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REZENSION/731: Bill McKibben - Die taumelnde Welt (SB)


Bill McKibben


Die taumelnde Welt

Wofür wir im 21. Jahrhundert kämpfen müssen.



Im deutschsprachigen Raum ist der Name Bill McKibben außerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegung nur wenigen bekannt. Dabei ist seine Bedeutung für die KlimaaktivistInnen Nordamerikas und der übrigen englischsprachigen Welt kaum zu unterschätzen. Wie im Falle von Naomi Klein finden die Warnrufe des 60jährigen US-Amerikaners größte Beachtung und werden auch in der Mitte der Gesellschaft, wo der Klimawandel lediglich als ein Problem unter mehreren globalen Krisen gilt, stark wahrgenommen. Seit den 1970er Jahren im Umweltschutz nicht nur als Journalist und Autor, sondern vor allem als Aktivist engagiert machte Bill McKibben erstmals 1989, als das Thema Klimawandel in der breiten gesellschaftlichen Wahrnehmung noch in den Kinderschuhen steckte, mit dem Buch "The End of Nature" Furore.

Seitdem hat er sich mit mehr als einem Dutzend Sachbüchern und zahllosen, in führenden Pressepublikationen veröffentlichten Artikeln zur Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse im allgemeinen und des Klimawandels im besonderen zu Wort gemeldet. 2008 gehörte er zu den maßgeblichen Begründern der Klimaschutzorganisation 350.org, die sich namentlich auf die 2008 geäußerte Warnung des NASA-Klimawissenschaftlers James Hansen berief, laut der eine Kohlenstoffdioxidkonzentration in der Erdatmosphäre über 350 parts per million (ppm) das globale Klimasystems auf unumkehrbare Weise überhitzen und desaströse Folgen für die Natursysteme zeitigen könnte. Da sich das atmosphärische CO2 heute bereits auf 415 ppm angereichert hat, fordert 350.org, keine weiteren fossilen Brennstoffe aus der Erde zu holen, und führt ihre aktivistischen wie lobbyistischen Mittel vor allem gegen die großen fossilen Energieerzeuger und die von diesem Geschäft profitierenden Finanzakteure ins Feld.

Bis heute bekleidet McKibben einen Vorstandsposten in der gemeinnützigen Organisation, der im Rahmen ihrer weltweiten Vernetzung mit anderen Gruppen und Initiativen der Klimaschutzbewegung Hunderttausende von AktivistInnen zuarbeiten. 350.org wird von einem großen Netzwerk von SponsorInnen gefördert und verfügt über dementsprechend großen Einfluß auf Politik und Gesellschaft. Mit diversen Ehrungen wie etwa dem John Muir Award 2001 der traditionsreichen US-Naturschutzorganisation Sierra Club, dem Gandhi Peace Award 2013 oder dem dem Right Livelihood Award 2014 ausgezeichnet, mehrfach auf US-Ranglisten der einflußreichsten Personen vertreten und im US-Wahlkampf 2016 als prominenter Unterstützer und potentieller Umweltminister der KandidatInnen Bernie Sanders und Hillary Clinton in Erscheinung getreten geht seine Bedeutung für die internationale Klimapolitik weit über die eines bloßen Verfassers klimapolitischer Schriften hinaus.

Die anläßlich der Veröffentlichung des Filmes "Planet of the Humans" am 50. Earth Day 2020 in der Presse und in sozialen Netzwerken entbrannte Debatte um die Stichhaltigkeit des darin gegen McKibben erhobenen Vorwurfes, durch opportunistisches Taktieren gegenüber großen Akteuren der Finanz- und Energiewirtschaft am Ausverkauf der Klimaschutzbewegung beteiligt zu sein, ging, zumindest was den Tenor der dazu veröffentlichten Meinungen betraf, mehrheitlich zugunsten des 350.org-Aktivisten aus. Dem Regisseur Jeff Gibbs und den Produzenten Ozzie Zehner und Michael Moore wurde vorgeworfen, in dem Dokumentarfilm überholte und teilweise inkorrekte Informationen verarbeitet zu haben, was die Spaltung der Bewegung in BefürworterInnen und KritikerInnen einer auf grünes Wachstum setzenden Energiewende vertieft habe.

