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REZENSION/586: Marcel Robischon - Vom Verstummen der Welt (Verlust der Artenvielfalt) (SB)


Marcel Robischon


Vom Verstummen der Welt

Wie uns der Verlust der Artenvielfalt kulturell verarmen läßt



Die Geschwindigkeit, mit der gegenwärtig Tier- und Pflanzenarten aussterben, wird von Wissenschaftlern als erdgeschichtlich einzigartig bezeichnet. Selbst die gelegentlichen katastrophalen Massensterben im Laufe der letzten 500 Millionen Jahre sind nicht so schnell vonstatten gegangen, wie heute die Arten von der Erdoberfläche verschwinden. Hauptverantwortlich für diese Entwicklung ist der Mensch, und würden sich alle Einwohner dieses Planeten einen genauso hohen Ressourcenverbrauch leisten wie die Bewohner der Industriestaaten, bräuchte man mehrere Erden. Da diese nicht zu Verfügung stehen, beschleunigt der westliche Hochverbrauchslebensstil anteilsmäßig die Vernichtung der Tiere und Pflanzen in besonderer Weise.

Der Forstwirtschaftler und promovierte Biologe Marcel Robischon bringt sich mit einem bemerkenswerten Buch in die Debatte um den Verlust der Artenvielfalt ein, bemüht er sich doch um einen Brückenschlag von der Natur- zur Kulturwissenschaft. Der Titel "Vom Verstummen der Welt" weckt Assoziationen zu anderen Büchern, an erster Stelle zum Ökoklassiker "Der Stumme Frühling" (Silent Spring, 1962) von Rachel Carson. Der Untertitel, "wie uns der Verlust der Artenvielfalt kulturell verarmen lässt", klingt nicht einfach nur vielversprechend, der Autor hat auch etwas dazu zu sagen. Indem er die Leserschaft ganz im Stil des bekannten britischen Naturforschers und Dokumentarfilmers Sir David Attenborough erzählerisch in die verschiedensten Weltregionen (ent-)führt, hält ihr bildreich vor Augen, wie der Mensch durch seine Ausbreitung letztlich auch seine eigenen Lebens- und Überlebensvoraussetzungen gefährdet. Die ökologische Ödnis geht mit der sprachlichen Ödnis Hand in Hand.

"Während wir noch zurückblickend kaum verstehen können, welche Auswirkungen das Ersetzen und Ausrotten von Arten und die Veränderung unserer lebenden Umwelt auf uns selbst hatte, geht das Artensterben ungebremst weiter und immer weiter" (S. 67), konstatiert Robischon und schreibt, daß ein Großteil der aussterbenden Arten der Wissenschaft unbekannt ist, und diese nicht einmal Namen hinterlassen haben - nicht in der Wissenschaft, nicht in der allgegenwärtigen Sprache der Globalisierung, nicht in der heimischen Sprache einzelner Kulturen: "Hier einen schmerzlichen Verlust zu verspüren, dürfte vielen Menschen schwerfallen" (S. 68), schreibt der Autor, der das natürlich anders sieht und seine Ansicht begründet:

"Wie kann denn ein Verlust als solcher wahrgenommen werden, wenn wir zunächst gar nicht wussten, was wir besaßen, wenn wir nicht einmal einen Namen dafür hatten? Wenn die meisten Arten aussterben, ohne dass wir sie je gekannt, je beschrieben hätten - wie können wir da Geschichten oder Wissen verlieren? Wie können wir überhaupt etwas verlieren außer einem Namen in einem wissenschaftlichen Bericht, wenn es sich um ein Tier handelt, das so winzig klein ist, dass es keiner sieht? Anders als bei Mammut und Wollnashorn, Mylodon oder Tasmanischem Tiger gibt es um sie keine Geschichte. 'Noch' nicht." (S. 68)

Mit dieser Aussage hebt Robischon darauf ab, daß mit jedem entdeckten Tier, und sei es klein wie eine Laus oder gar ein Bakterium, Fragen aufgeworfen werden, die ansonsten ungestellt geblieben wären: "Mit jedem neu entdeckten Tier wird also ein 'Lehrmeister' gewonnen, auch wenn wir sein Fach vielleicht noch nicht kennen, einer, der hilft, Fragen zu beantworten, und dazu anregt, neue Fragen an die Natur zu stellen. Mit jedem, der ausstirbt, geht Wissen verloren. Welche Fragen, die wir an die Natur haben mögen, werden unbeantwortet bleiben, da möglicherweise dieses Tier ausgestorben ist - oder schlimmer noch: Welche Fragen werden nie gefragt werden, da möglicherweise auch das Lebewesen, das zu einer bestimmten Frage angeregt hätte, ausgestorben sein könnte?" (S. 68/69)

In dreizehn Kapiteln, die jeweils durch eine Doppelseite mit einem Sinnspruch und einer kleinen, attraktiven Schwarz-weiß-Zeichnung beispielsweise eines Tieres oder ein Landschaft eingeleitet werden, berichtet, nein, träumt Marcel Robischon von Wäldern und ihren vielstimmigen Bewohnern, von Inseln, auf denen sich eine einzigartige Vielfalt an Arten entwickeln konnte, oder von seinen naturkundlichen Abenteuern im Goldland, wie er den US-Westküstenstaat Kalifornien bezeichnet. Jene Träumereien, durch die sich womöglich die Leserinnen und Leser an eigene Naturerkundungen erinnert fühlen, gehen häufig in Alpträume über, wenn Robischon über die Verschleppung von Tieren über Kontinente hinweg und ihre grausamen Folgen für Fauna und Flora schreibt, wenn er einen Zusammenhang herstellt zwischen dem Verlust der Arten und dem Verlust der sprachlichen und kulturellen Vielfalt oder wenn er schlicht die Mordlust des Menschen schildert.

