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FRAGEN/012: "Ich schieße nicht, ich fotografiere" (ai journal)


amnesty journal 10/11/2012 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Ich schieße nicht, ich fotografiere"

Interview von Ralf Rebmann mit Anja Niedringhaus



Die deutsche Fotografin Anja Niedringhaus ist seit mehr als zwanzig Jahren in Kriegs- und Krisengebieten unterwegs. Ihre Fotos sind preisgekrönt und erscheinen in Tageszeitungen und Magazinen weltweit. Sie veröffentlicht sie jedoch nicht um jeden Preis. Der Respekt vor den Personen, die in ihrer Arbeit auftauchen, steht an erster Stelle.


Frage: In Syrien herrscht Bürgerkrieg. Haben Sie überlegt, hinzufahren und zu fotografieren?

Anja Niedringhaus: Ja, aber je länger ich darüber nachdenke, umso weniger interessiert bin ich, weil man vor Ort sehr schnell vor den falschen Karren gespannt wird. Ich bekomme kein offizielles Visum und bin damit illegal im Land. Dann müsste ich mich auf eine Gruppe konzentrieren, was in diesem Fall die Rebellen wären, die natürlich auch ihre eigene Agenda haben. Die andere Seite zu fotografieren, wäre interessanter, aber das geht nicht - auch weil ich für eine amerikanische Agentur arbeite. Außerdem finden in Syrien im Moment so heftige Kampfhandlungen statt, dass man sehr schnell in eine brenzlige Situation geraten kann. Sollte die Türkei beispielsweise die Grenzen schließen und ich müsste zurück, würde es schwierig. Die Entscheidung, ob ich einem Land bleibe oder nicht, will ich schon selbst treffen.

Frage: Trauen Sie den Fotos, die wir im Moment aus Syrien sehen?

Anja Niedringhaus: Die Fotos meiner Kollegen kenne ich und schätze sie. Die ersten Fotografen haben ihre Bilder zunächst ohne Namen veröffentlicht, weil die Situation so gefährlich ist. Es ist ein großer Sicherheitsaufwand in ein Krisengebiet zu fahren. Mit sogenannten "Citizen Journalists" habe ich aber ein Problem. Man nutzt das Material aus einer Art Hilflosigkeit heraus, weil man selbst nicht vor Ort sein kann. Doch nur weil man ein Smartphone hat, ist man noch lange kein Journalist. Diese Form der Berichterstattung hat ihre Berechtigung, aber wir sollten es nicht Journalismus nennen. Es gibt journalistische und ethische Standards, die man aus vielen Gründen einhalten sollte. Ich fühle mich immer wohler, wenn Kollegen vor Ort sind.

Frage: Was möchten Sie mit Ihrer Arbeit erreichen?

Anja Niedringhaus: Mich interessiert die humanitäre Situation. Ich fotografiere nicht dieses Bang-Bang. Wenn Zeitungen nur tote Körperteile zeigen, führt das zu einer Reaktion, die man nicht möchte. Man fühlt sich attackiert, blättert weiter und setzt sich dann nicht mehr mit dem Thema auseinander. Der Krieg hat viele Seiten, und man muss versuchen, den ganzen Kontext zu erzählen. Wie kann ich beispielsweise verständlich machen, dass in Afghanistan nicht nur wild gewordene Taliban herumlaufen? Das ist die Herausforderung. Man darf sich nicht von Erwartungshaltungen leiten lassen und ein Feindbild zeichnen, das aus westlicher Perspektive oft erwartet wird. Vor allem bei Afghanistan hat sich eine Art Müdigkeit eingestellt, obwohl dort noch Tausende Soldaten sind. Deswegen fahre ich regelmäßig hin, um immer wieder über die Situation zu informieren.

Frage: In Afghanistan oder im Irak haben Sie oft an sogenannten "Embeds" teilgenommen, also Soldaten bei Patrouillen begleitet. Wie muss man sich das vorstellen?

