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REZENSION/592: Isabelle Fremeaux / John Jordan - Pfade durch Utopia (SB)


Isabelle Fremeaux / John Jordan


Pfade durch Utopia

Ein Buch/Film



In einer Welt der sozialdarwinistischen Sachzwanglogik "Pfade durch Utopia" zu beschreiten, verstößt gegen eine ganze Reihe ungeschriebener Gesetze. Die Warnungen vor dem Überschreiten der immer enger gefaßten Grenzen verlangter Anpassung und Unterwerfung appellieren dementsprechend an die Hoffnung auf ein Überleben, in dem das sozialdarwinistische "Über" von vornherein den Verlust dessen festschreibt, was an Lebensfülle und -freude erst zu erschließen wäre. Sie berufen sich vornehmlich auf das Scheitern realsozialistischer Gesellschaften und idealistischer Gemeinschaften, die im Feuer innerer Widersprüche respektive äußerer Feinde vergingen. Wie in einem sich aus bloßer Wiederholung selbstreflexiver Ohnmachtserfahrungen verengenden Schneckenhaus bringt der Abgleich uneingelöster Versprechungen die Bescheidenheit des kleineren Übels und die Kapitulation vor vermeintlich alternativlosen Verwertungsimperativen hervor.

Um sich dennoch in aller Unbescheidenheit aufzumachen, diese Pfade zu beschreiten, bedarf es vor allem entschiedener Positionierung. Die herrschenden Verhältnissen in Frage zu stellen, muß nicht bedeuten, sie frontal anzugreifen. Ihre Erosion beginnt schon damit, sich nicht mehr an ihnen zu beteiligen und sie konsequent zu negieren. Als Chiffre dafür, was dem Menschen als freie, selbstbestimmte und lebensfreundliche Existenz- und Produktionsweise vorenthalten wird, wird der "Nichtort" (altgriechisch ou- "nicht" und tópos "Ort") idealerweise zum Entwurf einer Zukunft, in der einem nicht genommen werden kann, was man von vornherein nicht zu brauchen beansprucht. Not und Mangel zu bestreiten bildeten stets den fruchtbaren Boden, auf dem historische Sozialutopien gediehen. Sie als Truggebilde ins Reich allzu blühender Phantasie zu verbannen oder als Schlaraffenland ökonomischer Unvernunft zu überantworten, ist nicht zuletzt ihrem Geburtsfehler geschuldet, als Abstraktion bestehender Staats- und Gesellschaftsformationen nicht über diese hinausweisen zu können.

Als Isabelle Fremeaux und John Jordan sich 2006 auf die Reise zu utopischen Orten und Gemeinschaften in Europa aufmachten, verfolgten sie ein demgegenüber durchaus bodenständiges Anliegen. Das utopische Element manifestiert sich für sie in der konkreten Verwirklichung alternativen Lebens in Gemeinschaften, die neue Produktionsweisen und Lebensformen erkunden. Die von ihnen aufgeworfene Frage, wie der Niedergang einer Zivilisation im Banne des Klimawandels aufzuhalten sei, wird nicht mit dem Postulat letztgültiger Gesellschaftsentwürfe beantwortet. Aus deren Scheitern haben sie gelernt, das Randständige und Ausgegrenzte, die Zwischenräume und Brüche in der herrschenden Matrix kapitalistischer Vergesellschaftung als Zonen einer Potentialität zu begreifen, in der das Neue auf durchaus unvorhersehbare und überraschende Weise - sonst könnte man von Neuem wohl kaum sprechen - Gestalt annimmt.

So halten die beiden Autoren, die tief in den sozialen Bewegungen des letzten Jahrzehnts verwurzelt sind, die Frage nach der Utopie aufrecht, um ihre Wirkmächtigkeit in der nach vorne offenen Konzeption sozialer Laboratorien und Workshops für eine bessere Welt zu entfalten. Utopien sind für sie "eine hilfreiche Unterstützung unserer postkapitalistischen Vorstellungskraft" (S. 292) und als solche, wie der Blick auf die Entwicklung alternativer Lebensformen der letzten Jahrzehnte belegt, auch dann wertvolle Ratgeber, wenn sie sich in der konzipierten Form nicht bewährt haben. Fremeaux und Jordan bewegen sich in einer Kontinuität antikapitalistischer Experimente, in denen begriffen wurde, daß die Kette kapitalistischer Verwertungslogik nicht in einer hypothetischen Zukunft des historischen Prozesses ausläuft, sondern schon jetzt unterbrochen werden kann:

"Wir erschaffen den Kapitalismus, und der Kapitalismus erschafft uns, es ist ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Doch was uns die Reise gezeigt hat, ist der Umstand, dass wir nie vollkommen im Kapitalismus gefangen sind, wir alle können aus der Rolle fallen oder zu einer anderen Melodie tanzen. Wir können uns dem Zugriff des unmittelbar Gegebenen entziehen und die Zukunft sein. Wir können uns weigern, unsere Kreativität in den Dienst der Perpetuierung kapitalistischer Werte zu stellen und unsere Energie auf ein anderes Vorgehen und Verhalten verwenden. Wir können jetzt schon so leben, als wären wir bereits frei". [S. 293]

Fremeaux und Jordan scheinen sich durchaus bewußt zu sein, daß sie sich mit einer solch subjektivistischen Form der Kapitalismuskritik dem Vorwurf des bloßen Eskapismus aussetzen. Ihr anarchistisches Selbstverständnis läßt es jedoch nicht an Streitbarkeit mangeln, weisen sie doch wiederholt darauf hin, daß sie nicht die Flucht aufs Land oder den Rückzug in das Glück im Winkel propagieren. Sie seien nicht so naiv anzunehmen, "dass sich die herrschenden Mächte ohne Kampf zurückziehen werden" (S. 295). Sie hätten selbst genügend Polizeigewalt erlebt und seien sich zudem über die Immunisierungsstrategien des Kapitals im Klaren, soziale und ökologische Fortschritte für die eigenen Interessen zu adaptieren und damit gegen ihren emanzipatorischen Anspruch zu kehren. Daher gelte es, niemals aufzuhören, Widerstand zu leisten, und nicht die "Gestalt deines Feindes" zu vergessen, dem es ansonsten sehr viel leichter fallen wird, "sich bei dir einzuschleichen und deine Ideen zu vereinnahmen, bevor du es überhaupt merkst" (S. 295).

So haben Fremeaux und Jordan in ihrer mehrmonatigen, von London ausgehenden Reise durch England, Spanien, Frankreich, Serbien, Deutschland und Dänemark zwar den Schwerpunkt auf Projekte gelegt, in denen bekannte wie neuartige Formen der ökologischen Bewirtschaftung des Landes die Grundlage einer kollektiven Produktionsweise bilden. Ihnen ging es jedoch auch darum, verschiedene Ansätze sozialer und politischer Selbstorganisation zu erkunden. In Würdigung dessen, daß auch der Umgang des Menschen mit der Natur sozial determiniert ist und daß sich Herrschaft weder im Mikrokosmos einer kleinen Gemeinschaft noch gesamtgesellschaftlich überwinden läßt, wenn die Subjektivität eigenen Tuns nicht zum Maßstab darüber hinausgreifender Konzeptionen gemacht wird, steht und fällt die Utopie mit dem Interesse des einzelnen Menschen an der Befreiung von fremdbestimmter Arbeit, warenförmiger Verdinglichung und gewaltsamer Unterwerfung.

Und natürlich gibt es objektive Gründe, in Bewegung zu kommen, und zwar nicht nur vorübergehender Art. "Die Klimakrise unterscheidet sich grundlegend von allem, womit wir je konfrontiert waren. Sie ist keine historische Situation, in der wir den Kopf einziehen und abwarten. Sie verlangt von uns, dass wir Widerstand leisten, Farbe bekennen und uns verweigern" [S. 32]. Fremeaux und Jordan gehören zu den Mitorganisatoren des Climate Action Camps 2007, das sich gegen den Bau einer dritten Landebahn für den Londoner Flughafen Heathrow, dem der Ort Sipson hätte weichen sollen, wie die Luftahrtindustrie überhaupt richtete. In den zahlreichen Workshops, die in dem von über tausend Aktivisten bewohnten Camp stattfanden, wurden zahlreiche Fragen der Selbstorganisation, des nachhaltigen Wirtschaftens, der Ursachen des Klimawandels, seiner Bewirtschaftung im Rahmen grünkapitalistischer Herrschaftsicherung etwa durch den Handel mit Klimazertifikaten, der Praxis direkter Aktion wie auch der sozialen Folgen ökologischer Verödungen im Sinne eines Krieges gegen die Armen der Welt behandelt.