Robischon bemüht sich um eine Gratwanderung zwischen prosaischen Schilderungen und naturwissenschaftlichen Beschreibungen. So lesen wir über seinen Wohnort im "Tal in den grünen Bergen", das am Fuß des Schwarzwalds liegt:

"So wie die alten Namen der Orte im Tal ein Nachhall der geheimnisvoll versunkenen Vergangenheit, der Urzeiten, der Geheimniszeiten voller Bären und Wölfe, Geier und Giftbäume waren, so brachte der Ruf der Zugvögel einen Klang von weither, eine Botschaft von jenseits der grünen Berge, wo es noch ungeheuer viel zu sehen und zu entdecken geben musste. Doch es gab noch andere Botschafter aus der weiten Welt, die lautlos Geschichten erzählten und in meinem Tal den Status des Besonderen, des Exotischen genossen und grenzenlose Neugier weckten: die patagonische Südbuche - aus Feuerland, vom Ende der Welt! - auf dem Schulhof und der amerikanische Riesenlebensbaum im Park, der hier tatsächlich zu einem grünen Giganten hatte heranwachsen dürfen und in seinen Schuppenblättchen einen Duft wie von Ananas und Äpfeln barg." (S. 12/13)

Nicht immer gelingt die Gratwanderung. Ein auffälliges Stilelement des Buchs, das anfangs durchaus reizvoll, da ungewöhnlich ist, die vielen lateinischen Bezeichnungen der Tiere und Pflanzen, wirkt passagenweise überlastet, und die Erzählung verliert ihre Verwunschenheit und Leichtigkeit. Dennoch prägen die lateinischen Namen das Buch und sollten auch nicht wegfallen. Auch damit spricht der Autor bei der Leserschaft etwas an, das allzu häufig im hektischen Getriebe der Alltagsbewältigung und Existenzsicherung durchs Rost fällt. Zu einem traurigen Thema hat der Robischon mit "Vom Verstummen der Welt" ein inhaltlich und von der Aufmachung her schönes Buch geschrieben, in dem es - wie passend! - viel zu entdecken gibt.

Doch so einleuchtend seine Ausführungen auf den ersten Blick auch erscheinen mögen und so sehr ihnen in einer Welt ungezügelten Raubs an Mensch und Raubbaus an Natur alle Berechtigung zugesprochen werden sollte, um dem menschheitsgeschichtlichen Trend der Zerstörung und Verödung etwas entgegenzusetzen, so scheint in der Argumentation Robischons eine Denkweise auf, wie sie in letzter Konsequenz eben auch zum Verstummen der Welt beiträgt, nämlich die Vorstellung, daß die Naturwissenschaft mit ihren Mitteln und Methoden je eine andere gesellschaftliche Funktion erfüllt hätte als die, die Verwertung der zur Natur erklärten Mit- und Umwelt weiter und weiter voranzutreiben.

Um im obigen Bild zu bleiben, hieße das: Mit jedem Wissen, das verloren geht, geht Wissen um seine Nutzung verloren. Es sind hauptsächlich die Wissenschaftler der Pharmakonzerne, der großen Forschungslabore und anderer, letztlich von kommerziellen Interessen motivierter Einrichtungen, die unter dem antarktischen Eis nach neuen Bakterienarten fahnden, die Ökosysteme an untermeerischen Schwefelschloten katalogisieren oder im tiefsten Amazonas-Regenwald zur Jagd auf endemische Pflanzenarten blasen, um beispielsweise an neuartige Wirkstoffe zu gelangen, aus denen sich profitable Produkte herstellen lassen, oder allgemein um Wissen zu generieren, das einer späteren Nutzung in diesem Sinne den Weg bereitet.

Noch grundsätzlicher ist Robischon die Frage zu stellen: Wie vieler Tiere bedarf es denn noch, damit die Menschen innehalten mit dem, was sie gerade tun, und anfangen, Fragen zu stellen, wenn doch schon ein einziges Tier, eine einzige Frage, die sich von keiner Antwort den Mund verbieten läßt, genügte, um eine unzweifelhafte Position gegenüber dem einzunehmen, was in dem Buch als Verlust der Arten und kulturelle Verarmung beklagt wird? Zweifellos, der Mensch beschleunigt diese Entwicklung, aber zeigt nicht die Erdgeschichte, daß es der Menschen nicht bedarf, um Tiere und Pflanzen für immer zum Verstummen zu bringen? Steht somit der Mensch nicht womöglich einem noch viel größeren Problem gegenüber, als "nur" seinen Anteil am Artenverlust zu beenden, wollte er sich mit einem klaren Nein zum Verstummen der Welt positionieren?

10. Juli 2012


Marcel Robischon
Vom Verstummen der Welt
Wie uns der Verlust der Artenvielfalt kulturell verarmen läßt
oekom verlag, München 2012
ISBN 978-3-86581-182-0
320 Seiten, 19,95 Euro