Um so interessanter ist es, einen Blick in das 2019 im englischsprachigen Original unter dem Titel "Falter: Has the Human Game Begun to Play Itself Out?" veröffentlichte jüngste Werk Bill McKibbens zu werfen. Wie schon die im englischsprachigen Titel gestellte Frage, ob der Mensch sich quasi selbst ausmanövriere, verrät, geht es dem Autor um nichts Geringeres als den Stand sich gegenseitig verstärkender globaler Krisen zu untersuchen und daraus Schlußfolgerungen für die nähere Zukunft der Menschheit zu ziehen.

So angenehm es ist, keinen Verkünder unhinterfragbarer Wahrheiten über die Triebkräfte und Zusammenhänge dieses desolaten Geschehens vor sich zu haben, so unschlüssig wirkt sein vorsichtiges Ausloten der mißlichen politischen Lage, den sich permanent verschlechternden Prognosen und der unabweislichen Häufung wetterbedingter Katastrophen keine auch nur annähernd ausreichenden Maßnahmen zur Einschränkung der dafür verantwortlichen Produktions- und Verbrauchsverhältnisse entgegenzustellen. Bill McKibben kann der gute Willen, "Die taumelnde Welt" wieder auf feste Füße zu stellen, nicht abgesprochen werden. Um so bedauerlicher, daß er die weltweit aktiven Bewegungen ökosozialistischer, radikalökologischer, indigener und ökofeministischer Couleur links liegen läßt und an Stelle dessen einen Aktivismus propagiert, dem es vor allem darauf anzukommen scheint, keinen Bruch mit den herrschenden privatwirtschaftlichen Eigentumsstrukturen und kapitalistischen Verwertungsverhältnissen zu provozieren.

Lesenswert ist das Buch dennoch. Es führt auf exemplarische Weise in das Denken und die Begrifflichkeit einer Form von Ökomodernismus ein, die auf der Straße wie in staatlichen Institutionen Gehör zu finden versucht, indem regelkonform nach Maßgabe des kleineren Übels agiert wird. Da das größere Problem darin bestände, fundamentale gesellschaftliche Umwälzungen zur Herstellung globaler Klimagerechtigkeit, die ohne soziale Gleichheit nicht zu haben ist, den Vorrang vor der Adaption derjenigen Verhältnisse zu geben, die sie strukturell und systemisch hervorbringen, werden Konzepte und Lösungen propagiert, die das herrschende Dogma unablässig zu steigernden Wachstums ebenso reproduzieren, wie die im Raum stehende Machtfrage mit Rezepturen aus der Kiste PR-affiner Mobilisierungstechnik und emphatischen Appellen an das Gute im Menschen umschifft wird, um im Nirgendwo warmer Gefühle und imaginierter Kollektivität zu enden.


Aufklärung wird überschätzt

Wo der Autor den Sachstand gesellschaftlicher Naturverhältnisse ermittelt, kann die Kompetenz seiner Jahrzehnte währenden Arbeit im Umweltschutz allemal überzeugen. "Das Spielfeld", so die Überschrift des ersten von vier Teilen, wird immer kleiner, reichern sich doch die Verschleiß- und Verbrauchsprodukte des Mensch-Naturstoffwechsels in der Atmosphäre, in den Ozeanen und auf der Landmasse in einem Tempo an, das die Prognosen der damit befaßten Wissenschaften regelmäßig überholt. McKibben nennt die Triebkräfte dieser Entwicklung - unverminderter Verbrauch fossiler Energie, agrarindustrielle Landwirtschaft, industrielles Wachstum - beim Namen und geht ausführlich auf die absehbaren Folgen dieses Raubbaus wie die Vergrößerung des Hungers und die Ausdehnung von Menschen aufgrund lebensgefährlicher Temperaturen nicht mehr bewohnbarer Weltregionen ein. Seine Anklage beschränkt sich jedoch im wesentlichen auf die großen Energiekonzerne und deren Strategie, die durch ihr Geschäft bedingte Aufheizung der Atmosphäre wissentlich ignoriert und verharmlost zu haben.

Die von ihm gezogene Schlußfolgerung, bei verantwortungsvollem Handeln der fossilen Energieerzeuger hätten die Regierungen schon vor mindestens 30 Jahren wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel ergreifen können, untertreibt das Ausmaß der Beharrungskräfte, mit denen das industrielle Wachstum fossil befeuert wird, erheblich. Die Mißachtung dringend erforderlicher Weichenstellungen zur radikalen Eindämmung der Klimakrise wie der aus der agroindustriellen Produktionsweise hervorgehenden Katastrophe drastisch abnehmender Biodiversität ist keineswegs eine Frage mangelnder Information. Diese wird seit Jahren auf allen Kanälen massenmedial bereitgestellt und führt dennoch nicht zu einer Gesellschaftsveränderung, in der sich nicht alles um fortgesetzte Kapitalakkumulation dreht.

