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REZENSION/768: Caroline Elkins - Legacy of Violence (SB)


Caroline Elkins


Legacy of Violence



A History of the British Empire

Als die 1969 geborene Historikerin Caroline Elkins 2005 ihr erstes Buch "Imperial Reckoning: The Untold Story of Britain's Gulag in Kenya" (Imperiale Abrechnung: Die unerzählte Geschichte des britischen Gulags in Kenia) veröffentlichte, gab es nicht nur viel Lob, sondern aus konservativen Historikerkreisen beiderseits des Atlantiks auch heftigen Widerspruch. Etablierte, vor allem männliche Kollegen aus der ersten Historikerriege warfen in Zeitungen wie der Sunday Times der Nachwuchsvertreterin vor, das in den westlichen Industriestaaten weit verbreitete Bild des wohlmeinenden, stets nach humanistischen Prinzipien agierenden und nach allen Fehltritten selbst-korrigierenden Imperialismus' Großbritanniens in den Dreck gezogen und sich dabei unwissenschaftlicher, das heißt unzulässiger Methoden bedient zu haben.


Afrikanische Soldaten und ihre beladenen Pferde auf einer kleinen Sandstraße mitten im kenianischen Niemandsland - Foto: Ministry of Defence POST-1945 OFFICIAL COLLECTION, Public domain, via Wikimedia Commons

Während des Mau-Mau-Aufstands (1952-1960) in Kenia begleiten einheimische Soldaten der King's African Rifles eine Pferdekolonne mit Nachschub für die Kameraden im Feld
Foto: Ministry of Defence POST-1945 OFFICIAL COLLECTION, Public domain, via Wikimedia Commons

Bereits 2002, kurz nachdem Großbritannien an der Seite der USA den "Global War on Terror" (GWoT) gegen unliebsame Islamistengruppen Asiens und Afrikas losgetreten hatte und sich aus vorgeschobenen Gründen gerade auf den großen militärischen Showdown mit dem "Regime" Saddam Husseins vorbereitete, um die begehrten, weil reichhaltigen Ölfelder des Iraks zu besetzen und den Nahen Osten politisch und wirtschaftlich umzukrempeln, hatte Elkins mit ihrer Doktorarbeit über die Menschenrechtsverbrechen der Briten in deren einstiger Vorzeigekolonie Kenia für Aufsehen gesorgt. In jenem Jahr stand Elkins' Recherchearbeit, die hauptsächlich aus zahlreichen Interviews mit den Überlebenden der britischen Filtrationslager in Kenia während des Mau-Mau-Aufstands (1952-1960) bestand, im Mittelpunkt der schockierenden BBC-Fernsehdokumentation "Kenya: White Terror". Bis dahin galten in der allgemeinen Überlieferung die Mau-Mau-Aufständischen mit ihren geheimen, voodoo-ähnlichen Aufnahmeritualen im Busch als die eigentlichen Schurken des antikolonialen Konflikts in Ostafrika. Die Vorstellung, dass damals im Krieg um die kenianische Unabhängigkeit die Grausamkeit in allererster Linie von den weißen, zivilisierten Ordnungshütern ausging, war den meisten Menschen im Westen im allgemeinen, in Großbritannien im besonderen völlig neu. Einige profilierte Apologeten der europäischen Hochkultur wollten und wollen es sogar bis heute nicht wahrhaben.


Kupferstich der Szene, wie ein königlicher Beamter die kaiserliche Bekanntmachung vor versammelten Börsianern, Polizisten und Bürgern vorliest - Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Offizielle Proklamation von Königin Victoria zur Kaiserin von Indien auf den Stufen der Londoner Börse im Jahre 1876
Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Nichtsdestotrotz gewann "Kenia: White Terror" 2002 den International Red Cross Award für die beste Dokumentation beim angesehenen Fernsehfestival von Monte Carlo. 2006 erhielt Elkins für ihre Doktorarbeit über die bis dahin wenig bekannten, weil äußerst unappetitlichen Aspekte des Mau-Mau-Aufstands, die ein Jahr zuvor unter dem Titel "Imperial Reckoning" als Buch erschienen war, sogar den begehrten Pulitzerpreis. Damit war der Vorwurf, die von Elkins in jahrelanger Feldforschung in Kenia aufgenommenen mündlichen Aussagen der Zeugen und Überlebenden der britischen Aufstandsbekämpfung hätten keinen wissenschaftlichen Wert, endgültig ausgeräumt worden. Doch für die unerschrockenen Verteidiger der Ehre der Mission civilatrice Britanniens sollte es noch schlimmer kommen.

