Jenny Farrell
Widerstand und Befreiung
Essays über irische Literatur
Buchcover: © by Neue Impulse Verlag
In Irland ist das Interesse an Büchern und Buchlektüre trotz TikTok und Co. nach wie vor stark. Auf der grünen Insel gibt es ein umfangreiches Netz an gut besuchten staatlichen Bibliotheken. Im Kulturmagazin der Wochenendbeilage der tonangebenden Irish Times werden alle sieben Tage die wichtigsten Neuerscheinungen aus dem In- und Ausland von namhaften Autoren und Literaturkritikern so ausführlich wie unterhaltsam besprochen. In Dublin zum Beispiel können Bibliophile in beliebten, traditionsreichen Buchläden wie Easons, Hodges & Figges, Books Upstairs, Chapters oder Connolly Books vergnügliche Stunden verbringen.
Connolly Books lädt zum Stöbern ein
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Ebenfalls in der UNESCO-Literaturstadt kann man wahre, aufs Blatt gebrachte Schätze des menschlichen Geistes bestaunen. Gemeint ist zuallererst die weltberühmte, um das Jahr 800 u. Z. von irischen Mönchen niedergeschriebene und meisterhaft illustrierte Evangeliensammlung "The Book of Kells" im altehrwürdigen Trinity College. Erwähnung verdienen aber auch die 1707 gegründete Marsh's Library, wo mehrere der ältesten erhaltenen, auf Latein verfassten jüdischen Schriften aufbewahrt werden, und das Chester Beatty Museum in Dublin Castle, das nicht nur einzigartige Papyrusdokumente aus dem Alten Ägypten sowie die weltweit größte Sammlung erhaltener Schriften des im dritten Jahrhundert wirkenden Religionsstifters Mani - Gründer des Manichäismus - in koptischer Sprache, sondern auch einige der ältesten und wertvollsten Kopien des Korans in arabischer Sprache aus der Frühphase des Islam aufbietet.
Tatsächlich können die Iren die älteste Vernakularsprache Westeuropas vorweisen. Während in Resteuropa ab dem 5. Jahrhundert das römische Reich zerbrach und dem Chaos wich, entwickelte sich Irland infolge der frühen Christianisierung zur Insel der Heiligen und Gelehrten ("Insula Sanctorum et Doctorum"), die recht schnell wegen ihres Missionsdrangs - siehe Sankt Columban von Iona, der die schottischen Pikten bekehrte und sogar dem Ungeheuer von Loch Ness Manieren beibrachte, und Sankt Columban von Bobbio, der sowohl dort in Italien als auch im französischen Annegray, Luxeuil und Fontaines bedeutende Klöster gegründet hat.
Das erstaunliche Aufblühen der keltischen Kirche in Irland führen die modernen Historiker auf die diplomatische Art und Weise zurück, wie dort Sankt Patrick und seine Priesterkollegen, statt den Iren ihre heidnische Kultur auszutreiben, sie mit der christlichen Heilslehre quasi verschmolzen haben. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Experten zunehmend die Ansicht zu eigen gemacht, dass innerhalb kurzer Zeit auf der Insel große Klöster mit Tausenden von Studenten wie zum Beispiel in Armagh, Bangor, Clonmacnoise und Glendalough nur deshalb entstehen konnten, weil sie schon länger dort existierende Druidenschulen mehr oder weniger beerbt haben. Doch während die Druiden, wie Iulius Caesar einst in seinen Kriegsmemoiren De bello Gallico bezeugte, das Aufschreiben ihrer Glaubensvorstellungen kategorisch ablehnten, um diese geheim zu halten, konnten sich rund fünfhundert Jahre später die Vertreter der entstandenen keltischen Kirche in Irland offenbar beim Niederschreiben nicht zurückhalten. Und weil sie ihre Federstriche nicht nur auf Latein und Altgriechisch, sondern auch auf Altirisch schwangen, gibt es von letzterer als Schriftsprache im europäischen Vergleich extrem viele Zeugnisse.