Anja Niedringhaus: Bei diesen Patrouillen bin ich zwar mit dem Militär unterwegs, aber meine Aufgabe ist es, zu dokumentieren und zu beobachten. Ich renne nicht mit den Soldaten in das Gebäude und stürme es. Es gibt ein Foto, das 2004 während einer Razzia in Abu Ghraib im Irak entstanden ist. Darauf sind auch Frauen und Kinder zu sehen, die eingeschüchtert wirken. Ich denke, dass sie in diesem Moment froh waren, mich zu sehen. Ich bin Zivilistin, eine Frau und Fotografin. Sollte etwas passieren, was nicht rechtens ist, würde ich es beobachten und dokumentieren. Dennoch gab es bei solchen Razzien auch unangenehme Szenen, wo nicht mehr angeklopft, sondern direkt die Tür eingetreten wurde. Damit habe ich ein Problem. Solche Vorfälle sorgen dafür, dass das Vertrauen verloren geht. Es hat auch sehr lange gebraucht, bis Soldaten verstanden haben, dass man in der Moschee die Schuhe auszieht. Und so was passiert immer noch, wenn man an die Koran-Verbrennung denkt.

Frage: Ein anderes Foto aus dem Jahr 2004 dokumentiert das Ende einer solchen Razzia. Zu sehen ist ein Gefangener mit einem Plastiksack über dem Kopf.

Anja Niedringhaus: Als dieses Foto entstand, war ich schon zwei Wochen mit der Truppe unterwegs. Die Razzia fand in der Zeit statt, als der Skandal im Gefängnis Abu Ghraib und die Foltervorwürfe publik wurden. Der verantwortliche General und das Pentagon waren bereits zurückgerudert und hatten auch dementiert, dass diese Sandsäcke weiterhin benutzt würden. Doch nun war ich vor Ort und sah, dass genau dies geschah. Ich habe mir mal so einen Sack übergestülpt - die sind so dicht, dass man kaum atmen kann. Ein Soldat sagte mir, dass dies jeden Tag gemacht würde und normal sei. Sie ließen mich das auch einfach so fotografieren. Nach der Veröffentlichung wurden die Fotos sehr schnell verbreitet, und das Pentagon hat umgehend davon erfahren. Dann gingen deren Alarmglocken an.

Frage: Wie haben die Behörden reagiert?

Anja Niedringhaus: Am gleichen Abend wurde ich quasi abgeführt und in die Zentrale der US-Marines gebracht. Dort sollte ich mich rechtfertigen. Ich habe dann gefragt: Was werft ihr mir vor? Ich habe genau das fotografiert, was ihr hier macht. Ich habe nichts verändert und nichts dazu getextet. Die Antwort war, dass diese Fotos im Moment etwas problematisch wären. Ich sollte dann aus dem "Embed" hinausgeworfen werden. Meine Agentur hat mich jedoch auf ganzer Linie unterstützt, und ich konnte schließlich weitermachen. Man ist ja als Fotograf im Krisengebiet nicht auf einer Werbetour.

Frage: Was gehen Sie selbst mit diesen extremen Erfahrungen um?

Anja Niedringhaus: Ich versuche, so zu bleiben wie am ersten Tag, als ich meinen Fuß in ein Kriegsgebiet gesetzt habe. Meine Familie und meine Freunde sind mir sehr wichtig. Außerdem mache ich nicht nur Kriegs- und Krisenfotografie, sondern auch Sportfotografie. Den Ausgleich brauche ich, um sagen zu können: Das, was hier passiert, ist nicht normal. Ich glaube, ich bin über die letzten zwanzig Jahre sogar noch wesentlich empfindlicher und sensibler geworden. Auch die Kamera hilft, um Distanz zum Geschehen zu gewinnen und mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Hätte ich nur Block und Stift, würde ich mich sehr viel angreifbarer fühlen. Ich habe sehr viel Achtung vor meinen schreibenden Kollegen, die das durchstehen müssen.

