Schattenblick →INFOPOOL →BÜRGER/GESELLSCHAFT → BEDROHTE VÖLKER

MELDUNG/015: Innenministerkonferenz - "Göttinger Erklärung" gegen Abschiebung von Roma übergeben


Presseerklärung vom 27. Mai 2010

Innenministerkonferenz in Hamburg (27./28. Mai 2010)

Gesellschaft für bedrohte Völker übergibt Innenministern Göttinger Erklärung:
Keine Abschiebungen von Roma in den Kosovo!


Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) wird der Innenministerkonferenz in Hamburg am heutigen Donnerstag eine von Trägern des Göttinger Friedenspreises unterzeichnete Erklärung gegen die Abschiebung von Roma aus dem Kosovo überreichen. In dieser Göttinger Erklärung fordern die Preisträger, dass den rund 10.500 langjährig in Deutschland geduldeten Roma-Flüchtlingen und ihren hier geborenen und aufgewachsenen Kindern ein dauerhaftes Bleiberecht gewährt wird. Die Lage der Roma im Kosovo sei erschreckend, eine Rückkehr in Sicherheit und Würde nicht möglich.

"Deutschland steht gegenüber der Roma-Minderheit aus dem Kosovo in doppelter Pflicht", heißt es in der Erklärung. "Zum einen wurden hunderttausende Sinti und Roma Opfer des Holocausts. Zum anderen haben auch deutsche Nato-Truppen nach dem Sieg über Serbien im Sommer 1999 die Vertreibung der Roma durch albanische Extremisten hingenommen. Diese Flüchtlinge sind uns jetzt anvertraut. Wir dürfen sie nicht aus dem Land jagen."

Der Göttinger Friedenspreis der Stiftung Dr. Roland Röhl wird seit 1999 jährlich an Initiativen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vergeben. Bei der Preisverleihung 2010 an PRO ASYL e.V. wurde eine gemeinsame Stellungnahme ehemaliger Preisträger zur aktuellen Lage der Roma in Deutschland angeregt. Die GfbV (mit dem Friedenspreis 2003 ausgezeichnet) hat daraufhin die entsprechende Göttinger Erklärung vorbereitet.


*


Der Präsident der GfbV International, Tilman Zülch, übergibt den Innenministern die Göttinger Erklärung in Hamburg am 27.5.2010 um 14. 30 Uhr im Hotel Grand Elysee. Zuvor nimmt er an einer Pressekonferenz des Flüchtlingsrates Niedersachsen um 10 Uhr im Neuen Rathaus in Hannover teil. Die Pressekonferenz soll auf die gnadenlose Praxis der deutschen Ausländerbehörden gegenüber Roma aus dem Kosovo, aber auch auf die katastrophale Lage dieser Minderheit im Kosovo aufmerksam machen.

Im Wortlaut:

GÖTTINGER ERKLÄRUNG

In der Tradition der Göttinger Sieben und der Göttinger Achtzehn

appellieren die Träger des Göttinger Friedenspreises und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Deutschland an den Deutschen Bundestag und die deutsche Bundesregierung, die rund 10.500 Roma-Flüchtlinge aus dem Kosovo nicht abzuschieben und ihnen ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland zu gewähren.

Im Kosovo waren deutsche Truppen im Frühjahr 1999 zum ersten Mal seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland an einer kriegerischen Auseinandersetzung beteiligt: an den Nato-Luftangriffen auf militärische Ziele in Restjugoslawien. Im Juni des gleichen Jahres wurde der Kosovo von NATO-Truppen besetzt und eine Million albanische Vertriebene und Flüchtlinge konnten in ihre Heimat zurückkehren.

Die Mitglieder einer Fact-Finding-Mission der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) wurden dort dann Zeuge, wie viele der bis dahin verfolgten Albaner selber zu Tätern wurden und sich gegen die farbigen Minderheiten der Roma und Aschkali wandten. Über 70 ihrer 75 Stadtteile und Dörfer wurden von albanischen Extremisten zerstört oder niedergebrannt. Roma und Aschkali wurden misshandelt, gefoltert, entführt, vergewaltigt oder gar ermordet. Ungezählte Flüchtlinge ertranken in der Adria.

Seit 1999 sind aus dem Kosovo vier Fünftel der ehemals rund 150.000 Roma und Aschkali geflüchtet oder wurden vertrieben. Tausende Angehörige dieser beiden ethnischen Gemeinschaften hatten schon Anfang der 1990-er Jahre vor der Repression der Milosevic-Truppen die Flucht ergriffen. Seither leben etwa 30.000 Roma aus dem Kosovo in Deutschland als Flüchtlinge. Rund 10.500 von ihnen droht die Zwangsabschiebung, obwohl ihre Kinder hier geboren oder bei uns aufgewachsen sind.

