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ASIEN/214: Menschenrechtsarbeit in China (ai journal)


amnesty journal 12/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Ohne Vertrauen geht nichts"
amnesty international hat keinen Zugang zum chinesischen Festland. Informationen über Menschenrechtsverletzungen sind angesichts der eingeschränkten Meinungsfreiheit nur schwer zu erhalten.

Ein Interview mit ai-Researcherin Chine Chan in Hongkong.


FRAGE: In kaum einem Land wird die Meinungs- und Medienfreiheit so stark unterdrückt wie in China. Wie kommen Sie an Informationen über Menschenrechtsverletzungen?

CHINE CHAN: Hongkong ist ein guter Ort, um das Festland zu beobachten. Einerseits sind hier sehr viele Menschenrechts- und Demokratieorganisationen angesiedelt. Andererseits ist der Austausch zwischen dem Festland und Hongkong relativ groß. Viele Leute pendeln für ihre Arbeit hin und her und zahlreiche Informationen gelangen über sie zu uns. Zentrale Quellen sind auch die Medien und Universitäten in Hongkong, über die wir dank der Austauschprogramme viel vom Festland erfahren.

Das A und O für die Informationsbeschaffung sind langjährige persönliche Netzwerke und Vertrauen. Es gibt in China ein sehr loses Netzwerk von Menschenrechtsverteidigern, das in erster Linie auf persönlichen Kontakten beruht. Da ich früher als Journalistin über China arbeitete und in einer Menschenrechtsorganisation tätig war, habe ich ein großes Kontaktnetz mitgebracht. Darüber habe ich Zugang zu vielen weiteren Menschenrechtsverteidigern. Eine engere Organisationsform wäre jedoch nicht möglich, da das von der Regierung sofort entdeckt und unterbunden würde.

FRAGE: Ist es für die Menschen nicht sehr gefährlich, mit Organisationen wie amnesty international zusammenzuarbeiten?

CHINE CHAN: Natürlich besteht immer eine gewisse Gefahr - besonders, wenn die Personen sich direkt an uns wenden. Die meisten wissen das, doch gleichzeitig sind sie der festen Überzeugung, dass amnesty international das Risiko wert ist. Je persönlicher der Kontakt mit den Menschen ist, desto weniger werden sie gefährdet. Bei umfassenden und heiklen Informationen ist das stark überwachte Internet viel zu unsicher. Viele Journalisten und Menschenrechtsverteidiger gelangen deshalb mit einem Touristenvisum nach Hongkong. Das ist seit 1997 relativ einfach zu erhalten.

FRAGE: Was sind die größten Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Informationen?

CHINE CHAN: In China braucht man viel Zeit und Geld, um an Informationen zu kommen. Viele, die uns über Menschenrechtsverletzungen berichten, sind sehr arm und brauchen unsere finanzielle Unterstützung, um etwa für Recherchen in abgelegene Gebiete reisen zu können oder um zu uns nach Hongkong zu kommen. Die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen geschehen nicht in Peking oder Shanghai, sondern in den abgelegenen Gegenden. Teilweise versuchen wir auch über die nationale Telekommunikationsfirma, den Regionalcode eines Dorfes ausfindig zu machen und rufen dann nach dem Zufallsprinzip Menschen an, um nach der Befindlichkeit der Familie zu fragen und über persönliche Fragen etwas über Menschenrechtsverletzungen wie etwa Zwangsumsiedlungen zu erfahren.

Es braucht sehr viel Zeit, um das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Sie müssen sicher sein, dass Du nicht ein Spion der Regierung bist, und dass Du die Information dazu verwendest, ihnen zu helfen und sie nicht in Gefahr bringst. Gerade für Ausländer ist der Vertrauensaufbau sehr schwierig, denn für viele Chinesen ist der Umgang mit Ausländern nach Jahren der Isolation noch immer sehr ungewohnt.

FRAGE: Worin unterscheidet sich die aktuelle Situation der Menschenrechtsverteidiger in China von derjenigen in Europa?

CHINE CHAN: Aufgrund der großen Rechtsunsicherheit ist Menschenrechtsarbeit in China eine ständige Gratwanderung. Wir wissen alleine von etwa 700 Juristen, die wegen ihrer Menschenrechtsarbeit zurzeit im Gefängnis sitzen. China hat sehr viele gute Gesetze, doch sie werden willkürlich angewandt. Deshalb müssen Menschenrechtsverteidiger die aktuelle politische Lage immer sehr gut kennen, um zu wissen, was im Moment möglich ist und wie weit sie gehen können. Außerdem spielt die Wortwahl eine entscheidende Rolle. In China muss vieles indirekt gesagt werden, weil spezifische Wörter nicht erlaubt sind oder als Regierungskritik angesehen werden. Deshalb ist es auch für uns zentral, dass wir die Sprache gut beherrschen, um die Aussagen entschlüsseln zu können.

