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REZENSION/506: Thimmel, Bruns, Eisenbürger, Weyde (Hg.) - Uruguay. Ein Land in Bewegung (SB)


Stefan Thimmel, Theo Bruns, Gert Eisenbürger, Britt Weyde (Hg.)


Uruguay

Ein Land in Bewegung



In Anwesenheit der Präsidenten der Mercosur-Staaten Brasilien, Argentinien und Paraguay, Luiz Inácio Lula da Silva, Cristina Fernández de Kirchner und Fernando Lugo, sowie der ALBA-Mitglieder Bolivien, Ecuador und Venezuela, Evo Morales, Rafael Correa und Hugo Chávez, aber auch des kolumbianischen Staatschefs Álvaro Uribe sowie der US-amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton wurde am 1. März 2010 in einer feierlichen Zeremonie ein Politiker in das höchste Staatsamt Uruguays eingeführt, dessen Name und Biographie mit der Geschichte der lateinamerikanischen Linken und insbesondere dem von den MLN-Tupamaros ("Movimiento de Liberación Nacional", Bewegung zur nationalen Befreiung) in den 1960er und 1970er Jahren in Uruguay entwickelten und praktizierten Stadtguerilla-Konzept aufs Engste verflochten ist. Die Rede ist von José "Pepe" Mujica, der als heute 75jähriger Politiker Präsident Uruguays geworden ist, nachdem er am 29. November 2009 als Kandidat der "Frente Amplio" (FA, zu dt. Breite Front), einem breitgestreuten Mitte-Links-Parteienbündnis, die Stichwahl um das Präsidentenamt gegen den neoliberalen ehemaligen Präsidenten Luís Alberto Lacalle (1990-1995) von der konservativen "Partido Nacional" (PN, Nationalpartei) klar für sich entschieden hatte.

Und obschon José Mujica bereits der zweite Präsident der Frente Amplio ist, der es bei den Präsidentschaftswahlen 2004 zum ersten Mal gelungen war, mit dem Wahlerfolg ihres Kandidaten Tabaré Vázquez die über einhundertjährige Vorherrschaft der zuvor im steten Wechsel regierenden Rechtsparteien PN und "Partido Colorado" (PC) zu brechen, werden mit ihm bzw. dem durch ihn repräsentierten linken Flügel der Frente Amplio mehr noch als zuvor Hoffnungen auf einen politischen Neuanfang oder doch zumindest einen verschärften innen- wie außenpolitischen Linkskurs verknüpft. Somit hätte es kaum einen günstigeren Zeitpunkt geben können für das Erscheinen des von einem deutsch-uruguayanischen Autorenkollektiv unter Mitwirkung der Informationsstelle Lateinamerika im Verlag Assoziation A im Februar 2010 herausgegebenen Buches "Uruguay. Ein Land in Bewegung".

Wer nicht wüßte, daß diesem Werk eine insgesamt zweijährige Arbeit zugrundeliegt und vorausging, könnte versucht sein anzunehmen, daß das Timing keineswegs zufällig erfolgt und der Wahlsieg Mujicas mit eingeplant worden sein könnte, um auch hierzulande den Zeitpunkt des größtmöglichen Interesses einer kritisch-solidarischen Öffentlichkeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, ohne ein ebenso informatives wie politisch engagiertes Werk zum heutigen Uruguay auf den Markt gebracht zu haben. Wie die HerausgeberInnen in ihrem im Januar 2010 verfaßten Vorwort kenntlich machten, bestand zwischen ihnen bzw. dem Verlag Assoziation A eine unmittelbare Verbindung zu der von ehemaligen Tupamaros, unter ihnen auch der inzwischen frisch gekürte Präsident Mujica, im Jahre 1989 gegründeten Partei "Movimiento de Participación Popular" (MPP, zu deutsch in etwa: Bewegung der politischen Beteiligung des Volkes) (S. 7):