Frage: Ihre Karriere begann beim Göttinger Tageblatt. Als Sie 25 Jahre alt waren, wollten Sie dann unbedingt den Jugoslawienkrieg fotografieren. Wie kommt man auf so eine Idee?

Anja Niedringhaus: Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon eine ganze Weile für die Zeitung gearbeitet. Ich hatte mich für Journalismus entschieden, und die Kamera war mein Handwerkszeug. Es war ein Krieg mitten in Europa, mir war relativ schnell klar, dass ich dahin muss. So etwas hatte ich bis dahin nie gesehen, und ich wusste selbst nicht, ob ich das kann oder vor Ort hysterisch werde. Ich habe versucht, unseren Chefredakteur zu überzeugen. Irgendwann hatte er keine Argumente mehr, und ich bin nach Sarajevo geflogen.

Frage: Haben Sie sich den Krieg so vorgestellt?

Anja Niedringhaus: Der Flughafen war direkt an der Frontlinie und wurde beschossen. Es war sehr schwierig, nach Sarajevo hinein und wieder herauszukommen. Auch Scharfschützen waren überall. Es gab Tausende von Flüchtlingen. Ich habe eine Mutter gesehen, deren Kind in ihren Armen verhungert ist, aber sie dachte, es schläft. Wir Journalisten haben versucht, zu helfen und über die Armee Sprit zu besorgen, den es in Sarajevo selbst gar nicht mehr gab. Später habe ich gemerkt, dass ich die Verletzten gar nicht fotografiert habe. Das ist kein Bild wert, zumindest nicht für mich. Deshalb hasse ich auch den Ausdruck "Fotos schießen." Ich schieße nicht, ich fotografiere. Ohne Respekt für die Menschen, die ich fotografiere, könnte ich diesen Job nicht machen.

Frage: Steckt man Menschen nicht ein weiteres Mal in die Opferrolle, wenn ihr Bild in der Zeitung erscheint?

Anja Niedringhaus: Das hängt von der Art ab, wie man fotografiert. Ich hatte nie das Gefühl, dass ich den Personen etwas wegnehme. Oft merken sie auch, dass man nicht einfach nur ein Foto machen will und wieder geht. Ich spreche kein Arabisch, aber in vielen Fällen reicht der Augenkontakt. Oder wenn man mit dem Kopf nickt und signalisiert, ja oder nein. Ich bleibe dann an einem Ort und warte, bis ich vergessen werde und der normale Alltag weitergeht. Dazu braucht man allerdings Zeit und die sollte man investieren. Afghanen wollen sehr gern fotografiert werden - das war zumindest meine Erfahrung.

Frage: Wie gehen Sie mit Fotos um, bei denen die Personen ihr Einverständnis nicht geben können?

Anja Niedringhaus: Grundsätzlich gilt, dass jeder das Recht am eigenen Bild hat. In Afghanistan saß ich bei Rettungsflügen im Hubschrauber, als verwundete Soldaten aus Kampfsituationen geholt wurden. Man wird mit sehr harten Sachen konfrontiert, wenn zum Beispiel ein Soldat ohne Beine aus dem Feld getragen wird. Es war auch sehr gefährlich, wir wurden selbst beschossen. Es gibt diese vorgedruckten Zettel der Armee, eine Art Einverständniserklärung. Aber in dieser Situation kam ich mir sowieso schändlich vor, ich wollte nicht Paparazzi spielen. Ich habe dann teilweise mitgeholfen, Hände gehalten. Fotografieren war dann nebensächlich. Einige Soldaten konnte ich später kontaktieren und die Fotos dann auch nutzen. Aber ich finde die Vorstellung schrecklich, dass meine Fotos schneller veröffentlicht würden als die Armee die Hinterbliebenen informieren kann.