McKibben fühlt sich persönlich dadurch mißachtet, daß er seit 30 Jahren über die Relevanz der wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel diskutiere, obwohl die Energiekonzerne längst wußten, wohin die Reise geht. Dabei steht und fällt deren Konterstrategie, sich insbesondere darauf zu berufen, es gebe noch keine unbezweifelbaren Erkenntnisse der Wissenschaften zur Aufheizung der Atmosphäre, mit der Unterstellung, allein wissenschaftliche Objektivität führe zu wirkmächtiger Erkenntnis. Diese Vorstellung hat viel mit der legitimatorischen Funktion akademischer Institutionen und wenig mit der Einlösung ihrer angeblichen Neutralität zu tun, das zeigt auch die Begrenztheit jeder empirischen Basis, die dissidenten Fraktionen von WissenschaftlerInnen Raum gibt.

Einige herrschaftskritische Anmerkungen zur Instrumentalisierung wissenschaftlicher Expertisen im politischen Raum hätten ausgereicht, um nicht ganz auf den kritischen Umgang mit der letztinstanzlichen Definitionsmacht, die dem Wissenschaftsbetrieb zugewiesen wird, zu verzichten. Wie auch die fortwährende Korrektur klimawissenschaftlicher Prognosen, deren die Zerstörung der Natur bemessende Fristen aufgrund neuer Erkenntnisse fast immer zeitnäher ausfallen als zuvor, ahnen läßt, sprengt die Totalität physikalischer Wirkfaktoren jede noch so komplexe Simulation. Warum auch sollten WissenschaftlerInnen frei sein von opportunistischen Reflexen, sind sie doch ebensosehr Mensch und damit vom Hoffen auf bessere Zeiten bestimmt wie die AdressatInnen ihrer Erkenntnisse?

Wissenschaften sind keineswegs irrelevant oder unwichtig, ganz im Gegenteil. Die in jüngster Zeit erfolgten Warnungen großer Forschergemeinschaften zur drastischen Verschlechterung des Zustandes der Natursysteme sind überaus wertvoll, denn ohne derartige Alarmsignale wäre die allgemeine Bereitschaft, die gesellschaftlichen Produktionsweisen auf ihre Eignung zum Erhalt des Lebens zu überprüfen, noch geringer als ohnehin schon. Dennoch kann der singuläre Charakter, mit dem etwa Fridays For Future die Wissenschaften zur argumentativen Referenz ihres Anliegens machen, keine Gesellschaftsanalyse und -kritik ersetzen, die an den menschlichen Produktionsweisen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen ansetzen.


Von der Wirkmächtigkeit neokolonialer Landnahme

Der politische Standort des Autors tritt im zweiten Teil über die gesellschaftliche "Wirkmacht" des Themas Klimagerechtigkeit deutlich hervor. Ihm ist allemal bewußt, daß es dabei wesentlich um Fragen sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit geht, dennoch scheut er davor zurück, sich auf die brennenden Fragen von Ausbeutung und Unterdrückung einzulassen. "Armut, Ungleichheit und Ungerechtigkeit werden das Spiel der Menschheit nicht beenden", deren "durch Reformen oder durch Revolutionen" erfolgende Korrektur sei "ein wiederkehrender Rhythmus im menschlichen Geschehen. Wir müssen diesen Rhythmus beschleunigen, und wenn wir es richtig anfangen, dann wird sich der Kampf gegen Ungleichheit unterstützend in den Kampf gegen existenziellere Bedrohungen wie den Klimawandel einfügen." (S. 122).