2009 haben mehrere ältere Kenianer, die während der Gefangenschaft durch die britische Kolonialherrschaft am eigenen Leib schlimmste Greueltaten erlitten und die Ermordung von Freunden und Kameraden erlebt hatten, vor dem High Court in London Klage gegen das Vereinigte Königreich wegen des ihnen angetanen Unrechts eingereicht. 2010 und 2011 kam es zum aufsehenerregenden Prozess, bei dem Elkins, inzwischen zur Geschichtsprofessorin an der Harvard University aufgestiegen, als Sachverständige für die Anklage auftrat. Im Verlauf des Prozesses, der mit einer offiziellen Entschuldigung sowie finanziellen Entschädigung aller noch lebenden kenianischen Opfer enden sollte, kam es zu einer absolut sensationellen Offenlegung. Die britische Regierung musste erstmals zugeben, Mitte des 20. Jahrhunderts Millionen behördlicher Akten aus den früheren Kolonien heimlich nach Großbritannien verschafft und in offiziell nicht existierenden Asservatenkammern versteckt zu haben. In dem Zusammenhang wurde zudem bekannt, dass man im Rahmen der ultrageheimen Operation Legacy einen nicht unerheblichen Teil jener Akten vor Ort und vor dem Abzug aus der jeweiligen Kolonie und deren Entlassung in die Unabhängigkeit entweder verbrannt oder ins Meer versenkt hat, um sie und ihren belastenden Inhalt der Nachwelt auf ewig vorzuenthalten.


Gemälde, wie Königin Viktoria in ihrer Kutsche, von einer militärischen Ehrenformation begleitet, gerade an der barocken St. Paul's Cathedral vorbeifährt - Foto: Andrew Carrick Gow, Public domain, via Wikimedia Commons

Zum Anlass ihrer fünfzigjährigen Regentschaft kutschiert Königin Victoria im Juni 1897 durch die Straßen Londons, wo sie von ihren Untertanen massenhaft frenetisch gefeiert wird
Foto: Andrew Carrick Gow, Public domain, via Wikimedia Commons

Seitdem hat sich Elkins weiterhin intensiv und ausgiebig mit der kolonialen Erbschaft Großbritanniens beschäftigt. Das Resultat präsentierte sie in diesem Jahr in Form des mit Fußnoten und Index zusammen 1550seitigen Epos "Legacy of Violence: A History of the British Empire", das völlig zurecht von der Presse und der Fachwelt als Meisterwerk moderner postkolonialer Geschichtsschreibung gefeiert wird. Elkins ist eine wahre Tour d'horizon gelungen, die fabelhaft geschrieben ist und daher ohne allzu viel akademischen Jargon komplizierte Zusammenhänge zum Beispiel in den Bereichen Staatsrecht und Makroökonomie erläutert. Besser noch, durch eine äußerst geschickte Auswahl an Zitaten aus amtsinternen Kommunikationen und öffentlichen Stellungnahmen lässt Elkins den ironisch-snobistischen Unterton, den die britische Gesellschaftselite in ihren Äußerungen über fremdländische Menschen seit Jahrhunderten pflegt, auf ihre Urheber zurückfallen.