Für viele Linke war Uruguay lange Zeit ein Synonym für die Tupamaros, die legendäre Stadtguerilla, die u.a. durch den Film Der unsichtbare Aufstand von Costa-Gavras Anfang der 1970er Jahre weltweit bekannt geworden war. Anders als die anderen Guerillas Südamerikas haben die Tupamaros die Zeit der Militärdiktatur politisch überlebt. Als 1985 mit der Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie die letzten politischen Gefangenen aus der Haft frei kamen und sich die MLN-Tupamaros als legale politische Bewegung neu konstituierte, war unser Interesse groß, etwas über ihre Geschichte jenseits des Mythos in Erfahrung zu bringen. Wir nahmen Kontakt auf und über die Jahre entspann sich ein regelmäßiger Austausch über den Atlantik hinweg, der sich in vielfältiger Weise im Programm des Verlags Assoziation A, in Lesereisen und persönlichen Freundschaften niedergeschlagen hat.

Diese Freundschaft(en) werden Pate gestanden haben bei der Idee wie auch der Verwirklichung des nun vorliegenden Buchprojektes, das dem erklärten Anspruch, eine "Landeskunde von unten" zu sein, vollauf gerecht wird. Es ist eine Textsammlung mit 50 Einzelbeiträgen, die von insgesamt 24 AutorInnen im Alter zwischen 20 und 92 Jahren verfaßt wurden und in ihrer Gesamtheit überaus geeignet sind, das Interesse an der politischen und sozialen Entwicklung, an Gegenwart und Geschichte, Alltagsleben und Kultur Uruguays zu wecken bzw. zu vertiefen. Die Texte sind keineswegs so chronologisch gegliedert, daß "Uruguay. Ein Land in Bewegung" im engeren Wortverständnis als Geschichtsbuch gelten könnte. Die Schwerpunktsetzung erfolgte vielmehr nach inhaltlichen Gesichtspunkten, die anhand der Kapitelüberschriften - "Von Artigas bis Tacurembó - Bilder eines Landes", "Geschichte und Geschichten", "Politik Aktuell: Die Linke an der Regierung", "Politische und soziale Bewegungen", "Ökonomie, Ökologie und Industriekultur" sowie "Kultur und Alltagsleben" - jedoch leicht zu ersehen sind und einen schnellen Zugriff ermöglichen. Die HerausgeberInnen brachten in ihrem Vorwort die von ihnen mit diesem Buch verfolgten Absichten folgendermaßen auf den Punkt (S. 7/8):

Wenn uns damals, vor 20 Jahren, jemand gesagt hätte, dass eben jener Pepe - ein ehemaliger Guerillero, viermal verhaftet, gefoltert und fast 15 Jahre der Freiheit beraubt - Ende 2009 zum Präsidenten Uruguays gewählt werden würde, wir hätten ihn wohl für verrückt erklärt. Bei aller kritischen Distanz zur Politik des Mitte-Links-Bündnisses Frente Amplio, das seit dem 1. März 2005 die Regierung des Landes stellt, bleibt festzuhalten, dass der 29. November 2009, der Tag der Wahl "Pepe" Mujicas, ein historischer Moment ist, der wohl nur im Lebensweg Nelson Mandelas eine Parallele findet. Welche Möglichkeiten dieser Wahlsieg erschließt, welche Veränderungen realisiert, welche Hoffnungen erfüllt oder vielleicht auch enttäuscht werden, werden die nächsten Jahre zeigen. In diesem Buch versuchen wir, eine Zwischenbilanz der ersten Linksregierung Uruguays zu ziehen.
(S. 7/8)

