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REZENSION/600: Andrea Fink-Keßler - Milch. Vom Mythos zur Massenware (SB)


Andrea Fink-Keßler


Milch

Vom Mythos zur Massenware



Es gibt Menschen, für die beginnt und endet der Tag genußvoll mit einem Glas frischer oder warmer Milch. Andere halten die Wasser-Öl-Eiweiß-Milchzucker-Emulsion, die zum größten Teil aus Wasser besteht, für etwas, das kleine Kälber brauchen - der Mensch aber nicht... Warum jedoch jemand auf die Idee kommt, 280 Seiten über ein für die menschliche Ernährung geradezu selbstverständlich gewordenes flüssiges Lebensmittel zu schreiben, das man aufs Vielfältigste zum Kochen und Backen nutzen kann und manche auch trinken, scheint für die Vertreter der kontroversen Lager gleichermaßen erstaunlich, ehe sie vielleicht einen Blick in das Buch von Andrea Fink-Keßler [1] geworfen haben. Alle denkbaren Fragen, die ein Mensch zu diesem Thema haben könnte, angefangen bei Kinderfragen, woher sie kommt und wie sie im tierischen Organismus gebildet wird, bis hin zu komplexen Fragen ihrer ideellen Auf- oder Abwertung sowie ihrer ökonomischen Verwertung, werden hier dem aktuellen Wissensstand gemäß aufgeworfen und bewegt.

Nach Staub, Kaffee, Holz, Aluminium, Dreck und Kakao, mit denen der Oekom-Verlag eine scheinbar banale und offenbar wahllose Stoffgeschichten-Sammlung zu Materialien eröffnet, die allerdings bei genauerem Hinsehen für unsere gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Entwicklung relevant gewesen sind, soll mit dem achten Band zum Thema "Milch" dieses "Periodensystem des Alltags" wie der Verlag es nennt, fortgeführt werden.

Von ihrem ersten Auftauchen vor 65 Millionen Jahren mit den Säugetieren, ihrer ersten Nutzung und rituellen Wertschätzung in Opfern und Beigaben durch den Menschen im Vorderen Orient und anderen Kulturkreisen bis hin zum heutigen Supermarkt-Milchprodukt in kunststoffbeschichteter Pappkarton-Konfektionierung geht es hier tatsächlich in annähernd chronologisch-historischer Abfolge in jedem Satz um die Milch.

Mit der vorliegenden "Milch"-Geschichte reizte es die Autorin, ihre teilweise über viele Jahre zurückliegenden, verstreuten Arbeiten über Milch, Milchqualität und Milchpolitik zusammenzufassen, zu aktualisieren und zu vertiefen. Sie sei, so sagt sie in ihrer Einleitung, vor allem der Frage nachgegangen, wie die Milch zu dem Stoff geworden ist, den wir heute haben:

Ich wollte die Bedingungen erkunden, unter denen Milch von Kühen, aber auch von Schafen und Ziegen gewonnen, verarbeitet und gehandelt wurde und wie dabei (ess-)kulturelle, (agrar-)ökonomische, technische, politische und gesellschaftliche Entwicklung ineinandergegriffen haben. Welche Akteure haben die Entwicklung besonders beeinflusst? Und was ist in anderen Zeiten über Milch gedacht und geschrieben, wie ist ihre Qualität betrachtet worden?
(Seite 13)

Andrea Fink-Keßler, die mit ihrer Dissertation "Von der Bauernmilch zur Industriemilch. Zur Entwicklung und Funktion der Qualitätsnormen bei Milch", bereits auf das laut Fachkreisen "umfassendste Werk" zu diesem Thema zurückgreifen kann, nimmt hier die Gelegenheit wahr, den qualitativen Niedergang der Milch und ihre Schön- bzw. Weißfärbung durch werbungs- und konsumorientierte Darstellung von der produktionstechnischen und ökonomischen, kulturhistorischen, aber auch ernährungsphysiologischen Seite einem größeren Publikum in populärwissenschaftlicher Form zugänglich zu machen.

Bei dem auf diese Weise zustande gekommenen Sammelsurium an Ausflügen in Wissenschaft, Ernährungsphysiologie, Kulturgeschichte und Ökonomie unterschiedlicher Zeitalter und Perspektiven, die jeweils durch kurze einführende Zielvorgaben zum Beginn jedes Kapitels und durch den roten Faden "Milch" zusammengehalten werden, wird vor allem eines klar: Trotz weitreichender Kritik zu verschiedenen Aspekten der Milchgewinnung, -verarbeitung und -vermarktung geht es der Autorin in erster Linie um eine angemessene Wertschätzung des Naturprodukts, dessen Nutzung sie nicht in Frage stellen will.