Auf dem Dubliner Friedhof 'Glasnevin Cemetery' haben viele bekannte Schriftsteller
Irlands ihre letzte Ruhestätte gefunden
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Den fleißigen Klosterbrüdern von damals haben wir es auch zu verdanken, dass der Nachwelt zudem die heidnische Mythologie einschließlich der wichtigsten Sagen der irischen Clangesellschaft erhalten geblieben sind. Deren langanhaltende Kraft lässt sich daran ermessen, dass sie, ähnlich den Dramen William Shakespeares, in leicht gefälschter Form der "Gedichte des Ossian" die Frühromantiker der Bewegung des Sturm und Drang im deutschsprachigen Raum wie Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller begeisterten. Aus der Märchenwelt von einst speiste sich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts auch jene Celtic Revival (irische Renaissance), die sowohl zur Gründung des National Abbey Theatre durch William Butler Yeats und Lady Augusta Gregory 1904 als auch zum blutigen und spektakulären Osteraufstand der nationalistisch-bürgerlichen Irish Volunteers und der proletarischen Irish Citizen Army gegen das British Empire 1916, inmitten des Ersten Weltkriegs, führte.
Es überrascht daher nicht, dass Jenny Farrell ihre Essaysammlung über die irische Literatur, "Widerstand und Befreiung", mit einem Aufsatz über Inhalt und Bedeutung der gewaltigsten irischen Saga des Táin Bó Cuailgne um den unbesiegbaren und nur durch bösen Zauber zu bezwingenden Cúchulainn eröffnet. Was als Ehestreit mit anschließendem, missglücktem "Rinderraub" beginnt, artet in einen mörderischen Krieg zwischen der Armee der Nordprovinz Ulster auf der einen und derjenigen der West- und Ostprovinzen Connacht und Leinster auf der anderen Seite aus. Weil Ulsters Recken des Red Branch infolge des Fluchs einer von ihnen zuvor sträflich missachteten Dame einer monatelangen Umnachtung anheimfallen, muss sich der junge Halbgott Cúchulainn tagein, tagaus allein den besten Kämpfern der rachsüchtigen Königin Maeve stellen und sie töten - am Ende sogar den eigenen Ziehbruder Ferdia. Nach Ende des Krieges, den die Ultonier schließlich für sich entscheiden können, fällt Cúchulainn einer giftigen Intrige zum Opfer. Seine Mörder nähern sich zum Schluss dem, weil schwerverwundet, eigenhändig an eine Steinsäule gebundenen Helden erst, nachdem sich ihm eine Krähe auf die Schulter gesetzt und damit den Beweis seines Ablebens erbracht hat. Nicht umsonst steht heute im Hauptfenster des General Post Office in Dublin, von wo aus 1916 die Aufständischen die Loslösung Irlands vom Vereinigten Königreich mit Großbritannien proklamierten, die berühmte Bronzestatue des gerade gestorbenen, aber niemals aufgebenden Cúchulainn samt Krähe.
Cúchulainn stirbt, Königin Maeve rast vor Wut
Ausschnitt eines Wandmosaiks von 1974 des irischen Künstlers Desmond Kinney
(1934-2014) in der Nassau Street in Dublin
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Einen besseren Auftakt als mit dem "Táin", den Farrell ausführlich erläutert, hätte die deutsch-irische Dozentin, die bis zu ihrer Pensionierung am Galway-Mayo Institute of Technology (GMIT) neben Deutsch auch irische Literatur unterrichtete, nicht vorlegen können. Schließlich geht es ihr in dem Buch darum, dem deutschen Publikum diejenigen Werke der reichhaltigen irischen Literatur zu präsentieren, deren Autoren ihre Ablehnung der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen zum Ausdruck gebracht haben. Vieles von dem, was Farrell hier referiert, wie Jonathan Swifts bitterböse Satire "Ein bescheidener Vorschlag", George Bernard Shaws "Pygmalion", James Joyces "Ulysses", Yeats' Gedichte oder Samuel Becketts "Warten auf Godot", ist international bekannt. Nichtsdestotrotz gewinnt Farrells marxistische Analyse den Arbeiten der Titanen der irischen Literaturgeschichte wichtige Aspekte ab, die einem weniger klassenbewussten Kritiker verborgen geblieben wären.
