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REZENSION/712: Helmut C. Jacobs und Nina Preyer - Goya für alle. Einführung in die Caprichos (SB)


Helmut C. Jacobs und Nina Preyer


Goya für alle. Einführung in die Caprichos

Meisterwerke der spanischen Kunst im Kontext ihrer Zeit, Band 8

Die zeitgenössischen Kommentare zu Goyas Caprichos. Edition, Übersetzung, Deutung.


Dieses Buch, erwartet man, sollte ein breites Lesepublikum ansprechen: "Goya für alle" eben, eine Einführung. Anhand der Caprichos, einer Serie von Radierungen des Künstlers, in denen er weit mehr als seinen handwerklichen Ideenreichtum und seine künstlerische Hand zum Ausdruck brachte - seine handfeste Gesellschaftskritik.

Selbstbewußt und freimütig stellt er sich als Autor der Caprichos an den Anfang seiner 80 satirischen Radierungen (Capricho Nr. 1):
Fran.co Goya y Lucientes, Pintor.
Wachen Blickes, als liberal denkender Bürger tritt er auf, nicht als Hofmaler des Königshauses. Hier bin ich. Der bin ich: Francisco Goya y Lucientes, Maler. Und im folgenden meine Meinung.


Capricho Nr. 1, Selbstportrait des Malers [Public domain] - https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Francisco_Goya_y_Lucientes_Pintor.jpg

Francisco de Goya
[Public domain]
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Francisco_Goya_y_Lucientes_Pintor.jpg

Untergründig sind diese Blätter, dennoch auf eine Weise deutlich, der man sich auch heute noch kaum entziehen kann: Neugier, Zweifel, Schauder, Entsetzen, Abwehr, Unglaube, Erkennen. Die Caprichos lassen alles, aber nicht gleichgültig. Auch wenn sie in ihrer konkreten Bedeutung möglicherweise nur dem Gleichgesinnten vollständig erschlossen waren, ahnt man den Hintergrund. Ironisch, bissig, wütend, verzweifelt zeigt sich der Künstler hier. Die Caprichos berühren akute gesellschaftliche Mißstände wie Verfolgung durch Inquisition und Amtsgewalt, Hexenwahn und Aberglauben, Prostitution, Adelsdünkel und Eitelkeiten gepaart mit Dummheit, lasterhaftes Klosterleben sowie menschliche Nöte. Wer allerdings von Goyas künstlerischem Umfeld und den damaligen gesellschaftlichen Gepflogenheiten keine Ahnung hat, wird schon an dieser Stelle nicht einschätzen können, wo diese Art der Darstellung an zu jener Zeit übliche volkstümliche Überspitzungen und Legenden anknüpft und wo der eigentliche Goya beginnt. Eine von ihm beigefügte Textzeile erläutert oder verschleiert die Bildaussage zu seinem Schutz.

Nach einem kurzen Abriß zu Entstehung und Verortung der Caprichos geht es im vorliegenden Buch, da hier das Grundthema die Kombination von Bild und Text ist, zu den von Goya mitgegebenen Bildlegenden und zur zeitgenössischen Kommentierung der Blätter über - links das jeweilige Bild, rechts die Erläuterungen. Kein Problem, das dieser kondensierten Ausgabe zugrundeliegende Forschungsprojekt ist schließlich ein literaturwissenschaftliches. Vielleicht soll uns das Werk Goya durch einen möglichst direkten Einstieg in die Text-Bildinterpretation nahebringen.

Allerdings werden wir in der Folge, statt Anleitung zu erfahren, mehr oder weniger mitten in das Problem der Verantwortlichen für das Buch hineingeschubst: Es handelt sich um mehrere Fragestellungen, die schwer auseinanderzuhalten sind - Was meinte Goya? Was meinten die Kommentatoren? Wer meint was aus welchem Grund? Unterschiedliche Kommentierungen zu jedem Blatt werden von Jacobs und Preyer mit oder ohne zusätzliche Informationen wiedergegeben, doch man vermißt die Stellungnahme, die Schlußfolgerung und Meinung, die eine fundierte Auseinandersetzung ermöglichte, weil sich ein Gesprächsgegenüber findet. Die Fülle bringt hier nicht mehr Klarheit, die Varianz der Kommentierungen wird möglicherweise wichtiger als die Suche nach einem Verständnis der Bilder. Jacobs und Preyer gehen gewiß mit Akribie an die Sache, aber diese Art von archivarischem Fleiß scheint spätestens dann fehl am Platze, wenn es um eine nicht fachkundige Leserschaft geht. Die beiden bleiben vage. Schade eigentlich!

Im Dunkeln bleibt zudem, nach welchen Kriterien gerade die hier veröffentlichten Kommentierungen ausgewählt wurden. Beim ersten Blatt schon erscheint wie Kai aus der Kiste ein Kommentator, der eingangs nicht erwähnt und erläutert wurde - und bleibt nicht der einzige (ein Glossar wäre hier hilfreich). Spätestens an dieser Stelle wendet sich jede Ernsthaftigkeit anderen Quellen zu. Auch die Frage, inwieweit diese Art der Forschung für die Menschen heute von mehr als einem Sammel- oder einem abstrakten Bildungsinteresse sein kann, wird nicht berührt.