Zweifellos ist die Klimakrise eine Bedrohung epochalen Ausmaßes, doch ist ihre Entstehung im Rahmen kapitalistischer Produktivkraftentwicklung keineswegs vom Faktor sozialer Ungleichheit abzukoppeln. Ohne transatlantischen Sklavenhandel hätte der europäische Kolonialismus keinesfalls weltweit expandieren können, wovon die Staaten Westeuropas und Nordamerikas bis heute profitieren. Ohne die ursprüngliche Akkumulation, die Vernichtung der ländlichen Subsistenz und ihre Umwandlung in proletarische Lohnabhängigkeit hätte der Aufbau von fossiler Energie befeuerter Industrien bis zu den Gesellschaften fordistischen Massenkonsums nicht die Zerstörungskraft entwickelt, mit der heute die menschliche Existenz zur Disposition gestellt wird. Ohne die patriarchale und anthropozentrische Suprematie, sich die Erde untertan zu machen, hätte es nicht dazu kommen können, daß Meere und Wälder wie selbstverständlich in Deponien industriellen Wachstums verwandelt wurden, um die Umweltkosten kapitalistischer Produktion externalisieren zu können.

Um diesen Problemkomplexen nicht auf die Spur kommen zu müssen, gesteht McKibben linker Kapitalismuskritik zwar zu, daß die "Sieger in diesem Klassenkrieg (...) die Mechanismen unseres Wirtschaftssystems zu ihrem Vorteil genutzt" hätten, dennoch kämen "die Bösewichte in dieser Geschichte damit zu leicht davon" (S. 126). Daher propagiert er eine Form des moderaten Kapitalismus skandinavischer Bauart und verweist zum Verständnis der sozialen Grausamkeiten US-amerikanischer Provenienz wie der "irreduziblen Sünde" (S. 127) des an AfroamerikanerInnen verübten Rassismus auf die "ideologische Energie", die nicht nur "Profitgier und Rassenhaß" antreibt, sondern die "grundlegende menschliche Solidarität" mit einer "völlig anderen Vorstellung" (S. 128) ersetzt.

Die Rede ist von der Philosophin und Schriftstellerin Ayn Rand. Ihrer sozialdarwinistischen Gesellschaftsdoktrin, die sie in Form eines Lobliedes auf den Individualismus des Erfolgsmenschen predigte, widmet Bill McKibben ein eigenes Kapitel. Anhand ihrer Vorbildfunktion, die sie zur meistgelesenen Autorin der Vereinigten Staaten gemacht hat, unterzieht er jene ultraliberale Freiheitsdoktrin, die im Trumpismus schillernde Blüten trieb und maßgeblich für die weitverbreitete Abwehr aller klimapolitischen Regulation in den USA verantwortlich ist, einer umfassenden Kritik aus sozialliberaler Sicht.

Gleiches gilt für die Brüder Charles und David Koch, die zu den wichtigsten Vertretern der EigentümerInnenklasse in den USA gehören und eminenten Einfluß insbesondere auf die Sozial- und Umweltpolitik des Landes nehmen. Daran hat sich mit dem Tod von David Koch im August 2019 nichts geändert, Charles Koch bleibt für US-amerikanische KlimaaktivistInnen ein Feindbild sui generis. Auch die Koch-Brüder sind und waren den Lehren Ayn Rands verpflichtet, denen McKibben als wünschenswerte gesellschaftliche Zukunft "ein Marktsystem mit starker Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit, der geringsten Ungleichheit auf dem Planeten und, gemessen an den meisten Maßstäben, den glücklichsten Bürgern, Menschen, die ein Privatleben führen, aber andere nicht zurücklassen" (S. 167), entgegenstellt.

Insbesondere letzteres ist auch bei den von ihm immer wieder als positives Vorbild genannten skandinavischen Staaten der Fall - selbst wenn es dort einige soziale Verbesserungen im Vergleich zu Westeuropa oder Nordamerika geben mag, bleibt der dort erwirtschaftete Reichtum Ergebnis der globalen Umverteilung von Süd nach Nord. Die kapitalistische Moderne in Europa verdankt ihren materiellen Wohlstand der rücksichtslosen und grausamen Ausplünderung des Trikont, auch wenn dies heute in der legalistischen Manier neokolonialer Handelsverträge und finanzwirtschaftlicher Schuldenpolitik erfolgt. Die Globalisierung der Wirtschaft hat Fallhöhen des Lohndumping und kostengünstigen Extraktivismus eröffnet, mit denen noch mehr Ertrag aus den Direktinvestitionen der EU gezogen wird. Was bleibt, ist die Verelendung der Bevölkerungen, die Zerstörung der Wälder und Verödung intensiv bewirtschafteter Agrarflächen im Globalen Süden.