FRAGE: Welche Rolle spielt das Internet?

CHINE CHAN: Der breite Zugang zum Internet hat maßgeblich zur Stärkung der Menschenrechtsbewegung in China beigetragen. Dank dem Internet hat die chinesische Bevölkerung erstmals umfassend Zugang zu Informationen von Außen, und das Interesse ist riesig. Trotz all der Internetüberwachung gibt es vieles, das die Regierung nicht kontrollieren kann. So bestehen beispielsweise gute externe Informationsplattformen, auf denen die Chinesen ihre Texte veröffentlichen können. Diese laufen über ausländische Provider, die als einzige die wahren Identitäten der Leute kennen und auch gezielt Spenden an sie weiterleiten. Enge Netzwerke via Internet gibt es allerdings nicht, das wäre zu gefährlich. Es ist aber möglich, dass man andere Menschen über das Internet kennenlernt und nach einer längeren Zeit ein Vertrauensverhältnis aufbaut.

Oft bin ich bis tief in die Nacht im Internet, um mich mit Leuten auszutauschen, manchmal nur über Belangloses. Häufig werde ich auch um Rat gefragt oder sie stellen mir Fragen zu den Menschenrechten. In China ist die Idee, dass jeder Mensch die gleichen Rechte hat und diese auch einfordern kann, vielen unbekannt. Ich gebe deshalb Beispiele aus anderen Ländern, damit sich die Personen ein Bild machen und eine eigene Meinung bilden können. Viele wollen auch einfach die Menschenrechte fördern, ohne dass sie genau wissen, wie sie das anstellen sollen und ich helfe ihnen dabei, eine klare Vorstellung zu entwickeln.

FRAGE: Wie reagiert die chinesische Regierung auf die Berichte von amnesty international?

CHINE CHAN: Für amnesty international zu China zu arbeiten ist sehr befriedigend, denn die Regierung reagiert meistens auf unsere Arbeit. Ihre Reaktionen sind allerdings widersprüchlich. Kritisieren wir andere Länder wie z.B. die USA in Bezug auf Guantánamo, dann stellen sie uns in ihren Zeitungen als verlässliche Organisation dar. Kritisieren wir allerdings die Zustände in China, so sind wir plötzlich unseriös und haben keine Ahnung. Um wirklich Veränderungen zu bewirken, ist es jedoch zentral, dass wir die Regierung nicht einfach emotional angreifen - das ist in ihren Augen ein Gesichtsverlust. Deshalb bemühen wir uns, konkrete und direkte Empfehlungen abzugeben, die auch umsetzbar sind. Zum Teil ist es für uns daher sehr problematisch, wenn gewisse ai-Sektionen in ihren China-Kampagnen eine scharfe Rhetorik verwenden, denn das schadet unserer Arbeit mehr, als dass es ihr nützt.

FRAGE: Glauben Sie, dass sich die Menschenrechtssituation in Zusammenhang mit den Olympischen Spielen verbessern wird?

CHINE CHAN: Grundsätzlich glaube ich, dass sich die Menschenrechtssituation in China im Vorfeld der Olympischen Spiele verbessert. Doch wir müssen vorsichtig sein, dass wir die Spiele nicht als Deadline ansehen. Wir müssen den Druck auch nach den Olympischen Spielen aufrecht erhalten, sonst riskieren wir lediglich eine zeitliche Verschiebung der Menschenrechtsverletzungen. Es gibt keine Garantie dafür, dass die erzielten Fortschritte nicht wieder rückgängig gemacht werden, deshalb muss das Monitoring über Peking 2008 hinausgehen. Außerdem müssen wir uns bewusst sein, dass wir nicht verlangen können, dass alles in kurzer Zeit verbessert wird. Wir müssen uns auf ganz konkrete Dinge konzentrieren.

Interview: Pascale Schnyder


Die Chinesin Chine Chan arbeitet im Büro von amnesty International in Hongkong. Die Menschenrechtsaktivistin und ehemalige Fernsehjournalistin führt für ai Untersuchungen über Menschenrechtsverletzungen in China durch und beobachtet die Entwicklung auf dem chinesischen Festland.


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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2007, S. 18-20
Herausgeber: amnesty international
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E-Mail: info@amnesty.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2008