Es ist indessen die Behandlung der Werke mehrerer in Deutschland weniger bekannter Autoren, welche die besondere Originalität und Stärke der vorliegenden Lektüre ausmacht. Als erstes ist hier der tausendzeilige Gedichtepos "Cúirt an Mheán Oíche" ("Das Mitternachtsgericht") zu nennen, das der Mathematiklehrer und Dichter Brian Merriman in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf Gälisch verfasst hat. Die einheimische katholische Bevölkerung Irlands, die noch mehrheitlich Gälisch sprach, litt in dieser Zeit schwer unter der Herrschaft des protestantischen Englands. Bereits im 17. Jahrhundert hatten sich infolge mehrerer verheerender Kriegsniederlagen gegen die Streitkräfte von Königin Elizabeth I., Oliver Cromwell und Wilhelm von Oranien weite Teile des altirischen katholischen Adels - die sogenannten "wilden Gänse" - ins Exil nach Spanien, Frankreich oder ins Habsburger-Reich abgesetzt. Die Messe nach römisch-katholischem Ritus war genauso streng verboten wie ein Schulunterricht auf Gälisch, weswegen Merriman, der in der untergehenden Tradition der Barden und Hofchronisten stand, als Lehrer einer illegalen Heckenschule seinen kargen Lebensunterhalt verdiente.
Bei einer nächtlichen Wanderung in seiner heimatlichen Grafschaft Clare an der irischen Atlantikküste genehmigt sich Merriman ein kleines Nickerchen auf dem freien Feld, nur um sich plötzlich vor einem wundersamen Gericht in der Feenwelt wiederzufinden. Dort werden von Aoibheal, einer keltischen Gottheit, die nun als himmlisch-hexische Urmutter der Iren über diese richten soll, die schlimmen Zustände auf der Insel und das Schicksal ihrer Kinder beklagt. Unter Verweis auf die nicht mehr gültige geschlechtergerechtere keltische Rechtsprechung der "Brehon Laws" werden der englische Unterdrückungsapparat, die katholische Kirche mit ihrer freudenfeindlichen Sexualmoral und vor allem die Männer wegen deren mangelnder Bereitschaft, in den Stand der Ehe zu treten, die Frauen Irlands sexuell zu befriedigen und dabei für Nachwuchs zu sorgen, heftigst kritisiert. Am Ende der langen Verhandlung, als Merriman, der bereits um die 30 Jahre alt und noch unverheiratet ist, als Nichtsnutz verurteilt und ausgepeitscht zu werden droht, wacht er auf und begreift, dass all das nur ein böser Alptraum gewesen ist.
Aideen's Grave in Howth
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"Das Mitternachtsgericht" ist nicht nur eine grandiose Gesellschaftssatire, die jedem Vergleich mit ähnlichen früheren Spotterzählungen wie Bocaccios "Decamerone" oder Geoffrey Chaucers "Canterbury Tales" standhält. Von der Form her ist "Cúirt an Mheán Oíche" zudem eine bewusste Parodie auf die damals in Irland vielbemühte Tradition des Aisling-Genres. In den Gedichten mit dieser Bezeichnung erzählten im 17. und 18. Jahrhundert zahlreiche mäzenlos gewordene gälische Barden von nächtlichen Besuchen einer Traumfrau aus dem Jenseits - der Vision oder Aisling -, die angesichts des Untergangs des traditionsreichen Clanwesens und des Verlustes der irischen Souveränität ihr Herz ausschüttet und als Heil die baldige Wiederkehr eines rechtmäßigen katholischen Anwärters auf den irisch-schottischen Thron aus der Stuart-Dynastie, wie etwa Bonnie Prince Charlie, in Aussicht stellt. Offenbar wollte Merriman mit dem "Mitternachtsgericht" die eigenen Landsleute aufwecken und ihnen ein Verhaften an überkommenen Illusionen austreiben.
