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REZENSION/573: Tim B. Müller - Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg (SB)


Tim B. Müller


Krieger und Gelehrte

Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg



"Kritische Verweigerungen" - unter diesem Titel fand Ende Oktober 2011 an der Universität von Pennsylvania eine Konferenz der Internationalen Herbert-Marcuse-Gesellschaft statt, auf der Marcuses philosophische Theorien als Anregung für eine kritische politische Praxis mit dem Bestreben zur gesellschaftlichen Umgestaltung genutzt werden sollten. Die zur selben Zeit im Entstehen begriffene Occupy-Bewegung wurde von den Konferenzteilnehmern freudig begrüßt, sahen sie doch in der inhaltlichen Nähe zwischen ihrem Thema und der Wallstreet-Belagerung einen Beleg für die ungebrochene Relevanz des Marcuse-Werkes. Da der 1979 verstorbene Intellektuelle als Ikone der US-amerikanischen Antivietnamkriegsproteste wie auch der hiesigen '68er gilt, scheint die Frage, ob der Rückgriff auf Marcuse und sein Werk für die heutigen Protestbewegungen von Nutzen sein könnte, nahe zu liegen.

Wer dies in Erwägung zieht, täte gut daran, sich umfassender mit der Person, dem Lebenswerk und dem politischen Vermächtnis Herbert Marcuses zu befassen, wozu die im September 2010 unter dem Titel "Krieger und Gelehrte - Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg" herausgegebene Arbeit eine willkommene Gelegenheit bietet. Bei diesem Buch handelt es sich um die 2009 unter dem Titel "Radikale, Krieger und Gelehrte. Linksintellektuelle, amerikanische Geheimdienste und philanthropische Stiftungen im Kalten Krieg" an der Humboldt-Universität zu Berlin verfaßte Dissertation des Historikers Tim B. Müller, der dort von 2005 bis 2010 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Geschichte tätig war, bevor er im April 2010 an das Hamburger Institut für Sozialforschung ging, von dessen 1994 gegründetem Verlag, der Hamburger Edition, das vorliegende Buch herausgegeben wurde.

Am 26. Mai 2010 hielt Müller im Kunst-Raum des Deutschen Bundestages einen Vortrag zum Thema "Radikale, Krieger und Gelehrte. Die Geburt der Gegenkultur aus dem Geist des Geheimdienstes? Intellektuelle Genealogien im frühen Kalten Krieg". Die in Frageform gekleidete These, die Gegenkultur könnte geheimdienstlichen Ursprungs sein, führt zu der Gegenfrage, ob der Autor dazu beitragen möchte, die Entpolitisierung der Geschichtsschreibung voranzutreiben und all jene Menschen, die angesichts der Zuspitzung der sozialen Frage interessiert sein könnten, die System- und Gewaltfrage zu stellen, durch eine aufgrund ihrer geheimdienstlichen Kontamination diskreditierte bundesdeutsche wie auch US-amerikanische Linke zu immunisieren.

Werk und Autor können weder gelesen noch gewürdigt werden, ohne den keineswegs schleichend verlaufenden Prozeß dieser Entpolitisierung zu berücksichtigen, die nach dem vermeintlichen Sieg des kapitalistischen Westens im Kalten Krieg in Verbindung mit Bestrebungen der Europäischen Union, kommunistische Organisationen in ihren Mitgliedsländern auf der Basis der Totalitarismustheorie zu illegalisieren und das gegnerische Gedankengut vergessen zu machen. Müllers These einer geheimdienstlich generierten "Gegenkultur" paßt hervorragend in eine Zeit, in der allerorten Kapitalismuskritik geübt und die Gier der Banker zur Letztbegründung des vermeintlich krisenhaften Geschehens erklärt wird.