Der Zeitrahmen des vorliegenden Buchs erstreckt sich quasi von der Eroberung des indischen Subkontinents, markiert durch den Sieg der Truppen der britischen Ostindien-Kompanie unter Robert Clive bei der Schlacht von Plassey 1757 über bengalische und französische Streitkräfte, fast bis zum heutigen Tag. Im Mittelpunkt der Elkinschen Erörterungen steht eine dezidierte Analyse der Frage, wie es Großbritanniens Politikern, Staatsbeamten, Intellektuellen, Missionaren, Militärs, Kaufleuten und Industriellen gelungen ist, die Niederlage im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) wegzustecken und in Reaktion darauf das flächenmäßig und von der Bevölkerung her größte Empire der Geschichte zu errichten, fast zwei Jahrhunderte lang zu erhalten und es schließlich in veränderter Form in global bedeutende Institutionen wie das British Commonwealth, die Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation, die NATO, die "special relationship" Londons mit Washington sowie den weltumspannenden Five-Eyes-Überwachungsapparat Großbritanniens mit Australien, Kanada, Neuseeland und den USA aufgehen zu lassen, wodurch sie die Welt, in der wir heute leben, maßgeblich gestaltet haben.


Glorifizierende Postkarte der Schlacht bei Plassey aus dem Jahr 1908 zeigt den Oberkommandierenden Robert Clive im roten Rock auf einer Brüstung stehend, der mit dem Fernglas die gegnerische Truppenaufstellung in Augenschein nimmt - Foto: R. Caton Woodville, Raphael Tuck & Sons, London, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0], via Wikimedia Commons

Die Schlacht bei Plassey, bei der 1757 die zahlenmäßig stark unterlegenen Streitkräfte der britischen Ostindien-Kompanie die des Nawab von Bengalen, Mir Jafar, und seiner französischen Verbündeten bezwangen
Foto: R. Caton Woodville, Raphael Tuck & Sons, London, CC BY 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/4.0], via Wikimedia Commons

Das allgegenwärtige Entwicklungsmodell hat zum nicht geringen Teil seine Ursprünge in der Whig History Großbritanniens, bei der alle Staatswesen mittels zunehmender Rechtstaatlichkeit von unberechenbaren Autokratien zu stabilen politischen Entitäten mit parlamentarischer Demokratie, Gewaltenteilung und Gleichheit vor dem Gesetz den Weg in die Moderne beschreiten müssten. An dieser teleologischen Geschichtsauffassung haben im 18. und 19. Jahrhundert wichtige Vordenker und Publizisten wie Edmund Burke, Thomas Macaulay und John Stuart Mill mitgewirkt. Die Reformfähigkeit, die in Großbritannien recht früh als Bedingung eines längerfristigen Machterhalts erkannt wurde, hat laut Elkins eine "ideologische Plastizität" zur Folge gehabt, die es Britannia, der Herrin der Weltmeere, ermöglichte, zwar nicht jede Katastrophe zu umschiffen, dafür jedoch nicht wie die weniger geschickten Lenker konkurrierender Reiche wie Napoleons Frankreich, Hitler-Deutschland, das Russland der Zaren und Chinas Qing-Dynastie Schiffbruch zu erleiden.


Große Weltkarte zeigt Umfang und Anzahl der britischen Territorien am Vorabend des Ersten Weltkrieges - Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Welt von 1907 - 'Die britischen Besitztümer sind rot gezeichnet'
Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Nach dem endgültigen Sieg über den Dauerrivalen Frankreich bei der Schlacht von Waterloo 1812 lieferte man sich in beiden Häusern des britischen Parlaments fast drei Jahrzehnte lang die erbittertste aller politischen Kontroversen und zwar jene um den Erhalt bzw. die Abschaffung der Corn Laws. Die merkantilistischen Getreide-Gesetze und die damit einhergehenden Zolltarife schützten die britische Landwirtschaft vor billigen Importen. Sie waren deshalb den liberalen Verfechtern des freien Handels - Kaufleuten, Reedern und Industriekapitänen, welche die Lebenshaltungskosten und damit den Arbeitslohn ihrer Fabrikangestellten auf ein Minimum drücken wollten, ein Dorn im Auge. Der konservative Landadel und die Kleinbauern dagegen, die ihre Einnahmen durch eine Streichung der Zölle auf Lebensmittel bedroht sahen, klammerten sich lange und erbittert an die Corn Laws. Die konservativen Tories beriefen sich dabei auf Thomas Malthus, der zeitlebens die Autarkie Großbritanniens propagiert und von einer Abhängigkeit vom Ausland bei der Versorgung mit Lebensmitteln abgeraten hatte.