Wer an diesen Fragen interessiert und weitere zu entwickeln im Begriff steht, wird in diesem Buch Informationen, Anregungen und Stellungnahmen in Hinsicht auf weiterführende Diskussionen und fruchtbare politische Auseinandersetzungen finden. Die Vielfalt der Texte und die recht große Zahl der Autoren und Autorinnen haben es vermutlich mit sich gebracht, daß ein alle aufgeworfenen Fäden zusammenführendes Fazit, etwa in einem Schlußkapitel, nicht zu realisieren war. Das Ansinnen, eine Zwischenbilanz der ersten Regierungsperiode der als links geltenden Frente Amplio zu ziehen, bleibt somit weitestgehend den Lesern überlassen, denen dafür - und hier liegen die unbestreitbaren Pluspunkte des Buches - das Rüstzeug geliefert wird, womit keineswegs angedeutet werden soll, daß die HerausgeberInnen und AutorInnen in ihren Arbeiten standpunktlos geblieben wären. Interessierte Leser, die mit der aktuellen Entwicklung Uruguays sowie der Geschichte des südamerikanischen Staates, dessen Bevölkerung in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine der blutigsten Diktaturen im Lateinamerika jener Jahre durchzustehen hatte, nicht unbedingt vertraut sind, erhalten unverzichtbare Informationen, wie folgende, für die Qualität der Einzelbeiträge durchaus repräsentative Textpassage aus dem von Olga Burkert verfaßten Beitrag "Für Erinnerung und Wahrheit: Die Menschenrechtsbewegung in Uruguay" (S. 134) belegt:

Nach dem Putsch von 1973 hatte das zivil-militärische Regime begonnen, die Bevölkerung systematisch einzuschüchtern, zu kontrollieren und zu terrorisieren. Es schuf ein System der sozialen Kontrolle und ein allumfassendes Bedrohungsszenario, was sich bis in die Gegenwart hinein als ein Trauma auswirkt. Gefängnis und Folter waren die Hauptinstrumente der politischen Repression. Zwischen 1972 und 1984 wurden etwa 60.000 UruguayerInnen inhaftiert. Dies brachte Uruguay den traurigen Rekord ein, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl die höchste Zahl politischer Gefangener weltweit zu haben. Darüber hinaus kam es während der Diktatur zu einem Massenexodus.

Die uruguayische Diktatur wird oft als weniger blutig beschrieben als beispielsweise das argentinische Militärregime. Im Nachbarland wurden nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen zwischen 1976 und 1983 etwa 30.000 Personen entführt und ermordet. Darüber hinaus trieb die argentinische Militärjunta die perfide Praxis des Verschwindenlassens und der Anonymisierung der Opfer zur Perfektion. Aber auch den uruguayischen Militärs gelang es, Misstrauen und Angst zu säen. Dabei agierten sie nicht allein. Vielmehr gab es im Rahmen des sogenannten Plan Cóndor eine gut organisierte, grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Uruguay und den Juntas in Argentinien, Chile, Paraguay, Bolivien und Brasilien bei der Verfolgung von RegimegegnerInnen. Zahlreiche UruguayerInnen wurden im argentinischen Exil entführt.

Präsident Mujica brachte vor wenigen Monaten sein Bedauern darüber zum Ausdruck, daß es den Tupamaros nicht gelungen war, "die Diktatur mit Fußtritten zu beenden". Von seinen politischen Gegnern bzw. den rechten Widersachern der Frente Amplio werden noch heute Versuche unternommen, Mujica wegen seiner Vergangenheit als Mitbegründer der Tupamaros zu diskreditieren. Dabei dürfen die heutige MPP und die im September 1972 weitgehend zerschlagenen MLN-Tupamaros keineswegs gleichgesetzt werden. Zu diesem Zeitpunkt war die uruguayische Stadtguerilla, nachdem sie vier Jahre lang durch ihre weitgehend unblutig durchgeführten Operationen große Sympathien in der Bevölkerung erworben hatte, militärisch zerschlagen. Allein zwischen Januar 1968 und Juni 1970 waren ihr von der Polizei 51 Banküberfälle zugerechnet worden. Die Auseinandersetzung zwischen ihr und der Obrigkeit Uruguays, aber auch den US-Repräsentanten in der Region, spitzte sich im August 1970, nachdem die Regierung den Notstand verhängt hatte und die MLN-Spitze verhaftet worden war, abermals zu. Um gefangene Genossen freizubekommen, wurden mehr und mehr Entführungen hochgestellter Persönlichkeiten durchgeführt. Das Regime ging mit Todesschwadronen gegen Oppositionelle aus den sozialen Bewegungen vor.