Capricho 26 wäre hier eigentlich ein gutes Beispiel, bei dem Jacobs/Preyer ein wenig mehr hätten eingreifen können. Die hierzu veröffentlichten, zeitgenössischen Kommentierungen scheinen uns heute wenig plausibel, erläuternd merken sie wiederum an, daß auch für Goyas Zeitgenossen die Deutung schwierig gewesen zu sein scheint:

Zwei mit einem mehr oder weniger durchsichtigen kurzen Hängerchen bekleidete junge Frauen - die eine steht, die andere sitzt - im Mittelpunkt. Beide balancieren auf dem Kopf einen umgedrehten Stuhl, dahinter schütten sich zwei Männer aus vor Lachen.
Bildlegende: Ya tienen asiento
direkt übersetzt von Jacobs/Preyer gemäß der Doppeldeutigkeit von asiento (Sitz, Platz; Stabilität; Gesäß; Stelle, Posten; Reife, Einsicht, Beständigkeit): "Sie haben bereits einen Sitzplatz gefunden" oder "Sie haben bereits Gesetztheit erlangt" (S. 65).

Möglich wäre hier auch im übertragenen Sinne: Sie haben bereits ihren Platz (im Leben) gefunden.

Eine recht einfache Erklärung für diese Szene bietet das Brooklyn Museum (über archive.org) [1]:
Die törichten jungen Damen folgen bis zur Unanständigkeit den wechselnden Moden. Sie tragen nichts als ihre Unterröcke und auf dem Kopf umgedrehte Stühle, sehr zum Amüsement der Betrachter. Das Wort asiento könne sowohl Sitzplatz als auch Einsicht/Urteilsvermögen bedeuten, Goya spiele also darauf an, daß die beiden jungen Frauen mit dem Gesäß, statt mit dem Kopf urteilten, mit dem Kopf sitzen sie dann auf dem Stuhl.

Natürlich hat man sich in diesem Werk "für alle" um eine knappe Fassung bemüht, doch gerade anhand der Übersetzung der Bildlegende wäre es möglich gewesen, an der einen oder anderen einfach erscheinenden Stelle beispielhaft die Vieldeutigkeit von Goyas Bildlegenden aufzuzeigen.

Dazu Capricho Nr. 24: Das Bild zeigt die öffentliche Vorführung und Verhöhnung einer vom Inquisitionsgericht verurteilten Frau mit Büßermütze auf einem Esel reitend, in helles Licht getaucht, drum herum eine graue, unübersehbare Menge, im Hintergrund zwei Amtsdiener auf Pferden mit ernst-gewichtiger Miene. Laut Jacobs/Preyer ein für uns unmittelbar zu verstehendes Werk.

Die Bildlegende lautet: Nohubo remedio.
Dazu liegen beispielhaft folgende Übersetzungen vor:
1. Jacobs/Preyer: Es gab kein Mittel dagegen.
2. Haffmans [2]: Da gab's keine Hilfe mehr.

1. bemüht sich um Neutralität und um Präzision im Sinne der Vieldeutigkeit. Wogegen gab's kein Mittel?
2. zeigt aus Rezensentensicht die Stellungnahme Goyas. Ganz gleich aus welchem Grund diese Frau verurteilt wurde, ist seine Haltung demgegenüber: Hilfe tut not, ist aber hier unmöglich geworden. Seine Kritik an diesem Verfahren ist viel grundsätzlicher als die Kommentierungen zulassen: Hieran ist nichts Gutes. Der Frau wird (Inquisitions-)Gewalt angetan und die Menge läuft mit. Das Opfer steht licht im Mittelpunkt, von allen im Stich gelassen.

Eine 3. Möglichkeit den Text zu verstehen ist jedoch auch noch mit eingebaut: unverbesserlich (da half nichts mehr, dagegen gab's kein Mittel). Und das entspricht der Seite derer, die diese Verurteilung und Bestrafung gutheißen. Auf diese Weise wird mit der Bildunterschrift ein viel umfassenderer Sinn geliefert, als es auf den ersten Blick scheint. Mit anderen Worten, die Bildlegende wird je nach Positionierung der betrachtenden Person so oder so verstanden - und das ist der Sinn des ganzen.

Ob dieses Buch den wißbegierigen Leser dazu anregt, sich intensiver mit dem Künstler Goya zu befassen, möchte der Rezensent bezweifeln. Bliebe die Idee, daß man hier vielleicht - wie im Buch eingangs geschildert: "Es entsteht der Eindruck, daß Goyas Caprichos als eine Art Rätsel aufgefasst wurden, das es nun mittels treffenden, pointierten und gewitzten Kommentierungen zu lösen galt" (S.11) - auch dem heutigen Publikum den Raum für eine Teilhabe an geselliger Rätselfreude bieten wollte.


Anmerkungen:

[1] https://archive.org/details/brooklynmuseum-o47170-theyve-already-got-a-seat-ya-tienen
Zugriff: 29.06.2019
[2] "Goya - Caprichos", erschienen im Diogenes Verlag AG Zürich, 1972. Übersetzung der Legenden von Tina Haffmans

5. Juli 2019


Helmut C. Jacobs und Nina Preyer
Goya für alle. Einführung in die Caprichos.
Meisterwerke der spanischen Kunst im Kontext ihrer Zeit, Band 8
Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2019
176 Seiten, 24,80 EUR
ISBN: 978-3-8260-6845-4


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