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REZENSION/663: Fritz Edlinger (Hg.) - Der Nahe Osten brennt (SB)


Fritz Edlinger (Hg.)


Der Nahe Osten brennt

Zwischen syrischem Bürgerkrieg und Weltkrieg



Der Titel des neuen Buchs des Promedia Verlags zum Krieg in Syrien, "Der Nahe Osten brennt - Zwischen syrischem Bürgerkrieg und Weltkrieg", klingt vielleicht etwas reißerisch, ist aber, nüchtern betrachtet, realistisch. Auf beiden Seiten des innersyrischen Konfliktes stehen sich die Regionalmächte Iran und Saudi-Arabien, die mit ihrer schiitisch-sunnitischen Dauerfehde eine ganze Region zwischen Bosporus und der Straße von Hormus in Flammen gelegt haben, sowie die Supermächte Rußland und USA mit ihren monströsen Atomwaffenarsenalen unversöhnlich gegenüber. Dazu kommen weitere Akteure wie die Türkei, Israel, Frankreich, Großbritannien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate, Jordanien und die libanesisch-schiitische Hisb-Allah-Bewegung, die allesamt jeweils ihren eigenen Nutzen aus dem laufenden Gemetzel in Syrien wie übrigens auch im benachbarten Irak zu ziehen versuchen.

Nach der jüngsten Rückeroberung der Rebellenhochburg Ostaleppo durch die Syrische Arabische Armee (SAA) sind die Regimewechselpläne Washingtons, Riads und Ankaras vorerst gescheitert. Mit Hilfe Rußlands und des Irans kontrolliert nun das säkulare "Regime" Baschar Al Assads praktisch die gesamte Westhälfte Syriens entlang der Grenze zum Libanon sowie am Mittelmeer einschließlich der größten Bevölkerungszentren von Damaskus im Süden bis Latakia im Norden. Dennoch bleibt die Lage im Syrienkonflikt unübersichtlich. Ein Ende der Kämpfe ist lange nicht in Sicht.

Die USA haben gerade weitere 200 Militärberater in den Norden Syriens entsandt, die den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF), einer arabisch-kurdischen Formation, deren Reihen zum größten Teil mit Kämpfer der PKK-nahen YPG gefüllt werden, helfen sollen, die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) aus ihrer Hauptstadt Rakka im bevölkerungsarmen, wüstenähnlichen Ostsyrien zu vertreiben. Wegen der Verbindungen zwischen PKK und YPG sowie der Tatsache, daß die Bevölkerung Rakkas mehrheitlich sunnitisch-arabisch ist, hat die Türkei gegen das Vorhaben Einspruch eingelegt. Ankara beansprucht eine eigene Rolle für die türkische Armee bei der Vertreibung des IS aus Rakka sowie bei der aktuellen Offensive zur Rückeroberung der irakischen Millionenmetropole Mossul, von wo aus bekanntlich IS-Chef Abu Bakr Al Baghdadi im Juni 2014 ein weltweites Kalifat ausrief. Seit August dieses Jahres sind die türkische Landstreitkräfte im Norden Syriens militärisch aktiv. Vorwand für die Operation mit Namen "Euphratschild" ist der Kampf gegen IS, doch in Wirklichkeit geht es Ankara darum, die Entstehung eines kurdischen Automoniegebiets entlang der syrisch-türkischen Grenze zu verhindern.

Kaum, daß sich die vollständige Niederlage der Aufständischen in Ostaleppo abzeichnete, hat der IS von Rakka aus eine Überraschungsoffensive gegen Palmyra gestartet, mehrere hundert syrische Soldaten getötet und die wegen ihrer spektakulären archäologischen Hinterlassenschaften berühmte Stadt erobert. Rußland wirft nun den USA vor, gegen die Militärkolonne des IS, zu der Panzerwagen und Kampfpanzer gehörten, während der mehr als 200 Kilometer langen Fahrt von Rakka nach Palmyra nichts unternommen, vor allem keine Luftangriffe durchgeführt zu haben.