Nur mit fortgesetzter Landnahme kann das kapitalistische Wachstum seit 200 Jahren aufrechterhalten werden. Schon vor der finalen Aufteilung räumlicher Territorien wurden Frauen, die mit kostenloser Sorgearbeit und affektiven Dienstleistungen aller Art die soziale Reproduktion der Gesellschaft zu gewährleisten haben, als unverzichtbares Rad im Getriebe industrieller Entwicklung betrachtet. Heute greift die systemisch notwendige Expansion kapitalistischer Verwertung auch auf die Physis selbst zu, um sie biopolitisch verfügbar zu machen und mit medizinischen und informationstechnischen Mitteln zu bewirtschaften.


Mit transhumanistischer Optimierungslogik zum totalen Wettbewerb

Diesen Teil der Zurichtung des Menschen auf die Bedingungen optimaler Verwertbarkeit handelt der Autor im dritten Teil ab. "Was auf dem Spiel steht", so dessen Titel, verweist anhand einer Bilanzierung des Standes der roten und grünen Gentechnik und der rasanten Entwicklung im Bereich AI (Artificial Intelligence) auf die technologisch induzierten Bedingungen einer Gesellschaftsentwicklung, die die dystopischen Szenarien großer Werke der Science Fiction-Literatur schon hinter sich gelassen hat. Sozial integriert in die Klasse innovativer WissenschaftlerInnen und UnternehmerInnen kennt McKibben deren Interessen und Ambitionen zu gut, als daß er auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen wäre.

Das veranlaßt ihn zwar nicht zu einer grundsätzlichen Kritik am gesellschaftlichen Verfügungsanspruch technologischer Innovationslogik, doch sind ihm die Untiefen und Abgründe der humangenetischen und informationstechnischen Bewirtschaftung des Menschen allzu bewußt, als daß er sie nach Maßgabe transhumanistischer Optimierungslogik rundheraus gutheißen könnte. So hält er etwa die Korrektur erbbiologischer Schäden durch die Präimplantationsdiagnostik (PID) für wünschenswert, verwahrt sich aber gegen den genetischen Zugriff auf die Keimbahn zum Zwecke bloßen Humandesigns. Doch wurde PID nicht nur von christlich-fundamentalistischen LebenschützerInnen verworfen, sondern auch aus feministischer und linker Sicht kritisiert. Zum einen, weil die dazu notwendige Produktion von Eizellen den weiblichen Körper kommerziell objektiviert und konkreten gesundheitlichen Gefahren aussetzt, zum andern weil mit der humangenetischen Selektion nicht dem physiologischen Funktionsideal entsprechender Menschen eine normative Bewertung des Körpers vorgenommen wird, in der die erwünschten gesellschaftlichen Leistungsideale auf kaum minder eugenische Weise als bei der genetischen Manipulation des Erbgutes durchgesetzt werden.

Zumindest setzt sich McKibben ausführlich mit den negativen Seiten transhumanistischer Optimierungsvisionen auseinander und gelangt zu dem Schluß: "Wir sind heute schon in der Lage, so vertieft und konzentriert zu sein, wie es überhaupt nur möglich ist. Wir sind gut genug" (S. 243). Er fragt, wie es eigentlich dem genetisch optimierten Kind gehe, dem seine Eltern die besten für Geld erstehbaren physiologischen und kognitiven Eigenschaften mit auf den Weg gegeben haben, und an welcher Stelle der sich verschärfenden Konkurrenz sein Scheitern unwiderruflich hervortritt.

Wie einsam muss man sich dabei fühlen? Auf der einen Seite hat man keine echte Verbindung zur Vergangenheit mehr. Die heutigen Menschen haben sich im Laufe der Jahrtausende so wenig verändert, dass etwa Stonehenge immer noch Gefühle in uns auslöst. Es wurde von Wesen geschaffen, die uns genetisch sehr ähnlich waren, die etwa Dopamin auf die gleiche Weise verarbeiteten wie wir. Sie sind uns viel ähnlicher, als uns unsere Enkelkinder ähneln werden, wenn wir diesen Weg einschlagen. Aber auch zur Zukunft werden diese modifizierten Enkelkinder keine echte Verbindung mehr haben. Sie werden auf einer Insel im Meer der Zeit gestrandet sein, wie es noch kein Mensch je zuvor gewesen ist oder je wieder sein wird. Wenn wir Menschen konstruieren und designen, machen wir aus ihnen eine Form von Technologie, und Obsolenz ist ein absehbares Merkmal jeder Technologie. Ein paar wenige Jahre lang ist man nützlicher als alle Menschen, die je gelebt haben, und danach ist man viel nutzloser. (S. 239)  

