefördert.

Als Zehntausende dem russischen Völkermord in Tschetschenien zum Opfer fielen und wir in 72 Städten auf der Straße standen, sprach er zu uns bei der zentralen Mahnwache in der Göttinger Fußgängerzone. Wir konnten die beiden bedeutendsten tschetschenischen Menschenrechtlerinnen, Frau Lipkan Basajewa und Frau Zainap Gaschajewa, für jeweils ein Jahr in deutschem Exil unterbringen. In den Jahren, als auch Günter Grass immer wieder sehr deutlich seine Stimme gegen die Deportation politischer Flüchtlinge aus Deutschland erhob, haben wir zahlreiche Abschiebungen von Tschetschenen verhindert. Unvergessen ist außerdem nicht nur bei uns sein leidenschaftlicher Appell an die russische Regierung und an die internationale Öffentlichkeit auf dem Welt-Kongress des internationalen P.E.N.-Clubs in Moskau im Mai 2000, den Genozid an den Tschetschenen zu beenden.

Nicht weniger deutlich war seine Verurteilung der "staatlichen Willkür und des Rassenwahns" in der Türkei, gerichtet gegen das Volk der Kurden, als er 1997 die Laudatio für seinen Freund und Kollegen, den Schriftsteller Yasar Kemal anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hielt.

Großartig war auch das Engagement des Dichters für die Sinti und Roma. Erst 1979 wurde dieser Holocaust an der Volksgruppe dank der Arbeit der Gesellschaft für bedrohte Völker, unterstützt von Simon Wiesenthal, bekannt. Bundespräsident und Bundeskanzler entschuldigten sich Anfang der 80er Jahre. Grass initiierte den Pankok-Preis, benannt nach seinem Lehrer Otto Pankok, der sich im Dritten Reich für die Sinti eingesetzt hatte. Wir arbeiteten in der Jury mit. Unvergesslich ist uns die Preisverleihung an unseren Freund, den Roma Dr. med. Hassani aus dem Kosovo, im Lübecker Rathaus in Anwesenheit des Bundespräsidenten Johannes Rau.

Günter Grass hat sein Engagement immer wieder auch als Konsequenz deutscher Vergangenheit verstanden. Er hat immer wieder an die Nazi-Verbrechen am polnischen Volk erinnert. Als Danziger konnte er auch die Flucht und Vertreibung der alten Einwohnerschaft der Stadt bezeugen. Seine Heimatstadt wird heute von einer anderen Bevölkerung bewohnt. Sie hat Günter Grass mit der Ehrenbürgerschaft ausgezeichnet.

Vertreibung, Vernichtung von ethnischen und religiösen Gemeinschaften, die Einrichtung von Konzentrations- und Arbeitslagern sind immer und überall ein Verbrechen. Auch die viel hundertjährige Geschichte der deutschsprachigen Danziger ist Teil der deutschen und europäischen und somit auch der polnischen Vergangenheit. Das Eintreten für universelle Maßstäbe verbindet uns mit Günter Grass.

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Quelle:
Presseerklärung Göttingen, den 13. April 2015
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen
Telefon: 0551/499 06-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. April 2015

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