Die Offensive der Tupamaros fand 1972 ein jähes Ende. Die meisten ihrer Mitglieder waren zu diesem Zeitpunkt tot, inhaftiert oder im Exil. Es folgten die "dunklen Jahre" der Diktatur (1973 bis 1985), in denen mit brutalster Gewalt gegen die "Subversion", wie es hieß, vorgegangen wurde. Am 27. Juni 1973 erfolgte der Staatsstreich durch das Militär, der demokratische Parlamentarismus wurde aufgehoben. Gleich in mehreren Texten des Buches werden Putsch und Diktatur in der gebotenen Ausführlichkeit beschrieben. Die gefangengesetzte Führung der Tupamaros, unter ihnen auch der heutige Präsident, erhielten den Status von "Geiseln des Staates", womit gewerkschaftliche Streiks, Demonstrationen und Proteste gegen das Regime unterbunden werden sollten. Als "Feinde des Vaterlandes" wurden selbst Politiker der traditionellen Parteien verfolgt, wenn sie nach Ansicht der Machthaber durch ihre liberalen Ansichten nicht entschieden genug der "kommunistischen Gefahr" entgegengetreten waren.

Daß José Mujica heute als der populärste Politiker Uruguays gilt, wird er neben seiner unbestreitbaren Volksnähe dieser Vergangenheit zu verdanken haben, genießen doch die früheren "Geiseln des Staates" in großen Teilen der Bevölkerung ungebrochen ein hohes Ansehen, gerade weil sie sich einem übermächtig erscheinenden Staats- und Militärapparat entgegengestellt haben. Zu den Verdiensten des vorliegenden Buches gehört es in diesem Zusammenhang, mit der durchaus weitverbreiteten Fehlinformation aufgeräumt zu haben, derzufolge die früheren Tuparamos durch ihren Kampf Staatsstreich und Diktatur heraufbeschworen und deshalb zu verantworten hätten.

Wie Britt Weyde in ihrem Beitrag "Das Ende des 'glücklichen Uruguay': Nachkriegszeit und Militärdiktatur" (S. 58ff) darlegte, hatte sich 1968 in Reaktion auf die zunehmende staatliche Repression gegen links ein überparteiliches Parteienbündnis gebildet, aus dem 1971 die Frente Amplio hervorgehen sollte. Aufgrund der Wirtschaftskrise der 1960er Jahre hatten sich auch Gewerkschaftsaktivitäten und Arbeitskämpfe verschärft. Der Staat machte zunehmend mobil, die Verhängung des Ausnahmezustands wurde zum Normalzustand. Im Mai 1968 kam es dennoch zu Massenprotesten, nachdem am 6. Juni die Polizei das Feuer auf unbewaffnete junge Demonstranten eröffnet und fünf Menschen schwer verletzt hatte, die gegen Fahrpreiserhöhungen protestiert hatten. Am 14. August 1968 starb ein Student an den Schußverletzungen, die ihm die Polizei bei einer Demonstration zugefügt hatte.

Der Staatsstreich vom 27. Juni 1973, der zehn Wochen vor dem weltweit weitaus bekannter gewordenen Putsch General Pinochets gegen die gewählte sozialistische Allende-Regierung Chiles durchgeführt worden war, sowie die anschließende, jahrelange Diktatur hatten schon seit geraumer Zeit wie ein Damoklesschwert über Uruguay gehangen. Der Putsch war durchgeführt worden, nachdem im Jahr zuvor mit der Zerschlagung der MLN-Tupamaros der letzte Widerstand gegen die permanenten Über- und Angriffe der Staatsgewalt zum Erliegen gebracht worden war.