Die Syrienkrise ist seit ihrem Anfang im Frühjahr 2011 von Spannungen zwischen Moskau und Washington begleitet worden. Während für die CIA, US-Außenministerin Hillary Clinton und ihr Nachfolger John Kerry jedes Mittel, auch die Zusammenarbeit mit Al Kaida, recht gewesen ist, um Assad loszuwerden, haben sich Obama und das Pentagon immerhin bemüht, ein endgültiges Chaos à la Libyen zu verhindern. 2013 hat das Weiße Haus die Giftgasattacken, mittels derer Obama zur Erteilung des Befehls für einen umfassenden Raketenangriff auf die SAA veranlaßt werden sollte, als Falsche-Flagge-Operation durchschaut, sowie das US-Militär unter dem damaligen Generalstabschef Martin Dempsey dazu veranlaßt, über den Umweg über Moskau Damaskus nachrichtendienstliche Erkenntnisse über die Rebellen zukommen zu lassen, um dem völligen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung einen Riegel vorzuschieben. Im präsidialen Wahlkampf 2016 in den USA war Syrien das wichtigste außenpolitische Thema. Während der Republikaner und spätere Sieger Donald Trump für eine Zusammenarbeit mit Wladimir Putin im Kampf gegen IS und Al Kaida plädierte, machte sich Clinton für die Verhängung einer Flugverbotszone im syrischen Luftraum stark, selbst wenn dies - bzw. vielleicht gerade deren Durchsetzung - auf einen heißen Krieg zwischen der NATO und Rußland hinausgelaufen wäre.

In "Der Nahe Osten brennt" helfen eine Reihe von Experten dem Leser, durch die Kompliziertheit des Syrienkonfliktes durchzusteigen. Unter der Überschrift "Vom regionalen Konflikt zum Weltenbrand" erläutert Fritz Edlinger, Generalsekretär der "Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen" die geopolitischen Dimensionen. Der Staatsrechtler und ehemalige Bundesstagsabgeordnete der Linken, Norman Paech, geht in seinem Aufsatz "Die Schlacht um Damaskus - auf den Trümmern des Völkerrechts" auf die juristischen Aspekte ein. Junge-Welt-Autor Nikolaus Brauns nimmt "Die Kurden in Syrien und die Selbstverwaltung in Rojava" unter die Lupe. Johannes Auer befaßt sich unter der Überschrift "Ohne ihn wären wir alle schon tot" - gemeint ist Präsident Assad - mit der deprimierenden "Geschichte und Gegenwart des Christentums in Syrien", während sich die in Bagdad geborene Tyma Kraitt der Frage "Eine alawitische Diktatur? - Zum Verhältnis von Staat, Militär und Religion in Syrien" nachgeht. Murat Cakar, Redaktionsmitglied von Infobrief Türkei und der türkischen Politika Gazetesi beleuchtet kritisch "Erdogans Syrien-Abenteuer", während "Russland und der Bürgerkrieg in Syrien" von Gerhard Mangott, Professor für Politikwissenschaft, untersucht wird.

Friedensforscher Werner Ruf ist im Buch gleich mit zwei Aufsätzen - "Der Syrienkrieg - ein regionaler Stellvertreterkonflikt" und "Der 'Islamische Staat' oder Daesh" - vertreten. Nahost-Korrespondentin Karin Leukefeld, die seit Jahren aus dem Kriegsinferno berichtet, wirft unter der Überschrift "Verlust der Glaubwürdigkeit - Deutsche Medien zum Konflikt in Syrien" der eigenen Zunft Propagandamache und Einseitigkeit vor, während sich unter den Stichworten "Daesh, Jabhat al-Nusra, die Ahrar Al Sham und das Internet" Rüdiger Lohlker, Professor für Orientalistik an der Universität Wien, mit der hochaktuellen Problematik der "Radikalisierung" jünger Muslime auseinandersetzt. Zum Schluß steuert Promedia-Chef Hannes Hofbauer der Sammlung den zum Nachdenken anregenden Beitrag "Der Krieg kehrt in die Zentren zurück", der dem Phänomen des "islamistischen Terrorismus" gewidmet ist, bei. Mit 246 Seiten können die zwölf Aufsätze des vorliegenden Buchs nicht alle Einzelheiten des Syrienkonfliktes berücksichtigen. Es fehlt zum Beispiel jede Erwähnung des sunnitischen Naqschbandiya-Ordens, aus dem der IS, Erdogans AK-Partei und die Hizmet-Bewegung des Erdogan-Erzfeinds Fethullah Gülen hervorgehen. Nichtsdestotrotz können alle, die sich wie eingehend oder randläufig auch immer mit der aktuellen Tragödie in Syrien beschäftigt haben, die Veröffentlichung gewinnbringend - im Sinne der Erkenntnis - lesen.

13. Dezember 2016


Fritz Edlinger (Hg.)
Der Nahe Osten brennt
Zwischen syrischem Bürgerkrieg und Weltkrieg
Promedia Verlag, Wien, 2016
246 Seiten
ISBN: 978-3-85371-410-2


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