Tatsächlich wird Milch heute nicht mehr vorbehaltlos als gesundes Nahrungsmittel wahrgenommen. Die mit der Viehhaltung einhergehende parallele Evolution des menschlichen Stoffwechsels, der - wie die Autorin beschreibt - den Aufschluß der Milchnährstoffe für den Menschen erst möglich machte, scheint bei vielen Menschen heute gegenläufige Formen anzunehmen, so daß Milch bei einigen inzwischen Unverträglichkeiten und Allergien auslösen kann. Die Agraringenieurin sieht auch in diesen Entuferungen einen Zusammenhang mit der zunehmenden produktionstechnischen und ökonomischen Vergewaltigung des Milchprodukts, die sie mit geradezu beispielloser Akribie in den verschiedenen Geschichtsepochen dokumentiert. Diese nüchternen Fakten stehen für sich selbst und machen das Buch auch ohne Mythos, ganz gleich an welcher Stelle aufgeschlagen, spannend und unterhaltsam.

Möglicherweise unbeabsichtigt zum eigentlichen Anliegen stellt Andrea Fink-Keßler auf diese Weise für den aufmerksamen Leser die Erzeugung der Milch allerdings bereits zu einem Zeitpunkt der Geschichte als Gewaltakt dar, an dem die Welt der Milch für sie selbst quasi noch 'in Butter' war. Milch - sagt sie - entsteht nur dann, wenn neues Leben geboren wird:

Nur wenn Mann und Frau, Stier und Kuh, Widder und Schaf zusammenkommen sind und das Leben fruchtbar geworden ist, erst dann fließt Milch aus den Brüsten und Eutern, erst dann ist das neue Leben geboren.
(Seite 19)

Doch erst, wenn man den Kühen die Kälbchen nimmt, füllen sich die Euter nur noch für den menschlichen Bedarf. Denn mit der notwendigen Entlastung der bis an die Schmerzgrenze gefüllten Euter rechtfertigt der Mensch den Handel mit der Kuh. Daß es sich bei der Milch im Grunde um ein Zwangserzeugnis handelt, läßt sich weder durch Mythen noch andere positiv belegte Werte beschönigen. Auf diesen grundlegenden Milchraub geht die Autorin in ihrem Buch an keiner Stelle ein.

Zwar bringt sie auf Seite 199 durchaus das Problem "'Burn-out'- auch bei Kühen" zur Sprache, das sich ihrer Meinung nach bei heutigen Hochleistungskühen in Fruchtbarkeitsstörungen, Euterentzündungen, Stoffwechselstörungen, Lahmheiten und einer sehr viel kürzeren, auf ein Drittel reduzierten Lebenszeit gegenüber früheren Kuhrassen zeigt, ihre Schlußfolgerung "weniger Leistung" hieße aber das Aus für die heutige Form der Milchwirtschaft. Die möglicherweise tiefgreifenden Konsequenzen daraus sind in diesem Buch nicht weiter gedacht.

Gleichwohl liefert sie dem Leser, beispielsweise angesichts der gesellschaftlichen und industriellen Entwicklung, welche sie wie einen vernichtenden Mechanismus in zahllosen Fallbeispielen beschreibt, durchaus Argumente für eine radikalere Stellungnahme.

In diesem Buch ist die Kuh allerdings ebenso eine Randfigur wie die Bakterien in der Milch, die man ihr auf dem Weg zu einem pasteurisierten, homogenisierten, superhaltbaren, aber quasi nährwertlosen, sterilen Massenartikel zunächst entfernte, die ihr inzwischen aber, wie die Autorin auf Seite 233 erklärt, in Form neuer, biotechnisch verbesserter Milchbakterien wieder gezielt zugesetzt werden, um dem von Barilla, Danone, Friesland, Campina, Nestle oder Unilever vermarkteten Milchprodukten neue, die körperliche Abwehr oder Gesundheit stabilisierende Qualitäten zu verleihen. Wie weit sich diese Milch von derjenigen entfremdet hat, mit der man ursprünglich Kinder und Kranke versorgte und der heilende bis magische Fähigkeiten zugesprochen wurden, wird wohl jedem Leser nach Lektüre der sechs Kapitel plus einem "Steckbrief" der Kuhmilch sowie einem bebilderten Grundrezept für das Käsemachen im Anhang klar. Neben der geschichtlichen Zuordnung werden auch die aktuellen kontroversen Diskurse um die Milch wie die Themen Allergien, Klimawandel, subventionierte Milch-Exporte und ihre Vermarktung im globalen Maßstab vorgestellt.