Dem Autor schwant, daß die an kapitalistisch vergesellschaftete Menschen angelegten Maßstäbe einem Absolutheitsanspruch unterliegen, denen das einzelne Subjekt niemals vollständig genügen kann, dessen Ewigkeitscharakter aber alles aus dem Felde schlägt, was den geschichtlich gewordenen Menschen zu Unverwechselbarkeit und Dauer verhelfen könnte. Dem "Tier mit Bewusstsein, das Tier, das weiß, dass es sterben wird" (S. 254), stellen sich ganz andere Fragen als die des individuellen Überlebens, so sein Credo. Sozial progressiv gesonnen wird sein emanzipatorischer Horizont allerdings viel zu sehr vom Status quo begrenzt, als daß er sich zu der unbescheidenen Forderung verstiege, die notwendige Remedur des Gesamtsystems nicht auf das Bewegen von Stellschrauben marktwirtschaftlicher Regulation zu begrenzen.


Wenn aus Spiel Ernst wird ...

Um den "Hauch einer Chance", so der Titel des vierten Teils, nicht ungenutzt vorbeiziehen zu lassen, fährt der Autor das ganze Arsenal ökomodernistischer Reformprojekte auf. Ob die umfassende Wende zur E-Mobilität, deren Flächen- und Ressourcenverbrauch bei ungeminderter Fortsetzung des motorisierten Individualverkehrs viel zu zerstörerisch zu Buche schlüge, als daß diese Form des Automobilismus dem Versprechen ökologischer Nachhaltigkeit genügen könnte, oder die massenhafte Verwendung von Solarmodulen, gegen die nichts spräche, wenn die dadurch erzeugte Energie nicht wiederum in die Erzeugung verbrauchsintensiver Energieträger wie Wasserstoff eingespeist würde, gehen seine Vorschläge nicht über das Niveau der bundesdeutschen Grünen hinaus. Deren Absicht, womöglich mit den Unionsparteien die nächste Bundesregierung zu stellen, ist ein Musterbeispiel für die sozialbourgeoise Konsequenz eines ökologischen Glückes im Winkel, das vom Brand des Planeten solange nicht wirklich zu beeindrucken ist, wie dessen existenzbedrohende Folgen auf weit entfernte Regionen beschränkt bleiben.

Wie die Grünen neigt McKibben dazu, kleine Verbesserungen zum Preis unveränderter Miseren gutzuheißen. Wenn die Klage über die Vereinzelung des Menschen in der Gesellschaft des Massenkonsums und der Massenproduktion zur Beschwörung gemeinschaftlichen Bewußtseins führt, ohne die aus kapitalistischem Wettbewerb resultierende Folge gesellschaftlicher Atomisierung im Grundsatz zu kritisieren, wenn die Forderung nach absoluter Gewaltlosigkeit in eine gesellschaftliche Mobilisierung zur Energiewende mündet, der die kriegsökonomische Logik industrieller Massenproduktion von Waffen zum Vorbild gereicht, wenn der Begriff der "Ökosystemleistungen" (S. 319) ohne Kritik an der grünkapitalistischen Inwertsetzung und Verobjektivierung natürlicher Lebenswelten Verwendung findet, dann ist es nur folgerichtig, als Lehre aus der wissenschaftlichen Erkenntnis des umweltbedingten Charakters eines statistisch signifikanten Rückganges des Intelligenzquotienten (IQ) den Schluß zu ziehen, "dass wir, anstatt von Utopie zu träumen, uns darauf konzentrieren sollten, uns die Dystopie vom Leibe zu halten" (S. 329).

Derart defensive Rezepturen dürften kaum dazu geeignet sein, mehr als den Erhalt einiger Inseln gesellschaftlicher Normalität im anwachsenden planetaren Feuer und dem daraus entbrennenden sozialen Krieg zu bewirken, wenn überhaupt. McKibbens kritische Auseinandersetzung mit der unter kalifornischen Milliardären grassierenden Vision einer Auswanderung des Menschen auf andere Planeten, die im Epilog unter dem Titel "Geerdet" mit einleuchtenden Argumenten vollzogen wird, in allen Ehren - derartige Utopien sind keineswegs damit gemeint, wenn sozialrevolutionäre Bewegungen in aller Welt gegen das Diktat von Kapital und Patriarchat aufbegehren. Die dem Werkzeugkasten motivationspsychologischer Lebenshilfe entsprungene Empfehlung, "dass das merkwürdigste von all diesen Leben das menschliche ist, weil wir zerstören können, uns aber auch dafür entscheiden können, nicht zu zerstören" (S. 356), bleibt selbst hinter vulgärmaterialistischen Einsichten in den Zwangscharakter herrschender Verhältnisse zurück.