So beginnt die Reise mit einer umfassenden Einführung in die Konzeption der Klimacamps. Sie haben sich seit 2006, als diese Mobilisierungs- und Aktionsform erstmals gegen den größten CO2-Emittenten Britanniens, das Kohlekraftwerk Drax in North Yorkshire, erprobt wurde, zu einer weltweiten Bewegung entwickelt, die auch die Bundesrepublik erreicht hat, wie etwa die diesjährigen Klimacamps im rheinischen Braunkohlerevier und im ostdeutschen Braunkohletagebau in der Lausitz belegen. Da das Autorenduo die Ereignisse am Flughafen Heathrow aus erster Hand schildert, nimmt die Lektüre einen höchst authentischen Charakter an. Sie teilt viel von der Begeisterung und Freude mit, die einem Protest innewohnt, der nicht nur auf der Straße stattfindet, sondern integraler Bestandteil der Erkundung einer zwar befristeten, aber dennoch sehr aufschlußreichen Form des sozialen Miteinanders ist.

Die bei den organisatorischen und inhaltlichen Entscheidungsprozessen dieser Aktivistenszene gewählten Formen der Kommunikation und Diskussion können bereits als Laboratorien eines alternativen Lebens verstanden werden, geht es dabei doch keineswegs nur harmonisch zu. Dem politischen Kampf sind die Widersprüche der Gesellschaft, gegen die er sich richtet, notwendigerweise immanent, so daß basisdemokratische und hierarchiefreie Prozesse erst einmal entwickelt werden müssen. Aus "Lernen durch Dissens" (S. 21) wird bei dem Versuch, mitunter sehr unterschiedliche Sichtweisen auf einen Nenner wirksamer Aktion zu bringen, weit mehr als ein kommunikationstheoretisches Konzept. Es ist das Abenteuer einer sozialen Praxis, die den Anspruch auf grundlegende Veränderung so ernst nimmt, daß das Rechthaben- und Gewinnenwollen im besten Fall auf der Strecke gemeinsamer Handlungsfähigkeit bleibt.

Zweifellos wird dieses Vorhaben härtesten Überprüfungen ausgesetzt, wenn sich meist sehr individualistische Menschen erst einmal entschließen, auf lange Sicht ein gemeinsames Projekt zu betreiben. Bei aller Idylle, die in den Schilderungen der auf dem Land gelegenen sozialökologischen Projekte aufscheint, dominiert auch dort das Problem, wie sich der Anspruch auf herrschaftsfreies Leben etwa mit funktionell definierten Sozialstrukturen und unter starken Sachzwängen stehenden Entscheidungsprozessen vereinbaren läßt. Isabelle Fremeaux und John Jordan verfallen nicht der beim Streben nach Utopia stets gegebenen Versuchung zu idealisieren, sondern sprechen die Probleme an, die entstehen, wenn Menschen freiwillig auf eine verbindlichere Weise zusammenleben, als es die programmatische Atomisierung der hochmobilen und hochflexiblen Jobkultur verlangt.

Dies variiert natürlich mit dem jeweiligen Niveau der Verbindlichkeit, die sich in der anarchistisch organisierten spanischen Stadt Marinaleda und in der anarchistischen Schule Paideia ganz anders darstellt als in den französischen Landkommunen Cravirola und Longo Mai. Auch sind die Motive der Belegschaft einer im serbischen Zrenjanin angesiedelten pharmazeutischen Fabrik, die ihre Arbeiterinnnen und Arbeiter in Selbstverwaltung übernommen haben, anders gelagert als die der Bewohnerinnen und Bewohner der mitten in Barcelona gelegenen anarchistischen Gemeinschaft Can Masdeu, des in den französischen Cevennen gelegenen Künstlerdorfs La Vieille Valette, des Permakultur-Projekts Landmatters in Südwestengland oder des selbstverwalteten Kopenhagener Stadtteils Christiania.

