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AKTION/815: Urgent Action - Brasilien - Drohende Zwangsräumung


ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-294/2011, AI-Index: AMR 19/015/2011, Datum: 28. September 2011 - gs/ns

Brasilien
Drohende Zwangsräumung


35 FAMILIEN DER INDIGENEN GEMEINSCHAFT DER GUARANI-KAIOWÁ

35 Familien, die der indigenen Gemeinschaft der Guarani-Kaiowá in Laranjeira Ñanderu angehören, droht die rechtswidrige Zwangsräumung von ihrem angestammten Land im Bundesstaat Mato Grosso do Sul. Wenn sie von dem Land, auf dem sie schon seit Generationen leben, vertrieben werden, müssen sie neben einer vielbefahrenen Schnellstraße im Außenbezirk eines nahe gelegenen Ortes leben. Dort haben sie weder Zugang zu Trinkwasser noch zu Land, das sie bewirtschaften können.

Am 21. September ordnete ein örtlicher Richter die Zwangsräumung des Landes der indigenen Laranjeira Ñanderu an, auf dem zur Zeit 120 Menschen auf bewaldeten Flächen auf der Farm Santo Antônio da Nova Esperança in der Gemeinde Rio Brillante leben. Die Gemeinde liegt 150 km südlich der Landeshauptstadt Campo Grande. Der Richter entschied, dass die Angehörigen der Gemeinschaft von der Regierungsbehörde für indigene Angelegenheiten in Brasilien, FUNAI, in ein Gebiet neben einer vielbefahrenen Schnellstraße umgesiedelt werden sollen. So hatte es das brasilianische Ministerium für Verkehr und Infrastruktur empfohlen. Das Gebiet, in das die Menschen umgesiedelt werden sollen, ist schmutzig, laut, staubig und wird regelmäßig überflutet. Es gibt weder Zugang zu Trinkwasser noch zu Land, das bewirtschaftet werden könnte. FUNAI-MitarbeiterInnen trafen sich am 26. September mit den Guarani-Kaiowá und teilten ihnen mit, dass sie versuchen würden, die Zwangsräumung zu stoppen. Allerdings wurden davor bereits zwei Mal erfolglos Rechtsmittel eingelegt.

Man wartet seit 2007 darauf, dass das Gebiet, auf dem die indigene Gemeinschaft zur Zeit lebt, rechtlich als ihr Eigentum anerkannt wird. Aufgrund von gerichtlichen Anfechtungen und einem Mangel an Polizeieskorten, die AnthropologInnen begleiten sollen, um festzustellen, ob das Land angestammtes Land der indigenen Bevölkerung ist, verläuft der Prozess nur schleppend. Dies ist die dritte Zwangsräumung innerhalb von dreieinhalb Jahren und das Ergebnis eines langjährigen Kampfes der Guarani-Kaiowá um ihr rechtmäßiges Land. Die Gemeinschaft besetzte ihr Land erstmals wieder im Jahr 2007. Im Mai 2008 wurden sie vertrieben, kehrten aber später wieder zurück. Nachdem sie im September 2009 abermals vertrieben wurden, brannten die LandbesitzerInnen anschließend ihre Häuser und persönlichen Besitztümer nieder.

Die Laranjeira Ñanderu-Gemeinschaft lebte daraufhin ein Jahr und acht Monate lang in behelfsmäßigen Notunterkünften in Entwässerungsgräben am Rande der Schnellstraße 163, gegenüber ihrem Land. Die Mitglieder der Gemeinschaft wurden Opfer von Drohungen durch die örtlichen Sicherheitskräfte. Sie hatten keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen, Trinkwasser oder medizinischer Versorgung. Im Mai 2011 erreichten die Bauarbeiten zur Erweiterung der Straße ihre Unterkünfte. Dies und die Frustration über den schleppenden Fortschritt im Prozess der Demarkierung trieb die Guarani-Kaiowá dazu an, ihr Land nochmals zu besetzen.


HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Der Bundesstaat Mato Grosso do Sul umfasst einige der kleinsten, ärmsten und am dichtest besiedelten indigenen Regionen Brasiliens: ländliche und verarmte Regionen, umgeben von großen Soja- und Zuckerrohrplantagen sowie Viehfarmen, in denen das Leben von Krankheit und schlechten Lebensbedingungen gekennzeichnet ist. Rund 60 000 Guarani-Kaiowá leben in prekären Verhältnissen. Der Zusammenbruch des sozialen Systems hat Gewalt und hohe Selbstmordraten hervorgebracht und zu Unterernährung geführt. Die nur schleppend verlaufende Übergabe des Landes von den Landbesitzerinnen an die indigenen Gemeinschaften hat bei den Guarani-Kaiowá große Enttäuschung ausgelöst und sie dazu veranlasst, ihrerseits mit der Besetzung angestammter Ländereien zu beginnen. Daraufhin wurden sie eingeschüchtert und mit Gewalt von dem Land vertrieben, das sie besetzt hatten.

