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REZENSION/599: Andreas Wehr - Die Europäische Union (SB)


Andreas Wehr


Die Europäische Union



"Europa - Was ist das?" Mit dieser simpel erscheinenden Frage führt Andreas Wehr den Leser in eine komplexe Entwicklung ein, die vielen davon Betroffenen so kompliziert und abstrakt erscheint, daß sie mit instinktiver Abneigung und reflexhafter Berührungsangst auf das Thema reagieren. Dies ist verständlich ob der abstrakten administrativen Prozesse und gesichtslosen Institutionen, die gemeinhin unter dem Etikett "Brüssel" in einer westeuropäischen Verwaltungsmetropole verortet werden, was die Angelegenheit nicht unbedingt einladender macht. Und überhaupt ist die Europäische Union nicht gleich Europa, wie der Autor dankenswerterweise gleich zu Beginn seines Buches über den Staatenbund EU klarstellt.

Nur 27 der 50 Staaten des Erdteils Europa gehören der EU an, die 4,32 der geographisch mit 10.5 Millionen Quadratkilometern ausgewiesenen Fläche des Kontinents umfaßt. Zwar stellen die Mitgliedstaaten der EU mit 502 Millionen Menschen den mit Abstand größten Teil der Gesamtbevölkerung Europas von 740 Millionen Menschen, doch große Staaten wie Rußland, die Türkei und die Ukraine schlichtweg zu unterschlagen, wenn die EU mit Europa gleichgesetzt wird, läßt auf allerdings, wie Wehr erklärt, unausgegorene Großmachtambitionen schließen. Diese scheitern nicht nur an der unverwirklichten, da im klassischen Verständnis nicht vorgesehenen Staatlichkeit der EU und der nichtvorhandenen gemeinsamen Sprache ihrer Bevölkerungen, sondern vor allem am Fehlen "einer übergreifenden transnationalen kapitalistischen Klasse" (S. 117).

So schlägt Wehr einen weiten Bogen von der Kulturgeschichte der Europaidee über die politischen und institutionellen Wurzeln der europäischen Einigung in den 50er Jahren bis zu einer Europäischen Union, die den Zenith einer für alle Beteiligten förderlichen Integration längst überschritten hat. Insbesondere anhand der von Bundeskanzlerin Angela Merkel vollzogenen Gleichsetzung von Euro und Europa wird die krude Realität der suprastaatlichen Programmatik kapitalistischer Vergesellschaftung in ihren Bruchlinien und Disparitäten manifest. Kein geringerer als Finanzminister Wolfgang Schäuble, der sich in Tateinheit mit seiner Chefin zum Zuchtmeister über die angeblich aufgrund eigenen Versagens überschuldeten Peripheriestaaten aufschwingt, hat 1994 zusammen mit dem CDU-Außenpolitiker Karl Lamers die Öffnung Osteuropas als Expansionsraum des deutschen Kapitals begrüßt und ein Kerneuropakonzept formuliert, das Wehr in die Kontinuität der "Mitteleuropa-Politik des deutschen Imperialismus" (S. 80) stellt.

Der Jurist, der seine detaillierten Kenntnisse zur EU unter anderem seiner seit 1999 währenden Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) des Europäischen Parlaments in Brüssel verdankt, stellt die zeitgeschichtlichen, politischen und ökonomischen Dimensionen der europäischen Einigung in den Kontext der sozialen Konflikte, die sich aus der kapitalistischen Verfaßtheit des Projekts ergeben. Darin unterscheidet sich der in der Reihe "Basiswissen" des PapyRossa-Verlags erschienene Band wesentlich von vergleichbaren Readern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, einen nicht eigens vorgebildeten Leser in die vertragliche und institutionelle Entwicklung der Europäischen Union einzuführen. Die bloße Vermittlung administrativen Herrschaftswissens bietet dem auf seine Verwertbarkeit und Verfügbarkeit zuzurichtenden Subjekt eben keinen Anlaß zur Entwicklung einer Gegenposition, was ein weiterer Grund für das Desinteresse vieler Menschen an der EU sein dürfte.

Demgegenüber vermittelt die Lektüre dieses Buches fundierte Einblicke in die vertragliche Logik und die institutionelle Dynamik der europäischen Integration, allerdings kontrovers aufgespannt zwischen demokratischem Anspruch und intergouvernementalem Dezisionismus. Schnell wird ersichtlich, wie jegliche idealistische Vorstellung auf der Strecke des Hegemonialstrebens der großen Mitgliedstaaten und dabei allen voran Deutschlands bleibt, um mit innovativen Formen bürokratischer und exekutiver Verfügungsgewalt Ausbeutung und Unterdrückung zu qualifizieren. Die Bundesrepublik hat ihre Rehabilitation als Nachfolgerin des NS-Staates an der Front des Kalten Krieges erfolgreich absolviert und ist seit 1990 zu eben jener hegemonialen Dominanz gelangt, die zu verhindern Sinn und Zweck ihrer europäischen Einbindung war. So konnten sich ihre Kapitaleliten zu Krisengewinnern aufschwingen, indem sie die Einführung der gemeinsamen, auf das monetaristische Kriterium der Geldwertstabilität geeichten Währung mit Defizitkreisläufen und Exportoffensiven zu Lasten der anderen Euro-Staaten ausspielten.