Anlass des Bildes The Rhodes Colossus waren die selbstherrlichen Pläne des Erzverfechters des britischen Imperialismus, eine Telegrammleitung von Kairo bis Kapstadt zu verlegen - Foto: Edward Linley Sambourne (1844-1910), Public domain, via Wikimedia Commons

Berühmte Karikatur der Zeitschrift Punch von 1892 mit Cecil Rhodes als Koloss von Afrika, mit einem Telegrammkabel in den Händen, dem linken Fuß in Ägypten und dem rechten in Südafrika
Foto: Edward Linley Sambourne (1844-1910), Public domain, via Wikimedia Commons

Doch am Ende setzten sich die Liberalen, die sich auf die freie Handelslehre David Ricardos stützten, durch. 1846 wurden die Corn Laws abgeschafft. In den darauffolgenden Jahren errichteten die Briten den ersten weltumspannenden Markt für Lebensmittel, führten zur Versorgung der eigenen Bevölkerung in gigantischen Mengen Tee aus Indien, Rindfleisch aus Argentinien, Getreide aus den USA und Zucker aus der Karibik ein und schufen damit eine Lebens- und Wirtschaftsweise, die bis heute für die Menschen in den Industriestaaten ungeachtet aller verheerenden ökologischen Folgen unverzichtbar zu sein scheint.


Dublins O'Connell Street, damals Sackville Street, nach der Verwandlung in einen Schutthaufen durch britischen Artilleriebeschuss - Foto: Miller, James Martin & H.S. Canfield., 1916, Public domain, via Wikimedia Commons

Das Zentrum Dublins nach der Niederschlagung des Osteraufstands 1916
Foto: Miller, James Martin & H.S. Canfield., 1916, Public domain, via Wikimedia Commons

Hatte Großbritanniens christlich-missionarischer, liberal-paternalistischer Drang, die Welt mit den Segnungen der eigenen Weisheit und des Fortschritts zu beglücken, im Zweiten Burenkrieg (1899-1902) und in der Sicherung der Gold- und Diamantenschätze Südafrikas seinen Höhepunkt gefunden, so sah sich Londons Imperialmeister ab dem Osteraufstand der Irish Republican Army (IRA) im Jahre 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, mit geopolitischen Fliehkräften konfrontiert, deren Eindämmung zusehends unmöglicher wurde. Das Massaker von Amritsar, bei dem 1919 britische Soldaten bis zu 1500 Zivilisten, die für die Unabhängigkeit Indiens demonstrierten, niederschossen, läutete für das glorreiche Raj die Totenglocke, auch wenn der Abzug der Briten erst 1947 erfolgte - und von einer Blutorgie, die sich Hindus und Moslems gegenseitig infolge der Aufteilung des Subkontinents in Indien und Pakistan antaten, begleitet wurde.


Unzählige Menschen versuchen auf den Dächern von Güterwagen der indischen Eisenbahn den religiösen Pogromen zu entkommen - Foto: Unknown author, Public domain, PD US, via Wikimedia Commons

Massenpanik unter Hindus und Moslems nach der Teilung des britischen Indiens im August 1947 in Pakistan und Indien
Foto: Unknown author, Public domain, PD US, via Wikimedia Commons

Zu einer schweren Belastung kam es für das British Empire durch die Übernahme der völkerrechtlichen Verwaltungsaufgaben in mehreren Mandatsgebieten des Völkerbunds im Nahen Osten nach dem Sieg über das Osmanische Reich. Das 1917 schriftlich abgegebene Versprechen des britischen Außenministers Arthur Balfour an seinen konservativen Parteifreund Lord Rothschild, in Palästina eine "nationale Heimstätte" des jüdischen Volks zu errichten, und die Teilungspläne Großbritanniens und Frankreichs für die ölreiche Region zwischen Mittelmeer und Persischem Golf kollidierten diametral mit den Zusicherungen, mittels derer im Ersten Weltkrieg der Archäologe und Geheimdienstagent T. E. Lawrence im Namen seiner Majestät George V. die arabischen Stämme zur Teilnahme am Dschihad gegen die Türken hatte bewegen können. In den zwanziger Jahren setzten die britischen Militärbehörden im kurdischen Nordirak erstmals in der Menschheitsgeschichte Kampfflugzeuge gegen wehrlose Zivilisten am Boden ein. Von 1936 bis 1939 tobte in Palästina eine Revolte der arabischen Bevölkerung gegen ihre von den Briten zugelassene Verdrängung durch den zunehmenden Zustrom jüdischer Einwanderer. Großbritannien sollte es nicht fertig bringen, als ehrlicher Makler zwischen den beiden Konfliktparteien im Heiligen Land zu vermitteln, und zog sich deshalb ab 1947 angesichts zunehmend blutiger Gewaltaktionen des zionistischen Untergrunds zurück und überließ die Palästinenser ihrem Schicksal.