Die Freilassung der letzten inhaftierten Guerilleros, die wie José Mujica viele, viele Jahre unter den Bedingungen der Isolationsfolter, zum Teil in Erdlöchern des Militärs, verbringen mußten, erfolgte im Jahr 1985 im Zuge eines gleitenden Übergangs von der Diktatur zurück zum Parlamentarismus und mußte mit einer Zusicherung der Straffreiheit für die Militärs erkauft werden, die bis heute aufrechterhalten wurde und nach wie vor heftig umstritten ist. Mujica selbst sagt von dieser Zeit nur, in ihr habe er "gelernt, dass die Ameisen singen" (S. 111) und erklärt im übrigen, ihm sei an der Inhaftierung alternder Militärs nicht gelegen. Das sehen viele Betroffene, Diktaturopfer und ihre Hinterbliebenen, anders und erwarten gerade von ihm und seiner nun begonnenen Präsidentschaft, daß Schluß gemacht wird mit diesem als vollkommen inakzeptabel bewerteten Zustand. Zeitgleich mit der Präsidentschaftswahl im Oktober 2009, aus der Mujica einen Monat später in der Stichwahl als Sieger hervorgehen sollte, war im vergangenen Jahr allerdings ein Referendum, das die Strafverfolgung der Diktaturverbrechen generell ermöglicht hätte, mit 48 Prozent knapp gescheitert.

Daß José Mujica, als sich auch für ihn am 15. März 1985 die Gefängnistore öffneten und viele tausend Menschen in Montevideo seine Freilassung feierten, nicht mehr ganz derselbe war, als der er 13 lange Folterjahre zuvor inhaftiert worden war, versteht sich von selbst. Nur wenige Tage später erklärte er seinen Anhängern, daß der Kampf um eine gerechtere Gesellschaft Uruguays weitergehen werde, nur nicht mehr mit bewaffneten Mitteln. Folgerichtig betätigte sich der jetzige Präsident als Abgeordneter und trat der ersten Frente-Amplio-Regierung von März 2005 bis März 2008 als Landwirtschaftsminister bei, nicht ohne sich Kritik von links einzuhandeln wegen des Verkaufs großer Ländereien an multinationale Konzerne zulasten verdrängter Kleinbauern und Viehzüchter. Mujicas Bereitschaft, "Kröten zu schlucken", wie er selbst die von ihm eingegangenen und mitgetragenen Kompromisse nennt, umfaßt demnach mehr als die Abkehr von dem mit den Mitteln einer Stadtguerilla geführten Kampf der früheren, von ihm mitbegründeten MLN-Tupamaros. In dem Buch "Uruguay. Ein Land in Bewegung" wird diese Entwicklung in dem von Theo Bruns und Angela Habersetzer verfaßten Beitrag über "Eine kleine Geschichte der Tupamaros. Das Leben der Yessie Macchi" folgendermaßen dargestellt und bewertet (S. 131):

Es ist ein kleines Wunder: Als einzige Guerillaorganisation des Cono Sur haben die Tupamaros die Nacht der Militärdiktaturen politisch überlebt und konstituieren sich als legale politische Bewegung neu. Wie so häufig in ihrer Geschichte ist aus einer militärischen Niederlage ein politischer Sieg geworden. Aufgrund ihrer Haltung in der Vergangenheit genießen sie in der Bevölkerung großen Respekt. 1989 gründeten sie die MPP (Movimiento de Participación Popular), mit der sie sich im Rahmen der Frente Amplio an den Wahlen beteiligen.

Die "militärische Niederlage" in einen politischen Sieg umzudefinieren, so als wäre eine linke Stadtguerilla mit einer parlamentarisch orientierten Partei ungeachtet der persönlichen Biographien der beteiligten Aktivisten tatsächlich vergleichbar, ist ein Standpunkt, den nicht unbedingt alle früheren MLN-Tupamaros teilen. So ist dem oben genannten Beitrag zu entnehmen, daß namentlich Yessie Macchi die historische Legitimität des bewaffneten Kampfes "stets verteidigt und sich von seiner Umdeutung zu einer Art 'bewaffneten Patriotismus' zur Verteidigung der Demokratie, wie sie von einigen führenden Ex-Guerilleros vorgenommen wurde, kritisch abgegrenzt" (S. 131/132) habe. Folgerichtig war mit ihr, der einst meistgesuchtesten Frau Uruguays, "kein Staat zu machen". Sie hat sich, nachdem auch sie am 14. März 1985 mit den letzten politischen Gefangenen nach insgesamt 15 Haftjahren entlassen worden war, bis zu ihrem Tod im Februar 2009 in politischen und sozialen Organisationen engagiert.