Diese Flüchtlingskinder sprechen Deutsch als Muttersprache, oft mit regionalem Akzent. Für ihre Integration haben sich Lehrer, Sozialarbeiter, Geistliche, christliche Gemeinden, Flüchtlingsräte, Menschenrechtler sowie viele andere Bürger engagiert und für ihre Eingliederung materiell und ideell unendlich viel geleistet.

Deutschland steht gegenüber der Roma-Minderheit aus dem Kosovo in doppelter Pflicht. Zum einen wurden hunderttausende Sinti und Roma Opfer des Holocausts. Zum anderen haben auch deutsche NATO-Truppen nach dem Sieg über Serbien im Sommer 1999 die Vertreibung der Roma durch albanische Extremisten hingenommen. Diese Flüchtlinge sind uns jetzt anvertraut. Wir dürfen sie nicht aus dem Lande jagen.

Deutsche Gesetze haben den Betroffenen nicht einmal eine mittelfristige Lebensplanung zugestanden. Sie erhielten weder Arbeit noch durften ihre Kinder einen Ausbildungsplatz antreten. Es war ihnen untersagt, ihren jeweiligen Landkreis zu verlassen. Die erzwungene Untätigkeit - oft über viele Jahre - trieb viele in Depression und Hoffnungslosigkeit. So ist ein Teufelskreis entstanden. Von den neuen Bleiberechtsregelungen können nur wenige profitieren.

Entgegen den Lageberichten des Auswärtigen Amtes ist die Situation der Roma-Minderheit im Kosovo laut Menschenrechtsorganisationen, aber auch nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, des Europarats und der OSZE erschreckend: Menschenrechtsverletzungen an Roma sind häufig, werden aber nicht angezeigt. Fast alle Roma sind arbeitslos. Gesetzlich vorgeschriebene Beschäftigungsquoten für Minderheitenangehörige werden missachtet. Die Ernährung der meisten Roma-Kinder ist völlig unzureichend. Für schulische Bildung wird nicht ausreichend gesorgt. Eine angemessene medizinische Versorgung ist auch für Rückkehrer unerschwinglich. Alte und Schwerkranke befinden sich in einer hoffnungslosen Situation.

Angesichts dieser unerträglichen Situation und eingedenk der Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma durch das NS-Regime fordern wir die Bundesregierung und die Bundesländer auf, eine Kontingentlösung für die rund 10.500 Roma-Flüchtlinge aus dem Kosovo durchzusetzen und so ein Zeichen des guten Willens für diese existenziell bedrohte Minderheit zu setzen. In diesem Zusammenhang erinnern wir an vorbildliche Lösungen für andere Gemeinschaften wie die 200.000 Juden und die zwei Millionen Russlanddeutschen aus den GUS-Staaten.

Wir wenden uns entschieden gegen eine Zwangsabschiebung der Roma aus dem Kosovo in der Hoffnung, dass die Solidarität der Bürger Göttingens, einer der Tradition des Humanismus verpflichteten Stadt, auf andere Städte und Kommunen überspringt, in denen Roma-Flüchtlinge aus dem Kosovo leben. So wollen wir dazu beitragen, dass diese Menschen in Deutschland bleiben dürfen.

Göttingen, den 27. Mai 2010

Für die Gesellschaft für bedrohte Völker:
Tilman Zülch

Für das Komitee zur Verleihung des Göttinger Friedenspreises der Dr. Roland Röhl Stiftung:
Prof. Dr. Jürgen Schneider

Unterzeichnende Preisträger des Göttinger Friedenspreises:

1999 Prof. Dr. Dieter Senghaas
2000 Prof. Dr. Franz Fujara, Prof. Dr. Dirk Ipsen, Dr. Giorgio Franceschini, Prof. Dr. Wolfgang Bender von der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit der Technischen Universität Darmstadt (IANUS)
2001 Dr. Elisabeth Niemann
2003 Tilman Zülch für die Gesellschaft für bedrohte Völker
2004 Abt Benedikt Lindemann
2005 Forum Ziviler Friedensdienst
2006 Internationale Gärten Göttingen e.V. - Stiftung Interkultur
2007 Bürgerinitiative FREIe HEIDe
2009 Andreas Zumach
2010 PRO ASYL

*


Quelle:
Presseerklärung Hamburg/Göttingen, den 27. Mai 2010
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen,
Tel.: 0551/49906-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2010