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MITTELAMERIKA/095: Mexiko - Die Ruhe nach dem Sturm (ai journal)


amnesty journal 5/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Die Ruhe nach dem Sturm

von Wolf-Dieter Vogel


Wegen ihrer miserablen Arbeitsbedingungen hatten sich im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca Pädagogen gegen den Provinz-Gouverneur aufgelehnt. Ihr Streik ist beendet, doch der Tod von mindestens 20 Aktivisten bleibt ungeklärt.


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Eine schrill läutende Glocke bringt die Erlösung. Große Pause! Einige kleine Jungen stürmen schreiend auf einen asphaltierten Platz, der durch ein paar aufgemalte weiße Streifen mit Mühe als Basketballfeld zu erkennen ist. Die Mädchen spielen Fangen auf der anderen Seite des Hofs. Zurück bleiben sechs leere Klassenzimmer, die nicht nur wegen der bratenden Hitze des mexikanischen Südens kaum zum Lernen einladen: provisorisch auf Steine gestützte Holzbretter dienen als Regale, in der Ecke lagern alte Zeitungen und kaputte Plastikpuppen, nach Kreide für die Wandtafel sucht man vergeblich. "Hier fehlt es an allem", sagt die Lehrerin Martha Garcia. "Oft können sich die Schüler nicht konzentrieren oder schlafen ein, weil sie unterernährt sind." Und das in der Gemeinde Magdalena Ocotlán, die nur 40 Autominuten von der Landeshauptstadt entfernt liegt, ergänzt die junge Frau kopfschüttelnd. "Wie geht es erst in all den Dörfern zu, die eine Tagesreise von der nächsten Straße trennt?"

Die Lehrer des Tausend-Seelen-Dorfes Magdalena Ocotlán hatten große Hoffnungen, als sie sich im vergangenen Jahr dem Streik ihrer Gewerkschaft im Bundesstaat Oaxaca anschlossen. "Ein warmes Essen für die Kinder, vernünftiges Lehrmaterial und Schuluniformen, das ist doch das Mindeste", wirft einer von Garcias Kollegen ein. Seinen Namen will der Mittvierziger nicht nennen. "Alle Medien berichten falsch und hetzen die Leute gegen uns auf." Dann spricht er mit aufgeregter Stimme von den Morden, der Folter, der Verfolgung, der die Lehrer und ihre Mitstreiter ausgesetzt seien. Er schaut aus dem Fenster und zeigt mit leicht zitternden Händen auf den notdürftig gepflasterten Weg, an dem das Schulgebäude liegt. "Da oben standen die Polizisten und die Schlägertrupps des Gouverneurs."

Begonnen hatte alles mit einem Ritual. Wie jedes Jahr war der Landesverband der Lehrergewerkschaft "SNTE" im Mai 2006 in den Streik getreten, um für höhere Löhne und bessere Bedingungen für die Schüler zu kämpfen. Doch dann kam der Tag, der alles änderte. Am 14. Juni gingen 3.000 Polizeibeamte brutal gegen die Pädagogen vor, die sich im Zentrum der Landeshauptstadt Oaxaca niedergelassen hatten. "Das ganze Viertel lag im Tränengasnebel", erinnert sich die Gewerkschafterin Dalila López. Selbst auf die Kinder hätten die Polizisten eingeprügelt. "Viele, die vorher nicht mit dem Streik einverstanden waren, stellten sich danach auf unsere Seite", sagt López.

Menschen aus dem gesamten Bundesstaat schlossen sich den Lehrern an: Indigenas, Arbeiter, Hausfrauen, Studenten, Linke. Gemeinsam legten sie ein halbes Jahr lang die alte Zapotekenstadt lahm, besetzten Radiostationen und blockierten Regierungsgebäude. Ihre Forderung: Weg mit dem repressiven Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz von der Partei der Institutionellen Revolution (PRI). Immer wieder gab es Straßenkämpfe zwischen der Polizei und den in der "Versammlung der Bevölkerung Oaxacas" (APPO) organisierten Aktivisten. Hunderte mutmaßliche APPO-Mitglieder wurden verhaftet. Ein Teil von ihnen kam nach Zahlung einer Kaution frei, über 50 sind weiterhin im Gefängnis.

Auch Felipe Sánchez Rodriguez saß bis Anfang März hinter Gittern. Der 44-Jährige soll an der Zerstörung von öffentlichen und privaten Gebäuden beteiligt gewesen sein. "Das ist eine Lüge", erregt sich der kleine, stämmige Mann. "Nach einer Demonstration haben mich Zivilbeamte einfach auf der Straße aufgegriffen, gefesselt und auf die Ladefläche eines Pick-Ups geworfen." Mit gewalttätigen Aktionen habe er nichts zu tun, sagt der Erzieher. Gerade weil er davon träume, dass die Jungen und Mädchen der Armenviertel von Oaxaca-City ohne Gewalt aufwachsen, habe er dort einen Kinderhort aufgebaut. "Im Knast wird man sensibel", meint Sánchez und spricht von den morgendlichen Blicken auf die Berge der Sierra Madre del Sur, die sich hinter Metallgittern, Stacheldrahtrollen und einer sechs Meter hohen Betonwand erhoben. Doch dann brechen wieder die Erinnerungen an die ersten Tage der Gefangenschaft durch: Der Transport mit verbundenen Augen, die Vergewaltigungsdrohungen und das Verhör unter den stechenden Schlägen der Elektroschocks. "Ich schrie, ich weinte und flehte sie an, das nicht mehr zu machen." Doch die Männer, die ihre Gesichter hinter Sturmhauben verbargen, habe das nicht interessiert. "Wer sind eure Anführer? Wie viel hat man euch bezahlt?", fragten sie immer wieder. Sánchez befürchtete das Schlimmste: "Ich dachte, sie würden uns erschießen."