Eine Position, die imstande wäre, der Herrschaft des Menschen über den Menschen unumkehrbar die Substanz abzugraben, müßte erst noch geschaffen werden, was diejenigen, die sich aus solchen Gründen in der bisherigen Geschichte dem Marxismus bzw. Kommunismus zugewandt haben, keineswegs diskreditiert. Welchen Stellenwert, wenn überhaupt, Herbert Marcuse und andere Emigranten, die in den USA Aufnahme und ein ihren politischen Überzeugungen entsprechendes Betätigungsfeld in Geheimdiensten, Stiftungen und Universitäten gefunden haben, dabei einnehmen, ist eine offene Frage mit ebenso ungeklärter Relevanz. Die Auffassung der Hamburger Edition, die linksintellektuelle Gruppe um Marcuse, einem Vorbild der Studentenproteste von 1968, habe in diesem Buch eine fundamentale Neuinterpretation erfahren, da sie erstmals in den Kontext des frühen Kalten Krieges gestellt worden sei, wirkt leicht überzogen, wiewohl Müller das Verdienst zukommt, die Verbindungslinien zwischen Marcuses geheimdienstlicher Tätigkeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Fortsetzung dieser inhaltlichen Arbeit in der Rockefeller Stiftung sowie im universitären Bereich akribisch und quellensicher nachgezeichnet zu haben.

Doch ist dieses umfangreiche, lesenswerte und durchaus unterhaltsame Buch die Aufregung wert, die es unter Marcuse-Anhängern oder -Kritikern entfacht hat? Daß Marcuse diesseits wie jenseits des Atlantiks in den damaligen Studentenbewegungen zur Ikone aufstieg, mag als historisch unumstritten gelten, doch was sagt dies über die Protestbewegungen aus? Ist der Ruhm Marcuses womöglich Ausdruck wie Merkmal eines regressives Prozesses, dessen Anfangspunkt allerdings weder bei Marcuse, der Frankfurter Schule oder der Kritischen Theorie, sondern bei Marx selber anzusiedeln wäre, da dieser von seiner eigenen bahnbrechenden Erkenntnis, der Wert von Arbeit und Ware könne nicht bemessen werden, weil es an jeglicher Vergleichbarkeit fehle, wieder abrückte und mit dem Postulat gesellschaftlich angeblich notwendiger Arbeit schnell wieder in die Fahrwasser bürgerlicher Wissenschaft einmündete, die er zu verlassen sich scheute.

Dem vorliegenden Werk ist nicht der geringste Anhaltspunkt für die Annahme zu entnehmen, es hätte ein Anliegen des Autors sein können, den mit großer Eile für gescheitert erklärten Marxismus auf die Füße zu stellen oder besser noch über sich hinauszutreiben. Marcuse wie Müller treten als Apologeten einer großen Einigkeit, die einstige Klassengegensätze und -kämpfe mit Erfolg eingeebnet hat, in Erscheinung. So gilt der Kapitalismusbegriff heute bereits als Blaupause für alles mögliche und wird nicht mehr als unversöhnlicher Gegensatz zum Kommunismusbegriff, der die Menschheitsutopie eines herrschaftsfreien Lebens auf den Punkt bringt, gesehen. Müllers im Buchtitel verwendete "Denksysteme im Kalten Krieg" können insofern ad hoc hinterfragt werden. Angesichts der vielen Kriegstoten in Asien war dieser Krieg keineswegs "kalt", und verschiedene "Denksysteme" müssen ebensowenig vorgelegen haben, nur weil zwei Großmächte einen tödlichen und auch ideologischen Konkurrenzkampf unterhalb der Schwelle einer direkten militärischen Konfrontation geführt haben.

Herbert Marcuse, ein von Marx und Freud beeinflußter Philosoph, Soziologe und Politologe, der 1932 aus politischen Gründen emigrierte und 1934 in die USA ging, war zuvor Assistent des wegen seiner Begeisterung für den Nationalsozialismus in die Kritik geratenen Philosophen Martin Heidegger gewesen. In den USA trafen Marcuse und andere Gelehrte der nach New York übergesiedelten Frankfurter Schule schließlich mit linksliberalen US-Wissenschaftlern des "New Deal" zum gemeinsamen Wirken unter dem Dach des Kriegsgeheimdienstes zusammen. So als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, beschreibt Müller, wie diese Linksintellektuellen zu Beginn der 1940er Jahre im Office of Strategic Services (OSS) gearbeitet haben. Nicht minder selbstverständlich ging diese Arbeit der Darstellung Müllers zufolge in die Feindaufklärung des Kalten Krieges, sprich die Kommunismusforschung, über und fand ihren Höhepunkt in den Augen des Autors in einer Radikalisierung Marcuses, der, sensibilisiert durch seine Beschäftigung mit totalitären Systemen, solche Züge auch in der westlichen Moderne erkannt und zur Zeit der Vietnamkriegsproteste und Studentenbewegungen eine kritische Haltung auch gegenüber den USA eingenommen habe.