Im November 2007 unterzeichneten der Justizminister, der Generalbundesanwalt, FUNAI-VertreterInnen und 23 SprecherInnen indigener Gemeinschaften ein Abkommen (Termo de Adjustamento de Conduta - TAC). In dem Abkommen verpflichtet sich FUNAI, bis April 2010 insgesamt 36 Stücke Land der Guarani-Kaiowá, einschließlich des Gebiets der Laranjeira Ñanderu, zu demarkieren und an die Gemeinschaft zurückzugeben. Mangelnde Ressourcen und anhängige Gerichtsverfahren haben dazu geführt, dass der Demarkierungsprozess nach wie vor nicht stattgefunden hat. FUNAI hat jüngst angekündigt, im März 2012 einige anthropologische Studien veröffentlichen zu wollen. Eine solche Studie zu den Laranjeira Ñanderu soll der Öffentlichkeit aber offenbar nicht vorgestellt werden. Da die Klärung von Landkonflikten immer wieder scheitert, müssen mittlerweile mehrere Gemeinschaften der Guarani-Kaiowá am Rand von Schnellstraßen leben. Sie werden von MitarbeiterInnen der Sicherheitsdienste bedroht, welche die Guarani-Kaiowá an der Wiederbesetzung von Ländereien hindern sollen. Außerdem leiden die Guarani-Kaiowá unter gesundheitlichen Problemen, die auf die schlechten Bedingungen in den Notunterkünften und auf mangelnde medizinische Versorgung zurückzuführen sind. Zahlreiche Guarani-Kaiowá sind außerdem bei Verkehrsunfällen verletzt oder sogar getötet worden.

Sowohl die UN-Erklärung über die Rechte der indigenen Völker, die Brasilien im Jahr 2007 unterzeichnet hat, als auch das von der brasilianischen Regierung ratifizierte Übereinkommen Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation gewährleisten indigenen Völkern das Recht auf Land, das traditionell ihnen gehört. Außerdem werden darin die Staaten aufgefordert, Mechanismen zu entwickeln, mit deren Hilfe diese Rechte zugesprochen und anerkannt werden können. Nicht zuletzt bekräftigt die brasilianische Verfassung von 1988 die Rechte der indigenen Völker Brasiliens auf ihr Land. Die Verfassung verpflichtet den Staat, das Land der indigenen Bevölkerung zu demarkieren.


EMPFOHLENE AKTIONEN

SCHREIBEN SIE BITTE FAXE UND LUFTPOSTBRIEFE MIT FOLGENDEN FORDERUNGEN

- Ich bin sehr besorgt über die Zwangsräumungen, die viele indigenen Laranjeira Ñanderu in Gefahr bringt. Daher fordere ich Sie auf, die geplante Vertreibung aus ihrem angestammten Gebiet zu stoppen und ihnen das Anrecht auf ihr Land zu garantieren.

- Ich bitte Sie dringend, der Demarkierung des Landes der Laranjeira Ñanderu im gesamten Demarkierungsprozess, der 2007 begann, höchste Priorität einzuräumen.

- Ich fordere Sie auf, ihrer Verpflichtung gemäß der Konvention Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation, der UN-Erklärung über die Rechte der indigenen Völker und der brasilianischen Verfassung nachzukommen, indem Sie alle ausstehenden Landrechtsfragen abschließen.


APPELLE AN

JUSTIZMINISTER
Exmo. Sr. Tarso Genro
Esplanada dos Ministérios,
Bloco "T", 70712-902 - Brasília/DF
BRASILIEN (korrekte Anrede: Exmo. Sr. Ministro / Dear Minister / Sehr geehrter Herr Minister)
Fax: (0055) 61 3322 6817 oder (0055) 61 3224 3398

MINISTER FÜR MENSCHENRECHTE
Secretaria Especial de Direitos Humanos
Exmo. Secretário Especial
Sr. Paulo de Tarso Vannuchi
Esplanada dos Ministérios - Bloco "T" - 4º andar,
70064-900 - Brasília/DF, BRASILIEN
(korrekte Anrede: Exmo. Sr. Secretário / Dear Secretary / Sehr geehrter Herr Sekretär)
Fax: (00 55) 61 3226 7980


KOPIEN AN

MENSCHENRECHTSORGANISATION
Conselho Indigenista Missionário
(CIMI - local NGO)
Cimi Regional Mato Grosso do Sul
Av. Afonso Pena, 1557 Sala 208 Bl.B, 79002-070 Campo Grande/MS
BRASILIEN

BOTSCHAFT DER FÖDERATIVEN REPUBLIK BRASILIEN
S.E. Herrn Everton Vieira Vargas
Wallstraße 57
10179 Berlin
Fax: 030-7262 83-20
oder 030-7262 83-21
E-Mail: brasil@brasemberlim.de


Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Schreiben Sie in gutem Portugiesisch, Englisch oder auf Deutsch. Da Informationen in Urgent Actions schnell an Aktualität verlieren können, bitten wir Sie, nach dem 9. November 2011 keine Appelle mehr zu verschicken.


PLEASE WRITE IMMEDIATELY

- Express concern that a long history of evictions has placed members of the Laranjeira Ñanderu community at risk and call on the authorities to halt the proposed eviction and guarantee their rights to their ancestral lands.

- Urge the authorities to prioritize the identification of Laranjeira Ñanderu land in the overall process of land identifications, which began in 2007.

- Urge the authorities to fulfil their obligations under the International Labour Organization's Convention 169, the UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples and the Brazilian constitution by completing all outstanding land demarcations.


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Quelle:
ai - URGENT ACTION
UA-Nr: UA-294/2011, AI-Index: AMR 19/015/2011, Datum: 28. September 2011 - gs/ns
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2011