Ebenfalls in der Schlussphase der anti-katholischen Penal Laws in Irland verfasste die 23-jährige Eibhlín Dubh Ní Chonaill auf Gälisch das großartigste irische Liebesgedicht überhaupt, "Caoineadh Art Uí Laoghaire" ("Klagelied auf Art O'Leary"). Der Verstorbene war Eibhlíns Ehemann, der 1773 bei Macroom in der südirischen Grafschaft Cork infolge einer Fehde mit dem benachbarten protestantischen Bankier, Richter und Parlamentsabgeordneten Abraham Morris gewaltsam ums Leben kam. Anlass des Meuchelmordes war die Weigerung des hitzköpfigen Katholiken, der Hauptmann eines Husarenregiments der Armee Maria Theresias war, bei einem Besuch in der irischen Heimat sein erstklassiges Pferd, das er aus dem Dienst Österreich-Ungarns mitgebracht hatte, Morris zum Spottpreis von fünf Pfund zu überlassen. Damals durfte in Irland kein Katholik eine Waffe, weder eine Pistole noch ein Schwert, tragen oder ein Pferd besitzen, das einen Wert von fünf Pfund oder mehr hatte. Statt sich auf Uí Laoghaires Einladung zum Duell einzulassen, sorgte Morris vor Gericht dafür, dass sein Widersacher für vogelfrei erklärt wurde. Wenig später wurde Art aus dem Hinterhalt von einem englischen Soldaten erschossen.
Die Totenklage der jungen Mutter von drei Kindern, ihren Freund und Ehemann auf so brutale Weise verloren zu haben, ist niederschmetternd, wie der Leser anhand der eigens von Jenny Farrell ins Deutsche übertragenen Passagen des "keen" bezeugen kann. En detail beschreibt Eibhlín Dubh (Schwarze Eileen/Eileen mit dem schwarzen Haar) wie Art ihr Herz eroberte und wie romantisch und aufregend das kurze Leben an der Seite des von ihren Eltern und der konformistischen Gesellschaft gefürchteten Draufgängers war. Auch wenn sie seine Ermordung in abgrundtiefe Trauer stürzt, kann Arts Witwe zugleich ihren Stolz nicht verhehlen, einen Mann ihr eigen genannt zu haben, der vor niemandem den Kopf beugte, erst recht nicht vor einem selbstgerechten Nutznießer des verhassten Kolonialregimes der englischen Krone in Irland. (Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass sowohl Merrimans "Mitternachtsgericht" als auch Ní Chonaills "Klagelied auf Art O'Leary" mündlich geschaffen wurden und zunächst nur auf diese Weise Verbreitung fanden; erst Jahrzehnte später haben Freunde und Bewunderer die beiden Langgedichte zu Papier gebracht.)
1798, fünfundzwanzig Jahre nach dem Mord an Art Uí Laoghaire, kam es unter der Leitung von Wolfe Tone und mit Hilfe des revolutionären Frankreichs zum Aufstand der United Irishmen, die sich der Verbrüderung über konfessionelle Grenzen hinweg im Rahmen einer eigenen irischen Republik verschrieben hatten. Nur mit sehr viel Blutvergießen konnten die britischen Behörden den Aufstand, der auffallend starke Unterstützung seitens der freikirchlichen Presbyterianer in der Region um Belfast erfuhr, niederschlagen. Man schätzte die Zahl der gefallenen oder hingerichteten Aufständischen auf mindestens 30.000. Intellektuell standen die United Irishmen damals mit Republikanern und aktiven Monarchiegegnern nicht nur in Frankreich, sondern auch in den Vereinigten Staaten von Amerika und sogar England in Verbindung. Jenny Farrell widmet den politischen Schriften von Tone und Streitgefährten ein ganzes Kapitel, nennt sie "Teil der internationalen und demokratischen Befreiungsliteratur" und erklärt: "Die Ideale, für die sie kämpften, sind noch immer nicht verwirklicht." (S. 47)
Das Wolfe-Tone-Denkmal an der Nordostecke der Dubliner Parkanlage
Stephen's Green
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Jene Ideale beflügelten die Männer und Frauen, die am Ostermontag 1916 schwer bewaffnet eine Reihe strategisch gelegener Gebäude in Dublin, darunter das massive Hauptpostamt in der O'Connell Street, besetzten und von diesem Standort aus die Gründung der Irischen Republik, die für jeden und jede religiöse Freiheit, Gleichberechtigung sowie soziale Gerechtigkeit versprach, bekanntgaben. Nach einer Woche schwerer Kämpfe mussten sich die Rebellen der militärischen Überlegenheit der eilends zusammengezogenen britischen Streitmacht, darunter das Kriegsschiff Helga, dessen Kanonenfeuer das Zentrum Dublins in eine Trümmerlandschaft verwandelte, ergeben. In den folgenden Wochen wurden alle sieben Unterzeichner der Unabhängigkeitserklärung wegen Kontakten zum Kaiserlichen Deutschland, mit dem sich Großbritannien damals im Krieg befand, des Hochverrats für schuldig befunden, zu Tode verurteilt und durch Erschießen hingerichtet.