Der Autor erklärte zum Zweck der vorliegenden Buches, daß die Intellektuellengruppe um Marcuse "im Folgenden nicht als Grund aller Dinge gesehen", sondern genutzt werde, "um über ihre Geschichte die Koordinaten einer Ideen- und Intellektuellengeschichte des Kalten Krieges zu bestimmen", wobei der "Zusammenhang von Wissen, Politik und Philantropie" die "entscheidende Fragestellung dieser Arbeit" (S. 18) sei, worunter Müller den Einfluß der institutionellen und erkenntnistheoretischen Bedingungen des Kalten Krieges auf die Intellektuellen, ihr Leben und ihr Werk verstand. Zweifellos haben sich Marcuse und seine intellektuellen Mitstreiter um die "Gegnerforschung" im Dienste US-amerikanischer Dienste und wissenschaftlicher Einrichtungen verdient gemacht, was sie - so der Tenor des Buches - auch prädestiniert, wegen der zeitlosen Relevanz ihres Werkes posthum zu Rate gezogen zu werden.

Müller spricht von einer "Politisierung der Wissenschaft" oder auch einer "Verwissenschaftlichung der Politik", was nur unter der Prämisse einer interessenneutralen Wissenschaft der Erwähnung für wert befunden werden kann. Folglich heißt es in dem Buch, daß die "Mobilisierung von Wissen zu politischen und militärischen Zwecken im Zeitalter des Kalten Krieges ihren Höhepunkt" (S. 19) erreicht habe und daß "Marcuse und seine gelehrten-intellektuellen Kriegskameraden" an der Erzeugung eines Expertenwissens, das über die politische Nutzanwendung hinaus wissenschaftliche Folgen zeitigte, teil gehabt hätten. Der Autor, seit 2010 am Hamburger Institut für Sozialforschung, in dessen Verlag die vorliegende Dissertation veröffentlicht wurde, tätig, nimmt gegenüber den kriegerischen Intellektuellen der Frankfurter Schule um Herbert Marcuse keinen wie auch immer gearteten kritischen Standpunkt ein.

Sein Marcuse-Buch kommt einer Huldigung der 68er-Ikone gleich, die er gegen jede mögliche Kritik, wie sie wegen dessen geheimdienstlicher Tätigkeit und ihrer "zivilen" Fortsetzung hier und da bereits vor langer Zeit aufgeflammt ist, so beispielsweise im Sommer 1967 in Berlin, wo er in einem vollbesetzten Hörsaal als "Sklave der Unternehmer" bezeichnet und gefragt wurde, warum ihn die CIA bezahle, durch dieses Monumentalwerk in Schutz zu nehmen sucht. In Müllers Lesart sind die Linksintellektuellen in US-amerikanischen Diensten die geistigen Väter westlicher Entspannungspolitik, denen im Grunde großer Dank gebühre, da sie mit ihren Analysen und Empfehlungen die Welt vor einem Atomkrieg bewahrt hätten. Es sei dahingestellt, ob die folgende Textpassage das Berufsverständnis eines Historikers und Sozialforschers spiegelt, der seine eigenen gesellschaftlichen Ambitionen in der Person und möglichen historischen Bedeutung Marcuses angedeutet bzw. realisiert sehen könnte:

Im Geheimdienst und in den regierungsnahen Wissenschaften flossen Politik und Forschung, Krieg und Wissen zusammen. Die Geschichtsschreibung des Kalten Krieges kann schon darum ohne die Ideen- und Intellektuellengeschichte nicht auskommen. Die Politiker und strategischen Denker selbst fassten den Kalten Krieg als einen Krieg der Ideen auf, einen Kampf der Weltanschauungen, eine Konfrontation des Wissens. Sie mobilisierten wissenschaftliche Ressourcen und schufen gewaltige Wissensapparate, die ihnen die nötigen Kenntnisse liefern sollten, um den Gegner im Kalten Krieg in Schach zu halten oder zu besiegen. Ein aus amerikanischer Wahrnehmung rätselhafter Feind musste erforscht, entschlüsselt, gedeutet werden, um die Politik zum Handeln zu befähigen. Für kaum eine andere historische Epoche können die Ideengeschichte und die Wissenschaftsgeschichte so viel zum Verständnis zentraler politischer Probleme beitragen wie für die Geschichte des Kalten Krieges. Wissen wurde auf eine nie dagewesene Weise zur entscheidenden Ressource des politischen Überlebens. Unwissen konnte zum Atomkrieg führen.
(S. 22/23)

Dem gesamten Werk Müllers ist dieselbe pro-amerikanische Handschrift zu entnehmen, die der Autor auch bei Marcuse, dem primären Protagonisten seiner Arbeit, angetroffen haben dürfte. Im Jahre 2006 war Müller als Research Fellow am German Historical Institute in Washington tätig, was ihn zusätzlich animiert haben könnte, die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges aus US-zentrierter Sicht zu sehen. Der scheinbare Bruch mit dem US-Establishment, den Marcuse aus Protest gegen den Vietnamkrieg vollzogen haben will, steht dem keineswegs entgegen. Nach Müllers Darstellung habe Marcuse "nach einer Phase des Arrangements mit der liberalen Ordnung" in den 1960er Jahren begonnen, "in der amerikanischen Gesellschaft eine Nähe zu den totalitären Gesellschaften zu erkennen, die er als Deutschland- und Kommunismusanalytiker erforscht hatte" (S. 24).

An dieser wie an vielen anderen Stellen offenbart der Autor seine tiefe Verflochtenheit mit den Parametern westlicher Geschichtsschreibung. So ist aus den obigen Worten die von Müller für obsolet erklärte Totalitarismustheorie, die im Kern auf einer Gleichsetzung der beiden diktatorischen Systeme Nationalsozialismus und Sowjetsozialismus beruht und einem fortschrittlichen Historiker schlecht zu Gesicht steht, da ihr vorrangiger Zweck darin besteht, den Kommunismus als Ideologie und politische Weltanschauung zu diskreditieren, herauszulesen. Müller hat in seiner Arbeit das in der westlichen Welt vorherrschende Geschichtsbild vom Zweiten Weltkrieg und dem anschließenden Kalten Krieg adaptiert, weshalb die darin begründeten Argumentationslücken nicht ohne eine Infragestellung dieser historischen Axiomatik problematisiert werden können.

In den amerikanischen Streitkräften und den sie während des Zweiten Weltkrieges unterstützenden US-Geheimdiensten so etwas wie einen antifaschistischen Kampfverband zu sehen, korrespondiert mit der auch von Müller kolportierten Grundannahme, es sei das wichtigste Ziel der USA gewesen, Nazideutschland und diesen mörderischen Krieg so schnell wie möglich zu stoppen. Einem Historiker müßte die Problematik einer solchen Behauptung eigentlich bewußt sein. Fragen danach, wie zu erklären sei, daß die USA und Großbritannien im Januar 1943 den Vorschlag eines US-Luftwaffengenerals, durch die Bombardierung rüstungswirtschaftlicher Schlüsselziele im Deutschen Reich den Krieg binnen weniger Monate zu beenden, nicht aufgegriffen wurde, waren nicht Gegenstand dieser Arbeit. Ein seriöser Historiker hätte die Möglichkeit, daß die USA im Zweiten Weltkrieg militärisch "mit angezogener Handbremse" agiert haben könnten, um Nazideutschland aus einem antikommunistischen Eigeninteresse heraus in seinem auf die Sowjetunion abzielenden Zerstörungsdrang nicht zu stoppen, nicht gänzlich außer acht gelassen.