Die Angst war berechtigt. Mindestens 20 Personen wurden während des Konflikts ermordet, die meisten durch der PRI nahe stehende paramilitärische Gruppen. "Bewaffnete Männer schossen aus Fahrzeugen auf APPO-Aktivisten, die an den Barrikaden standen", erklärte Iñaki Garcia von der "Internationalen Zivilen Kommission zur Beobachtung der Menschenrechte" (CCIODH), die mehrere Wochen lang die Situation in dem Bundesstaat beobachtete. Yessica Sánchez Maya von der Menschenrechtsorganisation "Limeddh" aus Oaxaca-City erhebt schwere Vorwürfe gegen die Polizei. "Immer wieder haben die Beamten damit gedroht, die Gefangenen aus dem Hubschrauber zu werfen", berichtet sie. Neben dieser psychologischen Form der Folter gebe es zahlreiche Hinweise dafür, dass mutmaßliche Aktivisten der APPO körperlich misshandelt oder vergewaltigt worden seien. Weil zu befürchten war, dass Sánchez und andere Gefangene wieder misshandelt oder gefoltert werden könnten, startete amnesty international eine Eilaktion. Nicht zuletzt diese Aktion sorgte dafür, dass der Kinderpfleger wieder auf freiem Fuß ist.

Gerechtigkeit? Martha Garcia fällt es schwer, unter der Herrschaft des PRI-Gouverneurs Ruiz an gerechte Verhältnisse zu glauben. Nicht nur wegen der elenden Verhältnisse, unter denen ihre Schüler in Magdalena Ocotlán leiden. Ruiz steht wie kein anderer für das korrupte und repressive Regime, mit dem sich die PRI in Oaxaca seit bald 80 Jahren an der Macht hält. "Rechtsstaatliche Prinzipien und grundlegende Menschenrechte werden unter der gegenwärtigen Regierung des Bundesstaates Oaxaca immer weniger respektiert", resümierte ai bereits im Jahr 2005.

Das bekommt die junge Lehrerin zu spüren. Mit Freunden hat Garcia in der nahe Magdalena Ocotlán gelegenen indigenen Gemeinde San Antonino das freie "Radio Calenda" aufgebaut. Eine 20 Meter hohe Antenne auf einem abbruchreifen Haus verweist auf den kleinen Sender. In einem Raum, dessen Wände zur Schalldämmung mit Eierkartons beklebt sind, gehen die alternativen Radiomacher auf Sendung. Hier kommen die Unzufriedenen zu Wort, und viele sprechen sich gegen ihren PRI-Bürgermeister aus. "Der Mann hinterzieht Haushaltsgelder und vergibt alle Posten an Angehörige", erklärt Garcias Mann Santiago Ambroso. "Seine Anhänger bleiben ihm treu, weil er ihnen Nahrungsmittel, feste Böden für die Häuser und Wasserpumpen besorgt." Deshalb habe man auf einer Dorfversammlung einen neuen Bürgermeister gewählt - kein ungewöhnliches Vorgehen, da in San Antonino wie in 80 Prozent der Gemeinden Oaxacas nach indigenen "gewohnheitsrechtlichen Praktiken" regiert wird.

Doch seither sind die Oppositionellen regelmäßig Attacken ausgesetzt. "Am 25. Januar haben sie uns während einer Versammlung vor dem Rathaus mit Prügeln, Steinen und Schusswaffen angegriffen", berichtet Ambroso. Noch Wochen später kann er sich nur mit einer Sonnenbrille aus dem Haus bewegen, denn bei dem Angriff hätte er beinahe ein Auge verloren. Vor allem eine Beobachtung ist ihm von dieser Nacht in Erinnerung geblieben: Die örtlichen PRI-Schläger wurden von Polizisten unterstützt, die aus Oaxaca-City angekarrt wurden. "Die hat Ulises Ruiz geschickt", weiß Santiago. "Es ist diese Gewalt, diese ständige Ungerechtigkeit, die dem Aufstand der APPO zugrunde liegt", wirft ein Mitstreiter ein. "Und natürlich die Armut und der Hunger."

In Magdalena Ocotlán warten die Schüler weiterhin darauf, dass ihnen wenigstens ein warmes Essen am Tag finanziert wird. "Praktisch keine der Zusagen, die uns die Regierung im Oktober gegeben hat, wurde bisher erfüllt", erklärt Gewerkschaftssprecher Daniel Rosas. Dabei waren die Lehrer nach diesen Vereinbarungen in die Klassenzimmer zurückgekehrt und haben damit wesentlich dazu beigetragen, dass der Aufstand befriedet wurde. "Unsere Leute werden weiterhin verfolgt", sagt Rosas und verweist auf zahlreiche Angriffe wie etwa den in San Antonino. Die Internationale Kommission CCIODH wies indes darauf hin, dass keiner der Morde an den Aktivisten strafrechtlich verurteilt wurde. Von der Regierung fordern die Menschenrechtler, endlich die Probleme anzugehen, die dem Konflikt zugrunde liegen: die Armut, die ungerechten Machtverhältnisse, die mangelhafte Ausstattung im Bildungs- und Gesundheitswesen. "Wenn nicht bald etwas passiert", sagt Lehrerin Garcia, "geht alles wieder von vorne los."

Der Autor ist Journalist und lebt in Mexico-City.


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Quelle:
amnesty journal, Mai 2007, S. 22
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2007