Eine Originalkopie der Oster-Proklamation im Rathaus von Dublin
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Drei der sieben Mitglieder der provisorischen Regierung der Republik, Pádraig Pearse, Thomas MacDonagh und Joseph Plunkett, waren Dichter. Pearse und MacDonagh waren zudem Lehrer und betrieben am Rande von Dublin eine eigene Schule mit dem Anspruch auf eine ganzheitliche Bildung der Kinder. Jenny Farrell hat in einem Essay über die dichterische Arbeit der drei Idealisten sogar Pearses berühmtestes Stück, "Mise Éire"/"Ich bin Irland" aus dem Jahr 1912, eigens aus dem gälischen Original übersetzt (Seite 79). Die Übersetzung ist recht gelungen und lautet wie folgt:
Ich bin Irland
Ich bin Irland:
Ich bin älter als die Vettel von Beare.
Groß mein Ruhm:
Ich gebar Cúchulainn, so kühn.
Groß meine Scham:
Mein' Kinder verkauften die Mutter.
Groß mein Schmerz:
Mein unversöhnlicher Feind, der mich unaufhörlich drangsaliert...
Groß mein Leid:
Die Leute, denen ich vertraute, starben.
Ich bin Irland:
Ich bin einsamer noch als die Vettel von Beare.
Auf dem Ehrenfriedhof Arbour Hill in Dublin liegen die hingerichteten
Anführer des Osteraufstands von 1916
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Dem Osteraufstand, der die Lunte für den irischen Unabhängigkeitskrieg (1919-1921) legte, ging 1913 der Dublin Lockout, die Aussperrung der Arbeiter durch die Großbetriebe in der Hauptstadt, um den Vormarsch der Gewerkschaftsbewegung zu stoppen, voraus. Beim Lockout handelte es sich um den heftigsten Sozialkampf der irischen Geschichte. Sieben Monate lang standen zehntausende Arbeiter und ihre Angehörigen ohne Lohn und Brot da. Nur über Spenden kamen sie über die Runden. Um die streikenden Arbeiter vor bewaffneten Angriffen der Polizei und Streikbrecher zu schützen, gründete der Gewerkschaftler und revolutionäre Sozialist James Connolly die Irish Citizen Army (ICA). Angesichts des drohenden Hungertodes zahlreicher Arbeiterfamilien und der mangelnden Unterstützung des britischen Gewerkschaftsverbands musste Anfang 1914 die Irish Transport and General Workers' Union (ITGWU) die Niederlage gegen die Arbeitgeber eingestehen, den Generalstreik beenden und die Leute wieder in die Betriebe schicken. Zwei Jahre später beteiligte sich die ICA am Osteraufstand. Connolly, der die Ausrufung der irischen Republik mitunterzeichnete, wurde dafür hingerichtet - obwohl schwer verwundet, an einen Stuhl gebunden erschossen -, was nicht nur in Irland, sondern international für Empörung sorgte.