Britische Armee beugt Minen- und Bombenanschlägen durch Geiselnahme unter der einheimischen arabischen Bevölkerung vor - Foto: Chaim Kahanov and Zecharia Oryon, Public domain, via Wikimedia Commons

Ein britischer gepanzerter Eisenbahnwagen hinter einem Triebwagen, auf dem zwei einheimische Geiseln sitzen, während des Arabischen Aufstands 1936-1939 im Mandatsgebiet Palästina
Foto: Chaim Kahanov and Zecharia Oryon, Public domain, via Wikimedia Commons

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahmen in Afrika und Asien die Bestrebungen zur Befreiung und Entkolonisierung Fahrt auf, nicht zuletzt, weil dort viele Menschen entweder in dem gerade zu Ende gegangenen globalen Gemetzel mitgekämpft hatten und sich deshalb für dem weißen Mann ebenbürtig hielten oder beobachtet haben, wie 1942 die Kaiserliche Armee Japans die britische Festungsstadt Singapur im Handumdrehen einnehmen konnte. Von 1948 bis 1960 schlugen sich die Briten im Rahmen des Malayan Emergency mit denselben chinesischen Kommunisten herum, die sie wenige Jahre zuvor im Dschungelkrieg gegen die Japaner in Südostasien unterstützt hatten. In Malaya entwickelten Frank Kitson und Robert Thompson perfide Taktiken wie den Einsatz terroristischer Todesschwadronen - "pseudo-gangs" - und die Verlegung weiter Teile der feindlichen Bevölkerung zwecks Rundumüberwachung in "strategische Dörfer". Seitdem zählen die beiden britischen Militärs zu den Gründungsvätern der modernen westlichen Aufstandsbekämpfung. Kitson sollte später in Nordirland durch seine Verwicklung in den Bloody Sunday, die Ermordung von dreizehn Zivilisten durch britische Fallschirmjäger am Rande eines katholischen Protestmarschs 1972 in Derry, traurige Berühmtheit erlangen, wurde dafür natürlich niemals belangt, sondern stieg zuletzt zum persönlichen Aide-de-Camp von Königin Elizabeth II. auf. Thompsons Konzept der "strategic hamlets" wurde mit verheerenden Folgen von den US-Streitkräften im Vietnamkrieg übernommen.

Während der nordirischen "Troubles" (1969-1998) bediente sich das britische Militär Foltermethoden wie Schlafentzug, Stresspositionen und Lärm, die keine physischen Spuren hinterlassen und die deshalb ab 2001 vom Pentagon gegen die Insassen des terroristischen Strafgefangenenlagers Guantánamo Bay auf Kuba und von der CIA in geheimen "black sites" in Übersee angewendet wurden. Die Foltertechniken, die Zehntausende gefangener Mau-Mau-Anhänger in Kenia erleiden mussten, waren weitaus physischerer Natur und recht häufig vernichtend, was sicherlich damit zu tun hatte, dass die Peiniger zur weißen Herrenrasse gehörten und ihre Opfer einfache Schwarzafrikaner entweder vom Land oder aus den Slums von Nairobi waren.