Der frühere Anarchist und Marxist José Mujica hatte einen anderen Weg eingeschlagen und bei den Wahlen von 2004, bei denen die von ihm angeführte Liste in ganz Uruguay die meisten Stimmen erhielt, die von ihm mitvollzogene politische Wandlung mit den Worten "Der wichtigste Punkt muss für die Linke heute sein, den Menschen zu essen zu geben, die Bildung zu verbessern, obwohl man damit nicht das System verändert" (S. 113) zu definieren gesucht. Dieser Linie ist Mujica treu geblieben, und so wird er sich in seiner Amtszeit nicht nur daran messen lassen müssen, ob die strafrechtliche Verfolgung der Diktaturverbrechen entgegen des so heftig umstrittenen Amnestiegesetzes durchgesetzt werden kann oder nicht, sondern vor allem auch daran, ob in der Bekämpfung der Armut erkennbare Fortschritte erzielt werden.

Den Befürchtungen seiner in den Reihen der konservativen Parteien der Colorados und Blancos zu verortenden Gegner, denen zufolge er die Axt an die schon von der ersten Frente-Amplio-Regierung unter Präsident Tabaré Vázquez fortgesetzte neoliberale Wirtschaftspolitik anlegen könnte, trat er mit der Zusicherung ihrer Fortführung entgegen. Mit der Benennung des rechten Sozialdemokraten Danilo Astori, der diese Politik als Wirtschafts- und Finanzminister schon unter Vázquez gegen erhebliche Widerstände seitens der Basis der Frente Amplio durchgesetzt hatte, ins Amt des Vizepräsidenten hat Präsident Mujica klargestellt, wie ernst es ihm mit diesem Versprechen ist.

Manche Leser des vom Verlag Assoziation A herausgegebenen Uruguay-Buches würden sich womöglich eine stärkere inhaltliche Analyse und Bewertung der angesprochenen Themen seitens der AutorInnen wie auch des Herausgeberkreises gewünscht haben, blieben doch viele Fragen offen oder gar ungestellt. So wird beispielsweise das Doppelversprechen Mujicas, die Armut im Lande verstärkt zu bekämpfen und zugleich vermehrte Investitionsanreize für ausländische Unternehmen schaffen zu wollen, an keiner Stelle klar kritisiert als eine Rundumerneuerung unerfüllbarer Reformversprechen. Allem Anschein nach neigen AutorInnen und HerausgeberInnen mehrheitlich dazu, Mujica auch in diesem Punkt die Treue zu halten, obwohl eigentlich absehbar und vorhersagbar ist, daß es in seiner Regierungszeit zu sozialen Spannungen kommen könnte, die durch das hohe Ansehen, das gerade er in der Bevölkerung genießt, nicht dauerhaft kompensiert werden können. Da Investitionsanreize für multinationale Konzerne nur durch die Inkaufnahme geringerer Löhne und generell schlechter Arbeitsbedingungen erkauft werden können - sonst wären sie keine -, kann von einem Linksruck in Uruguay im Zusammenhang mit dem Beginn der zweiten Regierungszeit der Frente Amplio ebensowenig gesprochen werden wie von einer substantiellen Vertiefung der Linksentwicklung des gesamten Kontinents.

