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REZENSION/574: John Holloway - Kapitalismus aufbrechen (SB)


John Holloway


Kapitalismus aufbrechen



Der 1947 in Dublin geborene Soziologe und Philosoph John Holloway gehört zu den Vordenkern der Anti-Globalisierungsbewegung. Sein 2002 erschienenes Buch "Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen" gilt als wichtiger intellektueller Impuls hinter der Occupy Movement, deren Aktivisten seit Wochen mit Zeltlagern vor der New Yorker Wall Street, der Londoner City, dem Hauptquartier der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt und an vielen anderen Orten der Welt gegen den Kapitalismus in seiner heutigen Form protestieren. [1] Holloway, der seinen Doktor der Politikwissenschaft an der Universität von Edinburgh in Schottland gemacht hat, lebt seit Anfang der neunziger Jahre in Mexiko, wo er als Dozent an der angesehenen Benemérita Universidad Autónoma de Puebla (BUAP) arbeitet. Das Interesse am Kampf der Zapatistas in Mexiko und der zahlreichen autonomen, indigenen und landlosen Initiativen in anderen Teilen Lateinamerikas um soziale Gerechtigkeit prägt das jüngere Werk Holloways und hat ihn in Europa und Nordamerika zu einem Multiplikator für die Ideen und Erfahrungen von der Welt jenseits des Rio Grande gemacht.

Holloway lehnt die kapitalistische Gesellschaftordnung deshalb ab, weil sie seines Erachtens die Menschen zu Sklaven degradiert und um ihr wahres Potential beraubt. In seinem neuen Buch stellt er die Frage, wie diese Ordnung zu Fall gebracht werden kann, und liefert selbst dazu jede Menge Anregungen. Von daher läßt sich der Titel "Kapitalismus aufbrechen" als eine unverhohlene Aufforderung an den Leser verstehen, sich bei der Überwindung des herrschenden Systems einzubringen. Doch wie sollte das gehen, wo es den meisten Menschen doch leichter fällt, sich das Ende der Welt im Zuge einer gewaltigen Naturkatastrophe oder eines Atomkrieges vorzustellen als ein Ausbrechen aus den Verwertungsverhältnissen des Kapitalismus? Gerade bei der Behebung dieser fatalen Denkblockade leistet Holloway mit der vorliegenden Lektüre Hilfe.

Im Mittelpunkt der hollowayschen Erörterungen steht der Antagonismus zwischen abstrakter Arbeit und selbstbestimmtem Tätigsein. Es geht hier um den von Marx erstmals postulierten Doppelcharakter der Arbeit, dessen Wichtigkeit für Holloway nicht genug betont werden kann. Folgende Erläuterung jenes Konzepts, wie eine gewöhnliche Tätigkeit über die Abstraktion zum Akt der Selbstausbeutung wird und die Entfremdung mit sich bringt, gibt exemplarisch wieder, wie Holloway mit einfachen Worten die häufig auf den ersten Blick nicht unkompliziert erscheinenden Ideen von Marx und anderen linken Theoretikern jedem Leser zugänglich macht:

Ich backe einen Kuchen. Ich backe gern Kuchen, ich esse gern Kuchen, ich lade mir gern Freunde dazu ein, und auf meine Kuchen bin ich stolz. Dann kommt mir die Idee, ich könnte vom Kuchenbacken leben. Ich backe Kuchen und verkaufe sie auf dem Wochenmarkt. Stück für Stück wird der Kuchen also ein Mittel, mit dem ich ein Einkommen erwirtschafte, von dem ich leben kann. Ich muss Kuchen mit einer bestimmten Geschwindigkeit herstellen und auf eine bestimmte Art und Weise, sodass ich den Verkaufspreis niedrig genug halten kann. Ob ich gerne Kuchen backe, spielt jetzt keine Rolle mehr. Nach einer Weile wird mir klar, daß ich nicht genug verdiene und da Kuchenbacken sowieso nur ein Mittel zu einem Zweck ist, eine Art des Geldverdienens, sage ich mir, dass ich genauso gut auch etwas Anderes herstellen kann, das sich besser verkauft. Mein Tätigsein ist ganz gleichgültig gegenüber seinem Inhalt geworden, ich beziehe mich auf meine Arbeit in Abstraktion von ihren konkreten Inhalten und Eigenschaften. Das von mir hergestellte Produkt ist jetzt so entfremdet von mir, dass ich genauso gut wie Kuchen auch Rattengift herstellen könnte, solange es sich nur verkauft.
(S.96)

Der hier gelieferte Schlüssel läßt sich beliebig anwenden und erklärt, um ein sehr drastisches Beispiel zu nehmen, wie sich ein einfacher Pilot oder Betreiber eines kleinen Charterflugunternehmens in den USA plötzlich als Transporteur irgendwelcher verschleppter Folteropfer der CIA wiederfindet. Das heißt, die wirtschaftliche Dynamik folgt ihrer eigenen Logik.