Tim B. Müller stellt die "antifaschistische" Grundeinstellung der USA nicht in Frage, was es ihm allerdings auch erschwert, plausibel darzustellen, warum Linksintellektuelle wie Herbert Marcuse nach ihrem antifaschistischen Kriegsdienst im OSS ihre Aufklärungs- und Analysearbeit nach 1945 zu antikommunistischen bzw. -sowjetischen Zwecken fortgesetzt haben. Nach seiner Zeit als Geheimdienst-Analyst war Marcuse auf der Basis des dabei entstandenen Beziehungsgeflechts in der Rockefeller-Stiftung tätig, wo er am Russischen Institut zum führenden Kopf in der Gegnerforschung des Kalten Krieges avancierte, bevor er 1954 an die Brandeis University und zehn Jahre später an die University of California ging und 1965 eine Gastprofessur an der FU Berlin annahm. Nicht einmal in der McCarthy-Ära war er von politischer Verfolgung ernsthaft betroffen, stand doch seine politische Loyalität gegenüber den USA bei seinen Vorgesetzten und Fürsprechern in Geheimdienst und Wissenschaft wie auch im Regierungsapparat so sehr außer Frage, daß er bei diesbezüglichen Nachfragen durch das FBI in Schutz genommen wurde. Marcuse selbst soll, als er mit seiner Geheimdienstvergangenheit konfrontiert wurde, gesagt haben (S. 31):

Ich bin noch 1950 von meinen sehr linken Freunden dringend gebeten worden, das State Departement nicht zu verlassen, weil meine Arbeit dort für die Sache äußerst wichtig sei.

Nun stellt "die Sache" in politischen Zusammenhängen so etwas wie eine Pauschalausrede und -zurechtweisung dar, um allzu hartnäckige Fragen mit der angedeuteten Bedeutsamkeit und Unhinterfragbarkeit des eigenen Tuns abzuwehren. Tim B. Müller vermittelt in seinem mit 736 Seiten recht umfangreichen Werk den Eindruck einer Lichtgestalt Marcuse, die zunächst womöglich finstere Nischen amerikanischer Geheimdienste eher zu erhellen vermochte, als von ihnen kontaminiert zu werden und die ihr Renommee schlußletztendlich zu wahren verstand, indem sie einen (vermeintlichen) Bruch mit dem in die Kritik geratenen US-System vollzog. Die von Müller skizzierte Intellektuellen- und Ideengeschichte des Kalten Krieges gipfelt in dem aktuell verkündeten "Ende der Ideologie", mit dem die eingangs bereits erwähnte Große Einigkeit ideologisch abgesichert werden soll. Dies wäre - und hier ist der Konjunktiv unverzichtbar - der vollendete Sieg der US-dominierten westlichen Interessengemeinschaft, die Begriffe wie Kommunismus, aber auch Kapitalismus in seiner ursprünglichen Bedeutung vergessen machen möchte.

Müller erweist sich als ein Apologet der neuen Großen Einigkeit, deren womöglich von Marcuse und seinen Gefährten eingeleiteten Geburtswehen eine weitaus längere Vorgeschichte aufweisen, als es das nun verkündete Ende der Ideologie vermuten lassen würde. Wie dem Buch zu entnehmen ist, hatte der frühere US-Präsident Harry S. Truman (1945-1953) im Juni 1948 den "totalen psychologischen Krieg" gegen die Sowjetunion beschlossen, was Maßnahmen der Propaganda, Sabotage, Subversion und Wirtschaftskriegführung sowie die Unterstützung antikommunistischer Kräfte "in den bedrohten Ländern der freien Welt" (S. 104) einschloß. Das amerikanische Programm für das Europa der Nachkriegsjahre sollte der dortigen "linken Aufbruchstimmung" (S. 95) Rechnung tragen und so suchte Washington insbesondere die sozialistischen Parteien des alten Kontinents an sich zu binden. Im März 1947 hatte Truman gegenüber dem US-Kongreß den "Kampf gegen die Ausbreitung des Kommunismus" zum wichtigsten Ziel amerikanischer Außenpolitik erklärt.