Das politische Manko des Buches, wenn man denn so will, könnte in der Überbetonung der von der ersten FA-Regierung erzielten Erfolge liegen, die mit einer schon vom Umfang her eher gering ausgefallenen Darstellung und Benennung der noch ungelösten Probleme und sozialen Fragen eine unglückselige Liaison eingegangen zu sein scheint. Auf der Haben-Seite werden Erfolge aufgelistet, die sich wie eine Erfolgsstory à la IWF lesen, so beispielsweise in dem von Stefan Thimmel verfaßten Beitrag "Von Vázquez zu Mujica: Bilanz und Perspektiven" (S. 99):

Die Bilanz der Regierungszeit von Tabare Vázquez ist eine Erfolgsstory, die vor allem international gewürdigt wird. Schon Ende 2008 bezeichnete die spanische Tageszeitung El País Uruguay als "eine Oase in der Wüste, die dem internationalen ökonomischen Sturm widersteht". Die Arbeits- und Sozialpolitik rückte ins Zentrum der neuen Administration und die ökonomischen Daten sprechen für sich: Das Bruttoinlandsprodukt stieg zwischen 2005 und 2008 zwischen sieben und zehn Prozent und das Wachstum im Krisenjahr betrug trotz mehrerer schwerer Dürreperioden und des internationalen Preisanstiegs zum Beispiel für Rohöl neun Prozent.

Die uruguayische Auslandsschuld bei den internatioanlen Finanzinstitutionen wurde abgelöst. Die Arbeitslosigkeit sank von 20 Prozent im Jahre 2002 auf sieben Prozent in 2009. Der Reallohn stieg um 25 Prozent, für das unterste Drittel der Gesellschaft sogar um 35 Prozent, der Mindestlohn verdoppelte sich in vier Jahren auf 4.400 Pesos (ca. 150 Euro). 2004 lebten 32 Prozent der UruguayerInnen in Armut, vier Prozent davon in absoluter Armut.

Der Autor bringt den an die erste Frente-Amplio-Regierung bereits gerichteten Kernvorwurf zwar auf den Punkt, enthält sich jedoch einer eigenen Bewertung der von ihm aufgezeigten Problematik, die an Aktualität und Brisanz seit dem Amtsantritt Mujicas nichts eingebüßt haben dürfte (S. 103):

Das Hauptversagen der Regierung wird jedoch darin gesehen, die Eigentumsverhältnisse nicht entscheidend verändert zu haben. Mehr noch, die KritikerInnen werfen der Regierung vor, Macht- und Reichtsumskonzentration sogar gefördert zu haben. Offizielle Statistiken belegen das. Trotz aller offensichtlichen Erfolge ist die Ungleichheit in Uruguay, das traditionell eine extrem breite Mittelschicht mit nur sehr geringen Rändern oben und unten aufwies, gestiegen.

Daß die Bekämpfung des Hungers für die Ärmsten der Gesellschaft Uruguays ein nach über fünf Jahren Regierungszeit der Frente Amplio noch immer ungelöstes Problem ist, erfahren die Leser des insgesamt thematisch umfangreichen und informativen Buches dann doch eher im nebenherein. Im allerletzten, den landesüblichen Besonderheiten der uruguayischen Küche gewidmeten Textbeitrag ("Carne und Caruso. Einblicke in die Küche Uruguays", von Albrecht Girle) findet sich auf der vorletzten Seite folgende Passage (S. 263):

In den Cantegriles, den Elendsbezirken an den Rändern der Stadt, ist die Versorgungslage für viele Familien indessen immer noch prekär. Allerdings ist die Situation nicht mehr so verzweifelt wie im Krisenjahr 2002, als beinahe jeder Dritte im Land an oder unterhalb der Armutsgrenze lebte. Heute werden die Preise vieler Grundnahrungsmittel, insgesamt 144 Artikel des täglichen Bedarfs, staatlich garantiert - und trotzdem ist der Hunger nicht besiegt.

José Mujuca trat sein Amt mit dem Versprechen an, die extreme Armut in Uruguay zu beseitigen. Jedoch verspricht er allen alles, will den allgemeinen Wohlstand mehren und Investitionen ins Land holen. Den uruguayischen Politikwissenschaftler Juan Andrés Moraes veranlaßte dies zu der Einschätzung, daß der frühere Tupamaro und heutige Präsident eher eine Regierung wie die des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva, den "Pepe" ohnehin als sein Vorbild bezeichnet hat, führen wird und nicht dem bolivianischen Präsidenten Evo Morales oder dem in der westlichen Welt am allerschlechtesten gelittenen lateinamerikanischen Staatschef, dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, nacheifern wird. Hier sähe, so Moraes, Mujica selbst "klar die Unterschiede". Derlei Unterschiede festzustellen und zu betonen, leistet einer Unterscheidung in "gute" und "schlechte" linke Präsidenten Vorschub, wodurch ein kontraproduktiver Keil in die sich länderübergreifend konstituierende Linksentwicklung Lateinamerikas getrieben werden würde.