Nicht nur die von Elkins aufgeführten grausigen Details der Unmenschlichkeit britischer Imperialherrschaft, sondern auch das pharaonische Ausmaß, wie auf dem Reißbrett ganze Völker und Gesellschaften geteilt, entwurzelt oder schlicht beseitigt wurden, erschrecken zutiefst. Durch die Highland Clearances, die Abschaffung der Corn Laws und die Kartoffelplage in Irland entzog London Millionen armer Landbewohner Schottlands, Englands, Wales' und Irlands die Existenzgrundlage und vertrieb sie entweder in die eigenen städtischen Slums oder in die USA oder zur Besiedlung der Kolonialterritorien in Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika. Bei der durch die Kartoffelplage ausgelösten Großen Hungersnot in Irland (1845-1849) starben rund eine Million Menschen, zumeist gälisch-sprechende Kleinpächter. Weitere zwei Millionen emigrierten. Bis heute haben sich die gälische Sprache und Kultur von dem Jahrhundertereignis nicht erholt, weswegen man in diesem Zusammenhang von einem Völkermord sprechen müsste.


Vollkommen abgemagerte Leiche einer bettelarmen Frau auf dem Bürgersteig, lediglich in der Lendenregion durch ein Tuch bedeckt - Foto: Public domain, via Wikimedia Commons

Weibliches Hungeropfer auf offener Straße 1943 in Calcutta
Foto: Public domain, via Wikimedia Commons

Von den westlichen Medien wird man immer wieder an die Millionen von Menschen erinnert, die in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts während der Führung Joseph Stalins der Hungersnot in der Ukraine und anderen Teilen der Sowjetunion zum Opfer gefallen sind. Das gleiche gilt für die Millionen von Volkschinesen, welche in den fünfziger Jahren die Verfehlungen des Entwicklungsprogramms Mao Zedongs mit Namen "Großer Sprung nach vorn" mit dem Leben bezahlen mussten. Weit weniger bekannt sind dagegen die drei Millionen Zivilisten in Bengalen, die im Zweiten Weltkrieg zu Tode hungern mussten, weil die Regierung Winston Churchills ihnen die Lebensmittel vorenthielt, um die eigenen Soldaten im Kampf gegen die Deutschen und Japaner durchzufüttern. Bei der Niederschlagung des Malaya-Aufstands wurden 573.000 Menschen chinesischer Abstammung in 480 Wehrdörfer zwangsumgesiedelt, in denen katastrophale hygienische Verhältnisse herrschten. Beim Mau-Mau-Aufstand steckten die britischen Behörden mehr als eine Millionen Kikuyu jahrelang in sogenannte "emergency villages". 320.000 von ihnen landeten als mutmaßliche oder tatsächliche Aufständische in Gefangenenlagern, während mehr als 1000 von ihnen standrechtlich hingerichtet wurden. Nicht zu vergessen die Konzentrationslager der Briten im Zweiten Burenkrieg, in die man mehr als 100.000 Frauen und Kindern gezwungen hat, von denen mehr als 50.000 an Krankheit und Hunger gestorben sind.


Schwarz-weißes Panoramabild mit Reihen von kleinen Leinenzelten soweit das Auge reicht - Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Britisches Konzentrationslager bei Krugersdorp, nahe Johannesburg, im Zweiten Burenkrieg (1899-1902)
Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Die hier erwähnten Personen, Örtlichkeiten und Geschehnisse aus der britischen Imperialgeschichte stellen nur einen ganz kleinen Teil der Figuren, Schauplätze und geschichtlichen Vorgänge dar, die Elkins meisterhaft zu einem nachvollziehbaren Bildwerk webt. Leser, die sich jeweils in der Geschichte Indiens, Afrikas, des Nahen Ostens oder Irlands gut auskennen, werden dennoch wegen der Vielzahl der im Buch enthaltenen Details der biographischen und sachlichen Überschneidungen bisher Unbekanntes entdecken wie etwa, dass sich Arthur "Bomber" Harris lange vor der von ihm organisierten Ausradierung deutscher Innenstädte im Zweiten Weltkrieg seine Sporen als Luftwaffenheld mit dem Bombenabwurf auf irakische Dorfbewohner verdiente oder dass Malaya für Großbritannien in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wegen der für das Finanzministerium in London erzielten Dollar-Einnahmen aus dem Kautschuk-Export extrem wichtig gewesen ist.