Der Dublin Lockout steht im Mittelpunkt des 1969 erschienenen, hochgelobten Romans "Strumpet City" von James Plunkett. 1980 wurde das vielschichtige Drama vom staatlichen irischen Fernsehsender RTÉ für eine gelungene Miniserie mit Peter O'Toole in der Rolle des sprachgewaltigen Gewerkschaftschefs James Larkin adaptiert. Jenny Farrell befasst sich in einem Essay, der 1980 unter dem Titel "Manche, sagt man, sind verdammt" auf Deutsch erschienen ist, ausführlich mit "Strumpet City" und schreibt: "Der kollektive Held des Romans ist die irische Arbeiterklasse, die in einen neuen Abschnitt ihres Klassenkampfes eintritt". Wenngleich Farrell das Buch wegen der vielen lebendigen Charaktere und der gelungenen Darstellung ihres Interagierens als Vertreter der verschiedenen Gesellschaftsgruppen im damaligen Dublin lobt, kann sie Plunkett verständlicherweise nicht vergeben, die historische Bedeutung Larkins beim großen Aufstand zu Lasten seines Mitstreiters Connolly hervorgehoben zu haben, der "im ganzen Roman nur einmal beiläufig und ohne wirkliche Substanz erwähnt" wird (S. 201).
Das James-Connolly-Denkmal gegenüber dem Gewerkschaftshaus und
Dubliner Wahrzeichen Liberty Hall
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Nach dem Ende des irischen Unabhängigkeitskriegs (1919-1921) brach im neuen, 1922 gegründeten Irish Free State, der sich lediglich über 26 der 32 irischen Grafschaften erstreckte, ein erbitterter Bürgerkrieg aus. Die Gegner des Anglo-Irish Treaty, meist Proletarier, Kleinbauern, Tagelöhner und Leute aus der unteren Mittelschicht, fanden sich weder mit der Teilung Irlands - sechs mehrheitlich von Protestanten bewohnte Grafschaften im Norden der Insel blieben Teil des Vereinigten Königreichs - noch mit dem Dominionstatus des Freistaats im Rahmen des British Empire mit dem englischen König als Staatsoberhaupt ab. Doch ihre großbürgerlichen Gegner wie die Firmeninhaber, die Vertreter des Banken- und Versicherungswesens, der katholische Klerus, die höhere Beamtenschaft, die Hochschulprofessoren und die Großbauern wollten wieder zur alten Tagesordnung übergehen. Mit der militärischen Unterstützung Londons haben sich diese Kräfte durchgesetzt und ein streng konservatives, von Priestern und Nonnen kontrolliertes Gemeinwesen errichtet, in dem alle Bürgerinnen und Bürger, welche die Verhaltensempfehlungen des Vatikans nicht als maßgebend empfanden, keinen leichten Stand hatten.
Zu den wichtigsten Dissidenten im nominell unabhängigen, aber lange Jahre immer noch wirtschaftlich an Großbritannien geketteten irischen Staat gehörte der Schriftsteller Liam O'Flaherty. Der 1896 auf dem steinigen Inis Mór, der größten der drei Aran Inseln vor der Küste Galways, als Sohn eines armen Kleinbauern geborene O'Flaherty kämpfte im Ersten Weltkrieg im Dienst der britischen Armee und kehrte mit einem Granatenschock zurück. Er zog als Wanderarbeiter mehrere Jahre durch die USA, wo er Mitglied der kommunistischen Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW), der sogenannten Wobblies, wurde. 1921 kehrte er nach Irland zurück, gründete zusammen mit James Connollys Sohn Roddy die Communist Party of Ireland (CPI) und beteiligte sich schließlich am irischen Bürgerkrieg auf der Seite der unterlegenen Gegner des anglo-irischen Vertrages.
1923 veröffentlichte O'Flaherty anhand eigener Kampferfahrungen im Bürgerkrieg die hochspannende Kurzgeschichte "The Sniper", in der sich zwei Heckenschützen auf den Dächern Dublins gegenseitig belauern und beschießen. Erst nachdem der eine Scharfschütze den anderen getötet hat, jedoch dabei selbst verwundet wurde, stellt er fest, dass der bis dahin unbekannte Gegner sein eigener Bruder gewesen ist. Die brutale, aber einfühlsame Moralgeschichte über die Sinnlosigkeit des Krieges brachte O'Flaherty gute Kritiken ein. Im Laufe der zwanziger und dreißiger Jahren wurde er zu einem weltweit anerkannten Erfolgsautor von packenden und zugleich literarisch anspruchsvollen Romanen und Kurzgeschichten. 1935 kam die Filmversion seines zehn Jahre zuvor erschienenen ersten und wichtigsten Romans, "The Informer", unter der Regie von John Ford in die Kinos. Wie O'Flaherty stammten Fords Eltern aus dem gälisch-sprachigen Teil Galways, seine Mutter von den Aran Inseln und sein Vater aus Spiddal. Für "The Informer" erhielt Ford den ersten seiner insgesamt vier Oscars als bester Regisseur.