Der Faden utopischen Lebens hält dennoch, denn er ist aufgezogen an dem Interesse ganz unterschiedlicher Menschen, sich von der Destruktivität kapitalistischer Verwertungslogik und den Zwängen der sie prozessierenden Staatsgewalt zu befreien. Was in den geschilderten Projekten an kollektiver Handlungsfähigkeit, herrschaftsfreiem Gemeinschaftsleben, nichtentfremdeter Arbeit, kommunaler Selbstorganisation, kleinteiliger Energieversorgung und einem schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen erarbeitet wurde, sind bereits Keime einer Zukunft, die zu verwirklichen allen Einsatz lohnt. Die sich dabei auftuenden Hindernisse und Abgründe materieller, sozialer wie politischer Art sind der Werkstoff, den es zu bearbeiten gilt. Aus einer Situation voller Widersprüche, die sich nicht auf die kapitalistische Vergesellschaftung beschränken, sondern bis in die kulturelle und biologische Determination des Menschen reichen, zu neuen Ufern aufzubrechen ist ein radikales Anliegen, dessen Inangriffnahme der Homo oeconomicus nicht umsonst scheut.

Diese Probleme aus der Distanz des Beobachters zum Anlaß zu nehmen, das Utopische rundheraus zu verwerfen und diejenigen, die sein Wagnis eingehen, in der negativen Konnotation des Begriffs als Fantasten zu diskreditieren trägt dazu bei, daß individuelle Ohnmacht zu Lasten emanzipatorischer Veränderung verabsolutiert wird. Hier lohnt sich ein genauerer Blick auf Vorläufer der neuen Kommunebewegung, die nicht so schlecht waren, wie es ihr auch in diesem Buch attestierter Ruf erscheinen läßt. Während die Kritik der Autorin und des Autors an der Karriere sozialrevolutionärer Aktivistinnen und Aktivisten der 1960er und 1970er Jahre zu Sachwaltern der flexiblen Marktwirtschaft, des grünen Kapitalismus und der humanitären Kriegführung eher noch umfassender hätte ausfallen können, lassen die Abgrenzungsversuche gegen die kollektiven Projekte dieser Zeit außer Acht, daß diese am Beginn eines Aufbruchs standen, der mit weit größeren gesellschaftlichen Widerständen konfrontiert war, als es bei der heutigen radikalökologischen Alternativbewegung der Fall ist.

So wurden schon in der Gegenkultur der 1960er Jahre Mensch und Natur schonende Konzepte und Technologien erforscht, und selbst die Wurzeln der vermeintlich jungen Tierbefreiungsbewegung lassen sich bis in die frühen 1970er Jahre zurückverfolgen. Die anhand mehrerer Beispiele beschriebenen Schwierigkeiten, die sich ergeben können, wenn Menschen mit besonders großen Problemen wie Flüchtlinge, Drogensüchtige oder Obdachlose in Gemeinschaften mit anarchistischem Selbstverständnis leben wollen, waren ein wichtiges Thema für eine radikale Linke, die Randständigenkollektive bildete und Alternativen zum gesellschaftlichen Reparaturbetrieb der Psychiatrie und Sozialarbeit erforschte. Hier ist vieles in Vergessenheit geraten, womit sich der Zurichtung des Menschen auf die Erfordernisse der Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft entgegentreten ließe.

Vor allem jedoch hat die entschiedene Radikalität, mit der die Eigentumsfrage gestellt wurde, weitreichende Auswirkungen auf heutige Formen gemeinschaftlichen Lebens gezeitigt. Wenn das Wohnen in verfügbaren Häusern allein auf deren Nutzung bezogen wird, ohne daß sich daraus ein rechtlicher Anspruch ergibt, wenn die Vergemeinschaftung natürlicher Ressourcen als sozial wie ökologisch vorteilhaft propagiert und der Zugriff der Saatgutmultis auf die Nahrungsmittelproduktion als Angriff auf das Lebensinteresse aller Menschen verstanden wird, dann fußen diese Erkenntnisse auch auf den Kämpfen früherer Generationen von Aktivistinnen und Aktivisten um ein selbstbestimmtes Leben.

Daher haben Fremeaux und Jordan mit der Aussage, daß die "postkapitalistischen Utopias keine Inseln, sondern eine endlose Kette aufständischer Archipele" (S. 294) seien, zweifellos die Vision sozialrevolutionärer Kommunarden früherer Zeiten beschrieben. Der ihnen gemachte Vorwurf des Eskapismus ist nicht anders als heute durch reale Gewaltverhältnisse bedingt, die in der globalen Krise nicht nur des Kapitals, sondern auch des Klimas, der Energie, der Ernährung und der demokratischen Legitimation jeden Versuch, ein radikal anderes Leben zu führen, bedrohen.