Der Versuchung, sich an diesbezüglichen Sortierarbeiten zu beteiligen, konnten die Autoren- bzw. Herausgeberschaft des im großen und ganzen empfehlenwerten Buches "Uruguay - Ein Land in Bewegung", nicht ganz widerstehen. In einem von Stefan Thimmel, der mit insgesamt zehn Beiträgen maßgeblich am gesamten Buchprojekt beteiligt war, verfaßten Text ("José "Pepe" Mujica: Vom Stadtguerillero zum Präsidenten") wird eine Verbindung gezogen von José Mujica zu den übrigen Linkspräsidenten des Kontinents, ohne den Venezolaner Chávez auch nur mit einer Silbe zu erwähnen (S. 112/113):

Mujica, der von März 2005 bis März 2008 als Minister für Landwirtschaft in der ersten Mitte-Links-Regierung des Landes amtierte, reiht sich mit seinem Sieg in die Riege der linken lateinamerikanischen Präsidenten ein, die auch mit ihrer Persönlichkeit und ihrer Biografie für einen Neuanfang stehen. Ein ehemaliger Metallarbeiter in Brasilien, ein Aymara-Indianer in Bolivien, eine geschiedene, atheistische (im Exil u.a. in der DDR politisierte) Kinderärztin in Chile, ein Befreiungstheologe und laisierter Bischof in Paraguay, ein keynesianischer Ökonom in Ecuador: Das politische, soziale und professionelle Profil der Frauen und Männer an der Spitze der Staaten auf dem Subkontinent ist ebenso neu und differenziert wie das politische Spektrum der Parteien und Bewegungen in Lateinamerika.

Ein Versehen kann hier wohl ausgeschlossen werden. Da schon die erste Frente-Amplio-Regierung recht intensive Beziehungen zu Venezuela und in der Außenpolitik eine Politik der "Re-Integration nach Lateinamerika" aufgenommen hatte (Thimmel, S. 101) und auch der neue Präsident bereits lange Gespräche mit Hugo Chávez führte, können Spaltungstendenzen, ganz gleich, von welcher Seite sie zum Ausdruck gebracht werden, angesichts des im Ergebnis noch offenen Streites um eine vollständige Loslösung des gesamten Kontinents von den Fesseln postkolonialer Vorherrschaft wie auch der Frage nach der zukünftigen politischen und sozialen Gestaltung Uruguays nur hinderlich sein. Das gänzliche Fehlen eines Schlußkapitels, in dem die vielfältigen und aufs Interessanteste ausgeführten historischen, gegenwartspolitischen und auch kulturellen Aspekte zu einer grundsätzlichen Einschätzung der politischen Lage in dem "Land in Bewegung" zusammengeführt worden wären, macht sich an dieser Stelle schmerzlich bemerkbar. Dies mindert jedoch nicht den hohen Gebrauchswert des Buches, zumal es interessierten Lesern unbenommen bleibt, während der Lektüre angelegentlich die Frage mitzuverfolgen, ob und inwiefern die persönlichen politischen Ansichten und Einschätzungen der jeweiligen AutorInnen in die Darstellung und Bewertung des von ihnen bearbeiteten Themengebiets miteingeflossen sein mögen.

4. April 2010


Stefan Thimmel, Theo Bruns, Gert Eisenbürger, Britt Weyde (Hg.)
Mitherausgegeben von der Informationsstelle Lateinamerika, Bonn
Uruguay
Ein Land in Bewegung
Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg, Februar 2010
269 Seiten
ISBN 978-3-935936-74-3