Die irische Nationalbibliothek in Dublin, Schauplatz der Episode 'Skylla
und Charybdis' in Joyces 'Ulysses'
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Obwohl in London, Paris und Hollywood gefeiert, sah sich der bekennende Sozialist O'Flaherty im eigenen Heimatland Ausgrenzung und Missachtung ausgesetzt. Von der neuen staatlichen Zensurbehörde wurden vier seiner Romane verboten, weil sie sich allzu kritisch mit dem Opportunismus und der Kleingeistigkeit der Eliten der irischen Gesellschaft, sei es in der Stadt oder auf dem Dorf, auseinandersetzen. Obwohl er sich nach Ansicht seiner Freunde und Kollegen sogar besser auf Gälisch als auf Englisch artikulieren konnte, verfasste O'Flaherty die allermeisten seiner Stücke in englischer Sprache, um von den Einnahmen leben zu können. Der mangelnde kommerzielle Erfolg der auf Gälisch geschriebenen und 1953 herausgegebenen elegisch-existentialistischen Kurzgeschichtensammlung "Dúil" ("Sehnsucht") soll für O'Flaherty eine bittere Enttäuschung gewesen sein.
Inzwischen stehen in Irland "The Sniper" und "Dúil" in den Fächern Englisch und Irisch auf dem Lehrplan für Abiturienten. Dennoch sind O'Flahertys expressionistische Erzählungen, darunter "Famine" über die große Hungersnot infolge der Kartoffelplage Mitte des 19. Jahrhunderts, in Irland weitgehend in Vergessenheit geraten. Von daher ist es höchst erfreulich und lobenswert, dass Jenny Farrell in ihrer Essaysammlung von allen Autoren O'Flaherty den größten Platz einräumt.
Es gibt so viel Faszinierendes bei "Widerstand und Befreiung" zu entdecken, dass man es an dieser Stelle gar nicht alles besprechen kann. Es ist jedenfalls zu erwähnen, dass der interessierte Leser hochinformative Essays auch über den Dramatiker des Dubliner Arbeitermilieus Sean O'Casey, das scharfzüngige Enfant terrible Brendan Behan, der viel zu früh gestorben ist, die drei nordirischen Dichter Seamus Heaney, Derek Mahon und Michael Longley, welche in ihrer Poesie die grauenhaften Jahre der Troubles reflektiert haben, über Ethel Voynich, Robert Tressle, Colum McCann, Anna Burns und Colm Tóibín und sogar über den neuen Shooting Star der irischen Literaturszene Paul Lynch und sein Erstlingswerk, den preisgekrönten, vielgefeierten, dystopischen Science-Fiction-Roman "Prophet Song" findet. Und wer womöglich Sally Rooney mit einer führenden Vertreterin des Genres Chick-Lit à la Cecelia Aherne verwechselt hat, wird von Jenny Farrell eines Besseren belehrt. Der jungen Autorin aus Castelbar, deren Heldinnen in ihrem erfolgreichsten Roman "Normal People" am eingangs erwähnten Trinity College im Herzen Dublins studieren, verknüpft Milieustudie, Beziehungsdrama und Gefühlswelt, um gekonnt die zunehmende Entfremdung gerade der jungen Generationen im hypermodernen spätkapitalistischen Industriestaat Irland freizulegen.
Hauptpforte des Trinity College in Dublin, der ältesten Universität
Irlands, gegründet 1592 von der englischen Königin Elizabeth I.
Foto: Copyright 2015 by Schattenblick
8. Dezember 2024
Jenny Farrell
Widerstand und Befreiung
Essays über irische Literatur
Neue Impulse Verlag, Essen, 2024
235 Seiten
ISBN: 978-3-96170-076-9
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 182 vom 21. Dezember 2024
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