Was lange als egalitäre Wertegemeinschaft europäischer Staaten beworben wurde, in der die Ideale des humanistischen und aufklärerischen Vermächtnisses zur Blüte demokratischer Ordnung und politischer Freiheit gelangen sollten, ist längst zu einer Not- und Schicksalsgemeinschaft verkommen, deren Regierungen, von selbsterklärten Sachzwängen getrieben, angeblich gar nicht anders können als "den Märkten" die Hoheit über das bürgerliche Gemeinwesen zu überlassen. Wehr zeichnet diese Entwicklung anhand der vertraglichen Schritte zur Schaffung eines europäischen Binnenmarkts folgerichtig nach. Dieser wurde Mitte der 80er Jahre verwirklicht und initiierte die Ausdifferenzierung der damaligen Europäischen Gemeinschaft in einen hochproduktiven Kern und einer diesem zuarbeitenden Peripherie bereits Jahre vor der Einführung des Euro.

Der Binnenmarkt werde "zu Recht als Kern der EU bezeichnet", die "ihm zugrunde liegenden vier Grundfreiheiten - freier Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital - stellen die Verfassung der Union dar" (S. 59). Ganz unpolemisch analysiert der Autor die Faktoren, die die Staatssubjekte der EU im Rahmen der kapitalistischen Globalisierung zu Konkurrenten um Standortvorteile und Investivkapital machen, während sie gleichzeitig versuchen, das größere Ganze der Union zu einem globalen Machtfaktor nach außen projizierter Kapitalmacht zu entwickeln. Die sich mit der Eurozone, der 17 Mitgliedstaaten angehören, ausbildende Parallelstruktur erweist sich aufgrund der zur Disziplinierung der Staatshaushalte, zur Refinanzierung des Finanzkapitals und zur Einschränkung von Lohnforderungen geschaffenen vertraglichen Instrumente wie dem des Fiskalpakts, des Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) und des Euro-Plus-Pakts als noch undemokratischer als die EU des Vertrages von Lissabon. Daß dieser mit dem Verfassungsvertrag, der 2005 am Einspruch der Bevölkerungen Frankreichs und der Niederlande scheiterte, weitgehend identisch ist und Bundeskanzlerin Angela Merkel eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung dieser staatsautoritär, militaristisch und neoliberal ausfallenden Vertragsgrundlage spielte, erscheint in der Rückschau als selbsterfüllende Prophezeiung kerneuropäischer Machtdispositionen.

Abschließend positioniert sich Wehr gegen jene auch in linken Parteien verbreitete Einigungsideologie, die zwar den neoliberalen Charakter des supranationalen Überbaus kritisiert, seine Reformierbarkeit zugunsten eines sozial gerechten und friedlichen Europas jedoch selbstredend voraussetzt. Der Autor verweist auf die noch schwierigere Situation, auf dieser Ebene staatenübergreifenden sozialen Widerstand zu entfachen, und spricht sich unter Verweis auf Karl Marx und Friedrich Engels dafür aus, den Kampf um eine neue Gesellschaftsordnung auf nationaler Ebene zu beginnen. Man könnte auch sagen, daß die Mittel und Methoden administrativer Verfügungsgewalt desto ungreifbarer und unbeeinflußbarer sind, je größer die Distanz der Bürger zur politischen Ebene gesellschaftlicher Gestaltung ist. Hier geht es nicht um eine Verabsolutierung der Nation im Sinne einer rechten Agenda, sondern die Inanspruchnahme eines bestimmten Entwicklungsstandes und Organisationsgrades gesellschaftlicher Verhältnisse. Diese zu überwinden erfolgt nicht im Wertekosmos ideologischer Prinzipien, sondern in der praktischen Auseinandersetzung mit greifbaren und angreifbaren Widersprüchen. Das heißt gerade nicht, daß das Konstrukt der Nation zur Letztbegründung politischen Handelns gerät oder internationale Solidarität verhindert, sondern den Rahmen zur Ausbildung einer Handlungsfähigkeit bildet, die die Überwindung dieser Bedingung erst möglich macht.

Die Verschärfung der Widersprüche und die Beschleunigung der Zerfallsprozesse, die sich im Klassenantagonismus der EU-Gesellschaften wie im Verhältnis von Kern und Peripherie vollziehen, und die mit immer größerer Vehemenz erhobene Forderung nach Demokratie bieten die Möglichkeit, eine "Stagnation des europäischen Integrationsprozesses und womöglich auch eine Rückübertragung von Unionskompetenzen auf die nationalstaatliche Ebene" (S. 128) zu bewirken. Letztlich sei die Entwicklung der in den einzelnen Mitgliedstaaten herrschenden Wirtschaftsordnung bestimmend für die Zukunft der EU als Ganzes, so Andreas Wehr. Und diese Prozesse zu beeinflussen ist Angelegenheit von Menschen, die ihre Zukunft in die eigene Hand nehmen und sich nicht entmündigen lassen durch die Projektion nationaler Kapitalmacht auf die supranationale Agenturen ihrer um so schwieriger zu widerstehenden Ermächtigung.

Weitere Rezensionen zu Büchern von Andreas Wehr im Schattenblick:

REZENSION/198: Andreas Wehr - Europa ohne Demokratie? (EU-Verfassung) (SB) http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar198.html

REZENSION/329: A. Wehr - Das Publikum verläßt den Saal (EU-Politik) (SB) http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar329.html

20. November 2012


Andreas Wehr
Die Europäische Union
PapyRossa Verlag, Köln, 2012
134 Seiten, 9,90 Euro,
ISBN 978-3-89438-498-2