1952 schockierte Großbritanniens kommunistische Zeitung Daily Worker mit diesem Foto die Öffentlichkeit. An fehlenden Zähnen und Abschürfungen sind die Folterspuren klar zu erkennen - Foto: Anonymous photographer, Public domain, PD-anon-70-EU, via Wikimedia Commons

Königlich britischer Marineinfanterist hält während des sogenannten Malayan Emergency 1948-1960 die abgehackten Köpfe zweier gefolterter Aufständischer als Kriegstrophäen hoch
Foto: Anonymous photographer, Public domain, PD-anon-70-EU, via Wikimedia Commons

Elkins spricht in Verbindung mit dem britischen Imperialismus wiederholt von "legalized lawlessness", der "legalisierten Gesetzlosigkeit", mit der die staatlichen Organe Großbritanniens und ihre Funktionäre immer wieder im Not- und Ausnahmefall von schlimmster Gewalt Gebrauch machen und dies anschließend vertuschen können - um der "nationalen Sicherheit" willen, versteht sich. Vor diesem Hintergrund ist es etwas schade, dass Elkins in ihrem Buch nicht den krassesten Fall solcher Gesetzlosigkeit seitens des britischen Staats behandelt hat, nämlich den Dhofar-Aufstand im Oman, der von 1963 bis 1976 dauerte und an dem sich zur Rettung der Herrschaft von Sultan Said ibn Taimur und seines Nachfolgers Sayyid Taimur bin Faisal Al Said das britische Militär, speziell die Luftlandedivision Special Air Service (SAS), nicht nur an den eigenen Bürgern und Medien, sondern - man glaubt es kaum - auch noch an die "mother of parliaments" in London vorbei energisch beteiligte.

Wegen der strategischen Lage Omans an der Straße von Hormuz, dem Eingang zum Persischen Golf, meinen einige Experten, der fast gänzlich unbekannte Dhofar-Aufstand und dessen Niederschlagung seien geopolitisch von größerer Tragweite als die Kriegsanstrengungen der USA in Vietnam gewesen, die in unzähligen Büchern und Kinofilmen heroisiert wurden. Es liegt die Annahme nahe, dass Elkins Oman in ihrem neuen Buch nicht erwähnt, um sich nicht mit fremden Federn zu schmücken. Der Dhofar-Aufstand steht im Mittelpunkt des Buchs Ian Cobains aus dem Jahr 2016 "The History Thieves: Secrets, Lies and the Shaping of a Modern Nation" über den britischen Sicherheitsstaat und dessen Auswüchse. Cobain, der sich in der Vor-Snowden-Ära noch als Sicherheitskorresponent bei der liberalen britischen Zeitung Guardian verdingte, hat der Amerikanerin Elkins einst bei ihrer Archivarbeit in England im Zusammenhang mit dem Prozess um die Klage der Opfer der britischen Aufstandsbekämpfung in Kenia sehr geholfen. Ihren gemeinsamen Nachforschungen ist es zu verdanken, dass Project Legacy und der Skandal um die versteckten Kolonialdokumente überhaupt publik wurden. Kein Wunder also, dass Elkins in der Danksagung zu "Legacy of Violence" die großzügige Unterstützung Cobains mit einer ganz besonderen Würdigung ehrt. Das nennt man wahre Kollegialität.


SAS-Angehörige verteilen 1970 lächelnd Medikamente an arabische Dorfbewohner - Foto: Unknown British Army official photographer, Public domain, via Wikimedia Commons

Zwei Mitglieder des berüchtigten britischen Fallschirmjägerregiments SAS begegnen während des Dhofar-Aufstands (1963-1976) armen Dorfbewohnern im abgelegenen Teil des Sultanats Oman
Foto: Unknown British Army official photographer, Public domain, via Wikimedia Commons

8. Dezember 2022

Caroline Elkins
Legacy of Violence
A History of the British Empire
Alfred A. Knopf, New York, 2022
896 Seiten
ISBN: 978-0-307272423
eBook ISBN: 978-0-593320082


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 178 vom 24. Dezember 2022


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