Müller erläutert - und hier liegen die Stärken des Buches -, wie nach den Empfehlungen der Gelehrtenkrieger psychologische Kriegführung betrieben wurde. Einem auf ihrer Expertise beruhenden "US-Programm für Europa" sei zu entnehmen, daß "Sozialisten" gestärkt werden sollten, um die "Kommunisten" zu schwächen, und so dienten Gewerkschaften und antifaschistische Volksfronten, Symbole und politische Ziele sozialistischer Art "in Europa objektiv der amerikanischen Sache" (S. 98). Der Sieg über die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten könne nur dann ein endgültiger werden, wenn "Menschen und Nationen davon überzeugt sind, dass wir den besseren Weg haben, die Welt zu organisieren" (S. 111). Die Offensive der USA gegen die Sowjetunion beruhte auf der geradezu "dialektischen" Empfehlung, die USA sollten keineswegs den Eindruck erwecken, sie würden den Kommunismus verachten oder schlecht finden. Vielmehr sollten die psychologischen Angriffe darauf abzielen, gegen das "sowjetische Regime seine eigenen ideologischen Grundlagen in Stellung" zu bringen (S. 117).

Zudem hatte die geheimdienstliche Kommunismusaufklärung unter Marcuse schon 1951 ein Entspannungsszenario entworfen mit von Moskau völlig unabhängigen kommunistischen Parteien, die einen reformistischen Sozialismus verfolgten, wofür sich Jahrzehnte später der Begriff "Eurokommunismus" einbürgerte (S. 151). Die Dialektik der Aufklärung - diesen Begriff prägte Marcuse für diese Form der Feindaufklärung - ging schließlich so weit, daß die amerikanische Kommunismusforschung, von Markuse später in der Rockefeller-Stiftung betrieben, darauf abzielte, der sowjetischen Forschung in Sachen Weltkommunismus den Rang abzulaufen, um die Sowjetunion in ihrem ureigensten Terrain zu diskreditieren. Das Marxismus-Leninismus-Projekt Marcuses in der Rockefeller Foundation zielte darauf ab, "Moskau das Deutungsmonopol über den Marxismus zu entreißen", während eine "sozialistische, antistalinistische Linke das Erbe von Marx für sich reklamieren und damit die ideologische Anziehungskraft Moskaus brechen" sollte (S. 458). Da die Sowjetunion ihrerseits längst eine Entwicklung eingeschlagen hatte, die den "dialektischen" Umtrieben US-amerikanischer Geheimdienstanalysten Anhalts- und Angriffspunkte in Hülle und Fülle lieferte, weil sie - wie Marx nicht minder - längst hinter die vielleicht einmal angestrebte Position zurückgewichen war, konnte die psychologische Kriegführung der USA hier zu Ergebnissen führen.

Müllers vermutlich an Marcuse angelehnte pro-US-amerikanische Haltung durchatmet das gesamte Werk. Mit "Soviet Marxism", seiner in seiner Zeit in der Rockefeller-Stiftung verfaßten Analyse der Sowjetunion, habe Marcuse die Erwartungen seiner Auftraggeber in Stiftungen und staatsnahen Forschungsstellen erfüllt und gleichzeitig "seinen linken Hoffnungen auf eine Reform des Sozialismus Ausdruck" verliehen (S. 672). Da schimmert die Absicht des Autors durch, seine Leserschaft glauben zu machen, der "linke" Marcuse sei als ideologischer Vorstreiter und den sozialistischen Idealen treu ergebener Genosse in US-amerikanischen Geheimdiensten, Stiftungen und Universitäten tätig gewesen. Müllers Ausführungen zur "Dialektik der Aufklärung", so wie Marcuse sie in der Gegnerforschung als Kernstück der antisowjetischen bzw. antikommunistischen psychologischen Kriegführung betrieben habe, können auf seine eigene Argumentation zurückgekoppelt werden. Wenn es das zentrale Anliegen dieser quasi wissenschaftlichen Kriegführung war, der Sowjetunion ihre ideologischen Waffen nicht nur aus der Hand zu schlagen, sondern sie gegen sie selbst zu richten, kann die Frage nicht ausbleiben, ob nicht auch das vorliegende Buch Bestandteil und Instrument einer solchen Auseinandersetzung sein könne.