Das Autorenduo ist sich dieses Problems bewußt, wie nicht nur mehrere von ihnen angeführte Beispiele für massive staatliche Repression gegen politische Gruppen und alternative Lebensformen dokumentieren. So mündet die Schilderung des Aufenthalts im Zentrum für experimentelle Lebensgestaltung (ZEGG), ein von 80 Erwachsenen und 15 Kindern bewohntes Gemeinschaftsprojekt im brandenburgischen Belzig, in die nachdenkliche Überlegung, daß die Möglichkeit, eine um Liebe und Sexualität kreisende Lebensform zu betreiben, das Privileg voraussetzt, nicht unmittelbar mit Gewalt und Zerstörung konfrontiert zu sein. Nach einem Gespräch mit einem dort lebenden Yogalehrer, der das Problem der Gewalt als Produkt eigener Ängste psychologisierte, erreichte die Autoren die Mail eines Aktivisten aus Palästina, dessen Freund bei einem Gespräch am Tisch von israelischen Soldaten in Zivil durch das Fenster erschossen wurde. Weil er sich noch bewegen konnte, feuerten sie weiter auf ihn und warteten schließlich so lange, bis er verblutet war.

Fremeaux und Jordan werfen daraufhin die Frage auf, ob ihr Gesprächspartner beim ZEGG überhaupt wisse, "wie es sich anfühlt, wenn man um sein Leben fürchten muss oder um das seiner Freunde oder seiner Familie? Die meisten Aktivistinnen und Aktivisten des globalen Nordens genießen das Privileg, sich moralisch im Recht fühlen zu dürfen, wenn sie Gewaltlosigkeit fordern" [S. 254]. Unter Verweis auf den US-amerikanischen Zivilisationskritiker Derrick Jensen sprechen sie von einer "Hierarchie akzeptabler und nichtakzeptabler Gewalt" in der westlichen Kultur: "'Gewalt, die von denen ausgeübt wird, die weiter oben in der Hierarchie stehen und sie gegen jene richten, die weiter unten stehen, bleibt zumeist unsichtbar. (...) Gewalt, die von denen weiter unten in der Hierarchie gegen die oben ausgeübt wird, ist undenkbar, und wenn sie dennoch vorkommt, reagiert man auf sie schockiert, entsetzt und indem man die Opfer fetischisiert.'" [S. 254].

Den zum Buch gehörigen Film siedelten die Autoren 2006 konzeptionell in einer "imaginären Ära nach dem ökologischen und ökonomischen Zusammenbruch" an, gestehen jedoch bei der Niederschrift des Buches nur wenige Jahre später ein, daß "diese Fiktion (...) rascher, als wir ahnten, Wirklichkeit geworden zu sein" [S. 287] scheint. Die Beschleunigung, mit der sich die krisenhafte Entwicklung der Reproduktion menschlicher Lebensgrundlagen vollzieht, verleiht der Lektüre des Buches, die der ohne kommentierende Textspur auskommende Film auf unaufdringliche Weise anschaulich macht, zusätzliche Bedeutung. Die im Zeichen ihrer eigenen Zukunft auf einem Hof in der Bretagne, wo Isabelle Fremeaux und John Jordan am Aufbau der postkapitalistische Kommune La r.O.n.c.e. beteiligt sind, stehende Parteilichkeit des Textes und die zahlreichen Exkurse in Theorie und Praxis alternativer Lebensformen machen das Buch "Pfade durch Utopia" zu einer hervorragenden Diskussiongrundlage für Menschen, deren Einsicht in die Inakzeptanz herrschender Verhältnisse zu dem Mut heranreift, "Dinge zu erschaffen, die es so noch nie gab, und dabei zu Mitteln zu greifen, die noch nie ausprobiert wurden" [S. 297].

21. August 2012


Isabelle Fremeaux / John Jordan
Pfade durch Utopia
Ein Buch/Film
mit DVD (109 Minuten Film, Format 16:9, französische, englische und deutsche
Untertitel)
Edition Nautilus, Hamburg, 2012
ca. 320 Seiten; ca. 25,- Euro
ISBN 978-3-89401-763-7