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GRUNDSÄTZLICHES/306: Aufklärung aus dem Orbit (ai journal)


amnesty journal 10/11/2012 - Das Magazin für die Menschenrechte

Aufklärung aus dem Orbit

Von Christoph Köttl



Wer ist für ein Massaker verantwortlich? Wie viele Menschen wurden vertrieben? Auf Fragen wie diese können Satellitenbilder eine Antwort liefern. Manchmal sind sie die einzige Möglichkeit, um Menschenrechtsverletzungen auf die Spur zu kommen.


Ein Berg aus Schutt und Steinen - mehr ist von ihrem Zuhause nicht geblieben. Zehntausende Menschen wurden zwischen 2008 und 2009 in der tschadischen Hauptstadt N'Djamena Opfer einer groß angelegten Zwangsräumung. Bis heute haben viele von ihnen keine Entschädigung erhalten. Die örtlichen Behörden genehmigten die Zerstörung der Gebäude, weil sie offenbar "illegal" errichtet worden waren. Offiziellen Angaben zufolge wurden 1.798 Häuser abgerissen. Tatsächlich war das Ausmaß der Zerstörung jedoch weit größer: Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen stellten fest, dass 3.700 Häuser dem Erdboden gleichgemacht wurden, also mehr als doppelt so viele wie offiziell angegeben.

Doch weshalb konnten sich die Organisationen so sicher sein? Die Antwort kam von oben: Kommerzielle Satelliten lieferten Bilder, mit denen die betroffenen Gebiete von N'Djamena systematisch erfasst werden konnten. Sie lieferten einen Überblick über die immense Zerstörung und die menschliche Tragödie, die durch das Vorgehen der Behörden verursacht wurde. Mithilfe traditioneller Recherche und Interviews vor Ort wäre die Untersuchung eines so großen Stadtgebietes nicht zu realisieren gewesen. Die Ergebnisse wurden zusammen mit Informationen, die Amnesty-Mitarbeiter vor Ort im gleichen Zeitraum gesammelt hatten, Mitte 2009 veröffentlicht.

Das Beispiel zeigt, wie Menschenrechtsorganisationen Satellitenbilder zu Dokumentationszwecken nutzen können. Amnesty International verwendet solche Aufnahmen seit 2004 regelmäßig. Die Organisation greift unter anderem darauf zurück, wenn Regierungen Amnesty- Mitarbeitern den Zugang zum Land verweigern. So dokumentierten Satellitenbilder 2011 die Dimensionen des nordkoreanischen Straflagers "Yodok", wo schätzungsweise 200.000 Menschen unter unwürdigen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten müssen. Vergleiche mit früheren Bildern zeigten, dass die riesige Gefängnisanlage seit 2001 noch einmal deutlich vergrößert wurde.

Satellitenbilder helfen auch, wenn die Gefahr zu groß ist, vor Ort zu recherchieren. Im August 2012 dokumentierte Amnesty International Angriffe gegen Zivilisten in den syrischen Städten Homs und Aleppo. Die Bilder zeigten Hunderte Einschläge in unmittelbarer Nähe von Wohnhäusern - vermutlich verursacht durch Granaten. Die Syrien- Kommission der Vereinten Nationen verwendete ebenfalls Satellitenbilder, um das Massaker in der syrischen Stadt Houla zu rekonstruieren. Die Kommission stellte fest, dass Regierungstruppen die Gegend um den Tatort während des Vorfalls unter ihrer Kontrolle hatten. Somit erschien es unwahrscheinlich, dass Rebellen für das Massaker verantwortlich waren, wie die syrische Regierung stets behauptete.

Ob Massengräber oder Vertreibung, Flüchtlingsströme oder die Zerstörung von Häusern und Städten: Zahlreiche Menschenrechtsverletzungen können mit Satellitenbildern beobachtet werden. Im Herbst 2011 dokumentierte Amnesty International zum ersten Mal die Ölverschmutzung im Niger-Delta. Die Bilder zeigen deutlich, wie Öl aus einer defekten Pipeline des Ölriesen Shell die Umwelt und damit die Lebensgrundlage der lokalen Bevölkerung zerstört hat. Zuvor waren bereits Satellitenbilder verwendet worden, um die schädliche Gasverbrennung, ein Nebenprodukt der Ölförderung, zu lokalisieren und ihre geringe Entfernung zu bevölkerten Siedlungen aufzuzeigen.

Die Bilder werden von privaten Anbietern gekauft. Die hohe Auflösung macht ihre Nutzung auch für humanitäre Zwecke interessant. Bei der Auswahl spielt die Qualität und auch das Wetter eine Rolle - ein bewölkter Himmel kann die Beweiskraft deutlich schwächen. Um die Bilder auswerten zu können, arbeitet Amnesty International mit Wissenschaftlern zusammen, zum Beispiel von der "American Association for the Advancement of Science" (AAAS). Je nach Fragestellungen suchen deren Analysten nach relevanten Veränderungen. Üblicherweise wird dann ein Vorher- und ein Nachher-Bild erstellt.

Satellitenbilder geben Menschenrechtsaktivisten ein zusätzliches Hilfsmittel in die Hand, um Verbrechen, die im Verborgenen passieren, ans Licht zu bringen. Der dadurch erzeugte öffentliche Druck zwingt Regierungen dazu, Stellung zu nehmen. Deshalb finden sich diese Bilder auch in den Amnesty-Berichten wieder und werden bei Kampagnen und in der Pressearbeit verwendet. In Sri Lanka waren sie äußerst nützlich, um der Forderung nach einer internationalen Untersuchung des Bürgerkriegs Nachdruck zu verleihen. Die Regierung in Sri Lanka verweigerte nicht nur Amnesty International sondern auch anderen internationalen Beobachtern den Zugang zum Kriegsgebiet. Jegliches Fehlverhalten seitens des Militärs wurde geleugnet. Satellitenbilder zeigten jedoch Massengräber im Nordosten des Landes und lieferten damit weitere Argumente für eine unabhängige Untersuchung der gewalttätigen Auseinandersetzungen.


Der Autor arbeitet als Krisenbeauftrager bei Amnesty International in den USA. Er koordiniert unter anderem die Verwendung und Auswertung von Satelliten bildern.

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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2012, S. 36-37
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2012