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GRUNDSÄTZLICHES/295: Amnesty International wird 50 Jahre alt - Eine Bilanz (ai journal)


amnesty journal 01/2011 - Das Magazin für die Menschenrechte

Ohne Furcht und Not
Amnesty International wird 50 Jahre alt.

Eine Bilanz von Stefan Keßler


Im Mai 2011 werden es fünfzig Jahre sein, seit der englische Rechtsanwalt Peter Benenson seinen berühmten "Appeal tor Amnesty" in der Wochenzeitung "The Observer" veröffentlichte. Der Artikel gilt als "Gründungsdokument" der Menschenrechtsorganisation. In den fünf Jahrzehnten, die seither vergangen sind, hat sich vieles auf der Welt gewandelt - auch Amnesty International. Einst eine "Gefangenenhilfsorganisation" hat es sich die Organisation inzwischen zur Aufgabe gemacht, im Rahmen ihrer Arbeit für die Verwirklichung aller Menschenrechte einzutreten und schwerwiegende Verletzungen der Rechte auf körperliche und geistige Unversehrtheit, auf Meinungsfreiheit sowie des Rechts auf Freiheit von Diskriminierung zu bekämpfen.

Auch die Herausforderungen, denen Amnesty gegenübersteht, haben sich gewandelt: Die Methoden, echte oder vermeintliche Oppositionelle zu unterdrücken, sind perfider geworden. Zur Langzeitinhaftierung von Regimegegnern hat sich das Aushungern "oppositioneller" Dörfer gesellt, wie zum Beispiel in Darfur. Der "Krieg gegen den Terror" dient seit dem 11. September 2001 vermehrt als Feigenblatt für schwerste Menschenrechtsverletzungen. In Europa, auch in Deutschland, werden als "anders" empfundene Menschen zunehmend ausgegrenzt, so zum Beispiel Roma oder Muslime. Wer für bestimmte Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist, kann bei Auslandseinsätzen von Militär und Polizei oder bei Grenzschutzmaßnahmen noch immer schlecht festgestellt werden. In vielen Fällen sind inzwischen nicht Staaten, sondern lokale "Warlords" oder Konzerne direkt oder indirekt für schwerste Menschen rechtsverletzungen verantwortlich. Das gilt besonders in jenen Ländern, in denen keine zentrale Staatsgewalt existiert.

50 Jahre Menschenrechtsarbeit sind keine reine Erfolgsgeschichte. Doch gibt es durchaus Erfolge: Ohne den Druck von Amnesty International und anderen Organisationen wäre der Internationale Strafgerichtshof zur Verfolgung schwerster Menschenrechtsverletzungen noch immer nicht eingerichtet worden. Auch das System völkerrechtlicher Normen zum Schutz der Grundrechte ist mittlerweile viel ausgefeilter als in den sechziger Jahren. Regierungen und Machthaber müssen sich heute wesentlich stärker als früher kritische Fragen gefallen lassen, ob sie ihren Pflichten nachgekommen sind, nämlich die Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu fördern. Auch bei Auslandseinsätzen von Militär und Polizei oder bei Grenzschutzoperationen stellt die kritische Öffentlichkeit inzwischen die Frage nach dem Menschenrechtsschutz. Nicht zuletzt der Friedensnobelpreis für den chinesischen Bürgerrechtler Liu Xiaobo 2010 und die beleidigte Reaktion der chinesischen Staatsführung darauf zeigt, welche Brisanz die Verteidigung der Menschenrechte noch immer hat. Daneben gibt es die vielen kleinen Fortschritte, die beweisen, dass sich das beharrliche Bemühen lohnt: Der Brief eines Inhaftierten, der zeigt, dass der Mensch, für den man sich einsetzt, noch lebt. Die Meldung von einer Freilassung. Die erfolgreiche Veranstaltung, mit der man die Menschenrechtsidee wieder etwas bekannter machen konnte.

Manches hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch nicht geändert. So stehen für Amnesty International nach wie vor vier Prinzipien im Vordergrund: Menschenrechte werden nicht "gewährt" - jeder Mensch genießt sie, weil er Mensch ist, ohne weitere Bedingungen. Menschenrechte sind unteilbar: Politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Rechte können nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sind eng miteinander verflochten und bedingen einander. Menschenrechte sind die gemeinsame Antwort auf die universelle Erfahrung von Unrecht. Es gibt keine "christlichen" oder "islamischen" Menschenrechte, keine für Bürger der Industriestaaten oder solche für Bürger von "Schwellen"- oder "Entwicklungsländern". Jeder Mensch hat überall auf der Welt Anspruch auf Achtung, Schutz und Gewährleistung aller Menschenrechte. Und schließlich: Menschenrechte sind unverfügbar. Kein Mensch kann, durch welche Handlung auch immer, seine Menschenrechte verlieren. Sie mögen durch die Menschenrechte anderer beschränkt sein, dürfen im Kerngehalt jedoch nicht angetastet werden.

Der Schutz der Menschenrechte ist abhängig vom welt-bürgerschaftlichen Engagement. Nur wenn sich viele Menschen sowohl für die eigenen wie für die Rechte anderer einsetzen, kann Menschenrechtsschutz gewährleistet werden. Dabei sind Menschenrechte nicht nur ein Thema für die Außenpolitik, sondern auch und gerade für die Politik im eigenen Land. Sie sind keine Angelegenheit, die man den Spezialisten überlassen darf, sondern das Sich-Einmischen ist ureigenstes Recht, aber auch ureigenste Aufgabe eines jeden von uns.

Die Vielfalt der Menschen, die bereit sind, sich bei Amnesty International für die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte anderer einzusetzen, ist erstaunlich. Die junge Schülerin, die bei Amnesty ihre ersten politischen Erfahrungen macht, steht auf Mahnwachen neben dem in zahllosen Debatten ergrauten Hochschullehrer. Rentner engagieren sich ebenso wie im Berufsleben stehende EDV-Fachleute. Da gibt es die Völkerrechtsspezialistin und den Journalisten, aber auch die Wasserbauingenieurin und den Historiker. Sie mögen sich durchaus darüber streiten, welcher Weg zur Verwirklichung der Menschenrechte führt. Aber sie alle eint das Ziel, das in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beschrieben wird: Eine Welt ohne Furcht und Not.


Der Autor ist Sprecher des Vorstands der deutschen Sektion von Amnesty International.


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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2010/Januar 2011, S. 79
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2011