In den vergleichsweise nur knapp gehaltenen Schlußfolgerungen ("Alte Träume, neue Wege - ein Ausblick"), werden dann bedauerlicherweise nur randständige Fragen aufgeworfen, beispielsweise zur Hochleistungsmilchkuh und zu ihrer Rolle für den Klimawandel (Methan-Stoffwechsel der Pansenbakterien/CO2-Speicher Grasland),

Bezieht man den Ausstoß klimarelevanter Gase nur auf einen Liter erzeugter Milch, dann kann es sein, dass eine 10.000-Liter-Kuh klimafreundlicher dasteht als ihre weniger leistungsgetriebene Schwester, die sich nur vom Grünland ernährt. Aber ist das richtig gerechnet? Kommen wir nicht zu anderen Ergebnissen, wenn wir statt der einseitig auf Milch gezüchteten Hochleistungskuh eine Kuh nehmen, die beide Nutzungen ermöglicht: Milch und Fleisch, und dabei auf Milch-Höchstleistungen verzichtet? Und müssen wir nicht auch die Lebenszeit der Tiere und ihre Fruchtbarkeit einberechnen? Oder besser noch das gesamte industrielle System der Milcherzeugung in Frage stellen?
(Seite 245)

welche die Autorin mit einem "klaren Jein" beantwortet, um dann mit der Gegenfrage, ob denn dieser radikal-vegane "System"-Ausstieg sich auch global gesehen als richtig erweise und seine Folgen gesamtgesellschaftlich auch wünschenswert wären, doch lieber zurückzurudern.

Angesichts des milchgeschichtlichen Molochs, dem sich der Leser im Geiste schon mit gezückter Mistgabel entgegenstellt, mag von den mehr zum Suchen denn zum folgerichtigen Umdenken auffordernden Denkanstößen der Geschmack fader, ausgelaugter Milch bleiben.

Eine Entlastung des Systems könnte Menschen, Tiere und Ressourcen guttun, denn es dürfte von allem etwas weniger sein: weniger Milch pro Tier, weniger Tiere in der Herde, weniger Neuinvestitionen, weniger Fremdressourcen an Energie und Futtermitteln, weniger Arbeitszeit im Stall, weniger Schulden und Sorgen, weniger lange Kühlregale, weniger Verwirrung und Konsumstress - dafür aber mehr Raum und Zeit für eigene Verantwortung und Achtsamkeit.
(Seite 241)

Weniger von allem zu Gunsten von mehr Qualität - für wen?

Angesichts der wachsenden Weltbevölkerung, einer ubiquitär zunehmenden statt abnehmenden Zahl von Hungernden und Armen darf der Ruf nach einer Produktionsminderung gar nicht gehört werden, wenn man an den Hunger denkt.

Allerdings, und das bestätigt auch der Beginn des letzten Absatzes, der noch einmal einen poetischen Bogen zum Mythos Milch spannt:

Einst gehörte die Milch den Göttern. Die Erde brachte die Milch hervor und die Menschen dankten ihr dafür mit einem Milchopfer. Die Milch träumte von den Wolken und dem Regen, der die Euter der Tiere anschwellen ließ. Sie träumte von den Wiesen, Weiden und Steppen und träumte von sich selbst als einem endlosen Strom, der das Leben nährt und immer wieder erneuert.
(Seite 248)

geht es hier nicht um den Menschen, es geht nicht einmal um die Kuh: Es geht um Milch!

Dieses Anliegen mag den Leser verwirren, der sich auf den ersten Blick mit einer Flut von Informationen konfrontiert sieht und in Anbetracht des Hintergrunds der Autorin vielleicht eine agrarpolitisch ausgerichtetere Auseinandersetzung erwartet hätte. Für den Milchfreund bleiben zahlreiche spannende Geschichten.


Anmerkung:
[1] Seit über dreißig Jahren befaßt sich Andrea Fink-Keßler als freiberufliche Autorin mit europäischer Agrarpolitik und Fragen der Lebensmittelqualität. Die Milch spielt hierbei immer wieder eine herausragende Rolle - in ihrer Dissertation 1991 befaßte sich die Agrarwissenschaftlerin intensiv mit den "Qualitätsnormen der Milchproduktion"(322 Seiten). Heute leitet Andrea Fink-Keßler das Büro für Agrar- und Regionalentwicklung in Kassel. Sie ist Redakteurin des "Kritischen Agrarberichts und Herausgeberin der Landforscher-Webseite, dem Netzwerk, Zusammenschluß und Forum von und für selbständige Agrarforscherinnen und -forscher. Siehe URL:
http://www.landforscher.de/impressum/

1. Dezember 2012


Andrea Fink-Keßler
Milch - Vom Mythos zur Massenware
Aus der Reihe: Stoffgeschichten - Band 8
Eine Buchreihe des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität
Augsburg in Kooperation mit dem oekom e.V. Verlag
Herausgegeben von Prof. Dr. Armin Redler und Dr. Jens Soentgen
oekom Verlag, München 2012
288 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-86581-311-4