Wenn das in diesem Konzept enthaltende Potential des freien Willens tatsächlich in jede Richtung zu entfalten wäre, könnte es kaum zu Unterwerfung, Vertreibung und Zerstörung im heutigen Ausmaß kommen. Die Frage, warum dagegen zu wenig Widerstand geleistet wird, schlicht mit dem Postulat individueller Entscheidungsfreiheit zu umschiffen ist das Privileg eines vornehmlich weißen und männlichen Bürgertums, das dem Schmerz erlittener Ohnmacht nie ausgesetzt war oder es sich leisten kann, ihn zu ignorieren. Von daher ist mit einem Aktivismus wie demjenigen, den Bill McKibben und 350.org propagieren, zwar durchaus Staat zu machen, aber keine die herrschenden Gewalten überwindende Emanzipation zum Ziele umfassender Befreiung zu erwirken.

Um die vom Autor selbst attestierte Zerstörungskraft menschlicher Entwicklung rückgängig zu machen bedarf es mehr als der Empfehlung, es einfach bleiben zu lassen. So etwas läßt sich nur vorschlagen, wenn das Problem der "taumelnden Welt" als Ausnahme von einer ansonsten befriedigenden menschlichen Lebenspraxis verstanden wird. McKibben verkennt die jeglicher zivilisatorischen Logik inhärenten Herrschaftsinteressen und Gewaltverhältnisse gründlich, wenn er der bedrohlichen Zukunft eine bewahrenswerte Vergangenheit entgegenstellt, als stehe ein vermeintlich positiver Bestand des Erreichten zur Disposition der Klimakrise. Diese ist Ergebnis eben jener historischen und technologischen Errungenschaften, mit denen einen kritisch-dialektischen Umgang zu betreiben nicht nur in diesem Buch viel zu kurz kommt.

So ist das jüngste Werk des prominenten Aktivisten überall dort, wo er den Sachstand klimawissenschaftlicher und gesellschaftstheoretischer Entwicklung erhebt, informativ und spannend zu lesen. Die daraus zu ziehenden Konsequenzen gründeln allerdings so sehr in persönlichen Befindlichkeiten, sie sind so sehr auf Anerkennung und Konsensfähigkeit aus, daß der universale Charakter aus Ohnmacht geborenen Schmerzes gar nicht erst bestritten werden muß, weil er keine Erwähnung findet. Die Antwort auf die Frage "Wofür wir im 21. Jahrhundert kämpfen müssen" verbleibt im Dunstkreis einer gesellschaftlichen Eigentumsordnung, der die Teil- und Zählbarkeit von allem und jedem konstitutives Merkmal ihrer Verwertungs- und Verbrauchspraxis ist. Nur so läßt sich der eigene Anteil an der Beute bestimmen, nur so kann die Not des anderen auf Abstand gehalten werden.

"The human game" ist nur insofern Spiel, als die Distanz zu seinen Figuren einen Spieler voraussetzt, der außerhalb ihrer totalen Verfügbarkeit verbleibt. Wird dieser Abstand eingeebnet, weil der Spieler als bloßes Produkt dieser Konstellation merkt, daß er bereits gestorben ist, bevor er zu leben begonnen hat, dann tritt die subjektlose Selbstreferenzialität - "to play itself out" - vor aller Gefahr, die vermeintlich von außen droht, als immanenter Schrecken eigener Gewalt hervor. "Die menschliche Liebe, die sich bemüht, die Hungrigen zu nähren und die Nackten zu kleiden, die Liebe, die sich zur Bewahrung von Meeresschildkröten und arktischem Eis und allem anderen um uns herum, das gut ist, zusammenschließt" (S. 357), wäre mithin unter Beweis zu stellen, um nicht ein frommer Wunsch zu bleiben.

1. Februar 2021


Bill McKibben
Die taumelnde Welt
Wofür wir im 21. Jahrhundert kämpfen müssen
Blessing Verlag, München 2021
400 Seiten
22 Euro
ISBN 9783896676528


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