Wie fest Müller in das geheimdienstgeprägte Denken und Arbeiten Marcuses eingetaucht sein mag, läßt sich an der an keiner Stelle des Buches in Frage gestellten Verwendung des Begriffs "Gegnerforschung" erahnen, die belegt, daß die Linksintellektuellen ihre in den höchsten Gefilden des US-Establishments angesiedelten Positionen niemals verlassen haben. Wäre es ihnen darum gegangen, die Fehl- und Rückentwicklungen der Sowjetunion in Sachen Sozialismus zu korrigieren, hätten sie ihr intellektuelles Potential nicht ausgerechnet in den Dienst jener Weltmacht gestellt, die als Hüterin der kapitalistischen und von ihr als "frei" definierten Welt nicht das geringste Interesse an der Verwirklichung der Menschheitsutopie Kommunismus aufbringen kann, sondern einzig bestrebt ist, alle diesbezüglichen Affinitäten interessierter Menschen in ihrem Sinne zu vereinnahmen und zu neutralisieren.

Müller zufolge habe Marcuse sich im Zuge des Vietnamkrieges vom US-Establishment losgesagt. Bei aller Kritik "an der eigenen politischen Ordnung" (S. 673) blieb die Sowjetunion in seinem Denken und Arbeiten "der Gegner". Daß Marcuse als gelehrter Vordenker antikommunistischer US-Operationen über den Vietnamkrieg erzürnt war, ist durchaus plausibel, zumal Washington damit eindeutig von seinem Empfehlungen und Analysen abgewichen ist. In der von Marcuse geleiteten geheimdienstlichen Kommunismusforschung (Committee on World Communism - CWC) war bereits in den 1950er Jahren von einer linken Kraft die Rede gewesen, "die in der Lage war, die Kommunisten an den Rand zu drängen" und deren Wähler davon zu überzeugen, daß sie bei ihrem aufrichtigen Kampf für ihre Wohlfahrt auch gewisse Erfolge erziele. Für Asien und damit auch Vietnam hatte Marcuses Komitee deshalb empfohlen, daß sich die USA "auf die Seite der Kräfte der Entkolonialisierung stellen und durch massive Entwicklungshilfe zur Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen beitragen" sollten (S. 153).

Marcuse hat weder das Ende der Sowjetunion noch die inzwischen nahezu vollständige Vereinnahmung der einst als "gegnerisch" bewerteten kommunistischen Inhalte, Positionen und Begriffe selbst erleben können. Wenn heute bis in höchste Regierungsämter hinein auf den Kapitalismus und die Gier der Banker geschimpft und die herrschende Raubordnung zugleich als alternativlos und bestenfalls reformierbar dargestellt wird, könnte dies auch als ein später Erfolg dieser Gelehrtenkrieger bewertet werden. Marcuse habe, wie Müller zum Amüsement seiner Leser schilderte, 1965 im Kreise der alten Weggefährten aus den Tagen der Geheimdienstarbeit erklärt, er wolle nun aufzeigen, wie "veraltet" der Marxismus und die marxistische Theorie der Revolution (S. 540) sei - was diese ihm schon seit Jahren immer wieder gesagt hätten...

Ihm Verrat vorzuwerfen, wie zu seiner Zeit als umjubelter Protestredner vor Berliner Studenten geschehen, daß er sich "zum Büttel des Kapitals" habe machen lassen und dieser Linie auch als politisches Idol der Studentenbewegung treu geblieben sei, hieße zu ignorieren, daß der zum "Gegner" dieser Gelehrtenkrieger erklärte Marxismus sich schon in seiner Ursprungsstunde durch Marx' Zurückweichen von der ersten revolutionären Feststellung, der Wert der Arbeit sei mit nichts zu vergleichen, selbst korrumpiert hat. Das vorliegende Werk könnte zur Aufklärung über die mutmaßlichen "Denksysteme im Kalten Krieg" beitragen, da es als ein exemplarisches Beispiel der geschilderten Techniken, den "Feind" mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, bewertet werden könnte. In einer Zeit, in der die ihrer Verwirklichung harrende Menschheitsutopie Kommunismus als Wissenschaft und Ideologie historisch entsorgt werden soll zugunsten einer alle Widersprüche nivellierenden Großen Einigkeit, kann die Lektüre dieses Buches nur wärmstens empfohlen werden.

30. November 2011


Tim B. Müller
Krieger und Gelehrte
Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
1. Auflage September 2010
736 Seiten
ISBN 978-3-86854-222-6