Frage: Einen dieser Soldaten haben Sie später in den USA besucht ...

Anja Niedringhaus: Bei diesem Soldaten war ich mir nicht sicher, ob er es schaffen würde. Er wurde durch einen Sprengkörper verletzt. Seine Notoperation in Afghanistan habe ich noch miterlebt, dann wurde er ausgeflogen. Später habe ich herausgefunden, dass er in einem Krankenhaus in Richmond, Virgina war. Er hatte drei Monate im Koma gelegen. Durch einen Schlaganfall war sein Sprachzentrum beeinträchtigt. Am Telefon sagte er nur: "Please come." Also flog ich hin, nicht als Fotografin, sondern als Zivilistin. Ich wollte wissen, wie es ihm geht. Er fragte nach Fotos und fiel mir dann in die Arme, als er sie gesehen hatte. Er sagte, ich hätte ihm etwas zurückgegeben. Da war dann plötzlich eine Verbindung zwischen uns, als würden wir uns schon seit zwanzig Jahren kennen.

Frage: Sind Sie bei Ihren Einsätzen selbst einmal verletzt worden?

Anja Niedringhaus: Ja, bei einer Patrouille mit einer kanadischen Einheit in Kandahar, im Süden Afghanistans. Wir waren in diesem Dorf und die Atmosphäre war wunderschön, ich habe mich wohlgefühlt. Es war der letzte Tag eines hohen Feiertags, des Eid-Festes. Als wir zu unserem Camp aufbrachen, waren da diese Hühner. Sie wurden durch uns aufgescheucht, und im gleichen Moment warf jemand Handgranaten über die Mauer. Es gab eine riesige Staubwolke und alle schrien. Die Mauer bestand glücklicherweise aus Lehm, in dem die Splitter verschwanden. Ich habe an der Hüfte geblutet, spürte aber nur wenig - vermutlich durch das Adrenalin. Es war ein unwahrscheinliches Glück, dass die Granate keinen Knochen beschädigt hat. Ich wurde nach Deutschland ausgeflogen und operiert. Zwei große Splitter hat man entfernt, vier kleine sind drin geblieben. Manchmal spüre ich sie noch, aber sie rauszuholen würde mehr kaputt machen als helfen. Ich denke, sie haben sich inzwischen mit meinem Körper angefreundet.

Frage: War das kein Anlass, mit der Kriegsfotografie aufzuhören?

Anja Niedringhaus: Überhaupt nicht. Es war extrem wichtig für mich, zurückzukommen. Mein Leben hätte sich sonst ziemlich stark verändert. Der Vorfall ist eine Warnung, aber er darf nicht immer präsent sein, weil man sonst seine Arbeit nicht mehr machen kann. Über die Jahre haben sich viele meiner Kollegen verletzt oder sind sogar gestorben. Jedes Mal, wenn so etwas passiert, fragt man sich natürlich: Ist es das wert? Das bleibt schon im Hinterkopf. Man muss jedoch versuchen, das ganz normale Leben zu bewahren, und sich sagen: Es gibt auch noch ein anderes Leben. Ich denke, dass ich mir über die Jahre eine gewisse Naivität behalten habe. Das ist ganz gut so. Wenn man abstumpft, sollte man etwas anderes machen.


Der Bildband "At War" von Anja Niedringhaus ist 2011 beim Hatje Cantz Verlag erschienen.


Anja Niedringhaus wurde 1965 in Höxter, Westfalen, geboren. Seit 2002 arbeitet sie für die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) und ist in Genf stationiert. Sie war bei vielen Konflikten auf dem Balkan sowie im Irak, in Afghanistan und Libyen im Einsatz. Anja Niedringhaus fotografiert außerdem sportliche und politische Ereignisse. 2005 erhielt sie gemeinsam mit weiteren Fotografen den Pulitzerpreis.

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Quelle:
amnesty journal, Oktober/Novemner 2012, S. 28-33
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2012