Holloway tritt nicht für die Zerstörung des Kapitalismus, eine Übernahme der vorhandenen Institutionen und eine Verstaatlichung der wichtigsten Wirtschaftssektoren und Ressourcen ein, denn wie man anhand der Geschichte der Sowjetunion erkennen konnte, hat dieser Ansatz lediglich zum Austausch eines Herrschaftssystems gegen ein anderes geführt. Holloways Kritik zielt statt dessen darauf ab, die Beteiligung des Einzelnen am kapitalistischen System freizulegen, um ihm den Abbau derselben zu ermöglichen. Nach seiner Vorstellung existiert der Kapitalismus nicht einfach, sondern wird jeden Tag, jede Minute, jede Millisekunde immer wieder neu erschaffen. Dies erklärt, warum Kapitalinteressen mittels der von ihnen gelenkten Staaten so aggressiv auf Formen der Selbstorganisation reagieren, die nicht auf den fiskalisch zu kontrollierenden Geldtausch basieren, und stets bemüht sind, oppositionelle Gruppen entweder zu kooptieren oder zu beseitigen. Einen Beleg dafür liefert der Aufstieg und Niedergang der Gewerkschaftsbewegung und die Mutation der Nicht-Regierungsorganisationen zu Trägerinnen westlicher Modelle "zivilgesellschaftlicher" Entfaltung. Vor dieser Art von Vereinnahmung warnt Holloway eindringlich.

Der irische Neomarxist verwahrt sich gegen jede Form ontologischer Bestimmung und geht der Herrschaftsfunktion der wichtigsten politisch-ökonomischen Begriffe dezidiert nach. Zur Begründung seines Frontalangriffs auf die "objektive Zeit" führt er den Leser in die Geschichte der Einhegungen und kolonialen Eroberungen ein, als der sogenannte Wilde ausgetrieben und das auf die Erfordernisse der modernen Arbeitswelt normierte Individuum erschaffen wurde. Dabei hebt er insbesondere hervor, daß der damalige Raub an Mensch und Natur noch lange nicht abgeschlossen ist, sondern heute durch die Privatisierung der lebenswichtigen Ressource Wasser und die Patentierung von Gencodes seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Einfallsreich in diesem Zusammenhang ist die Art, wie Holloway auf die eigene Herkunft zurückgreift und unter Verweis auf die Mythen um die Tuatha Dé Danann, die früheren Bewohner Irlands, die sich nach der Landeroberung durch die Kelten unter die Erdoberfläche zurückzogen, erklärt:

Die Hexen leben: keine rhetorische Floskel, sondern die reale gegenwärtige Kraft der Erinnerung und der möglichen Zukunft.

(...)

Der Sieg der abstrakten Arbeit hat andere Verhaltensformen nicht ausgelöscht, sondern nur in den Untergrund getrieben, wo sie weiterleben, unterdrückt und rebellisch. Uns interessiert die Rückkehr des Verdrängten, ... nicht die verdrängte Vergangenheit, sondern was in der Vergangenheit unerlöst ist, die Möglichkeit einer anderen Zukunft.
(S. 170)

Holloway konstatiert die innere Zerrissenheit jedes einzelnen von uns, einschließlich seiner eigenen Person - "der radikale Professor, der am Messen und Quantifizieren der Arbeit seiner Studenten teilhat" (S. 256). Der Umstand sei ihm zufolge darauf zurückzuführen, daß alle Menschen auf irgendeine Weise Anteil haben an dem System, das sie zu austauschbaren Objekten macht und Leid in ungeheurem Ausmaß produziert. Die Beteiligung am System gibt gleichzeitig jedem eine Waffe in die Hand, die zu benutzen es genügt, sich dem System zu verweigern bzw. mit ihm zu brechen.

Holloway will den Leser ermutigen, sich auf die Seite des Schreis, der Negation des Bestehenden und der Rastlosigkeit zu stellen und zeigt anhand diverser Situationen auf, wie dies, und sei es anfangs nur in kleinen Schritten, gelingen könnte. In einer Ära, in der das apokalyptisches Denken das utopische fast gänzlich verdrängt hat, kann man die gedanklichen Anregungen Holloways nicht hoch genug schätzen.

1. Dezember 2011

Fußnote:

1. 'Another World Is Possible' Event @ Irish Seed Savers Centre in Scariff, Co. Clare on Sat Dec 3, Irish Left Review, November 29, 2011 http://www.irishleftreview.org/2011/11/29/another-world-possible-event- irish-seed-savers-centre-scariff-clare-sat-dec-3/#more-5792


John Holloway
Kapitalismus aufbrechen
(Aus dem Englischen "Crack Capitalism" von Marcel Stoetzler ins
Deutsch übertragen)
Verlag Westphälisches Dampfboot
276 Seiten
ISBN: 978-3-89691.863-5