Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/502: Nebi Kesen - Die Kurdenfrage im Kontext des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union (SB)


Nebi Kesen


Die Kurdenfrage im Kontext des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union



"Die Kurdenfrage im Kontext des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union" - schon der Titel der 2009 in der Reihe Universitätsschriften von der Nomos Verlagsgesellschaft herausgegebenen Dissertation des Politikwissenschaftlers und internationalen Steuerberaters Dr. Nebi Kesen wirft mehr Fragen auf, als er zu beantworten verspricht. Der Begriff "Kurdenfrage" stellt fraglos auf den politischen Konsens ab, mit dem seitens der Europäischen Union und damit auch der Bundesrepublik Deutschland, aber auch des die West-Integration des NATO-Partners Türkei befürwortenden Teils der türkischen Staatsführung, die Situation der seit der Republikgründung in ihrer Existenz negierten und über viele Jahrzehnte hinweg gewaltsamster Assimilierungs- und Vertreibungspolitik unterworfenen Kurden zu einer "Frage" erklärt wird. Eine parteiliche Stellungnahme für die Belange der in der Türkei lebenden Kurden beinhaltet diese Wortwahl nicht, suggeriert doch der Begriff "Kurdenfrage", es könne sich bei der systematischen und in der langen Geschichte des Nachfolgestaates des Osmanischen Reiches bis an den Rand des faktischen und kulturellen Völkermords getriebenen Unterdrückung der Kurden um einen Nationalitätskonflikt zwischen den größten in der Türkei lebenden Volksgruppen - Türken und Kurden - handeln.

Der im Titel dieser im Frühjahrssemester 2009 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich angenommenen Dissertation stellt die sogenannte "Kurdenfrage" in den "Kontext des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union", womit der Verfasser zwar seinen eigenen, in mehr oder minder großer Nähe zu den vorherrschenden Positionen der EU zu verortenden Standpunkt darlegt, jedoch unberücksichtigt läßt, daß der von ihm zur Beinah-Tatsache erhobene EU-Beitritt der Türkei alles andere als ein Faktum ist. Bei kritischer Würdigung auch der aktuellen Entwicklung läßt sich die ewige EU-Aufnahmeperspektive der Türkei auch gänzlich anders, nämlich als Köder und zugleich seiner innersten Zweckbestimmung nach unerfüllt bleibendes Beitrittsversprechen bewerten, das seitens der EU gegenüber Ankara immer wieder erneuert und aufmunitioniert wird, um die wirtschaftlich, politisch und vor allem auch militärisch für die Weltmachtsambitionen der Kern-EU-Staaten alles andere als unerhebliche Türkei gegenüber den Brüsseler Interessen gefügig zu halten.

Nebi Kesen, der selbst erklärt, daß das in diesem Buch behandelte Thema mit seinem persönlichen Lebenslauf verbunden ist und daß die Kurdenfrage ihn seit seiner Schulzeit vor mehr als 30 Jahren prägt (S. 7), erhebt den Anspruch, "die Kurdenfrage mit allen damit verbundenen innen- und außen- sowie sicherheitspolitischen Aspekten und deren Lösung im Kontext des EU-Beitrittsprozesses der Türkei" (S. 26) wissenschaftlich zu untersuchen. Tatsächlich bezieht der Verfasser eindeutig für einen dritten Akteur in dem vermeintlichen Nationalitätskonflikt zwischen der Türkei und den Kurden Stellung, nämlich die EU. Durch Kesens gesamtes Werk zieht sich einem roten Faden gleich die Darstellung einer Europäischen Union, die, über jeden Zweifel an der Lauterkeit ihrer Absichten und Motive weit erhaben, wie ein väterlicher Freund einerseits den Demokratisierungs- und damit auch den Beitrittsprozeß der Türkei unterstützen würde und andererseits, nicht minder wohlwollend, die Interessen der kurdischen Bevölkerung wahrzunehmen vorgibt.

Die Absichtserklärung, "alle" mit der vermeintlichen Kurdenfrage verbundenen innen-, außen- und sicherheitspolitischen Aspekte wissenschaftlich untersucht zu haben, kann schon an dieser Stelle als nicht eingelöst bewertet werden, da der tiefgreifende Konflikt zwischen den in der Türkei lebenden Kurden und dem ihre nationale Identität negierenden türkischen Staat ohne eine bewertende Berücksichtigung und Analyse der Einflußnahmen und Interessen führender europäischer Staaten sowie der USA nicht einmal in seinem historischen Entstehungszusammenhang erklärt, geschweige denn in seiner tagesaktuellen Dimension konstruktiv offengelegt werden kann. Kesen erklärt, daß sich das "Erkenntnisinteresse der Untersuchung" auf die Hauptfrage richte, "ob und inwieweit der EU-Beitrittsprozess der Türkei zur Lösung der Kurdenfrage beitragen wird und welche Wechselbeziehung zwischen beiden festzustellen ist" (S. 27), stellt jedoch zunächst eine andere Hauptfrage, nämlich die, "warum die Türkei ihr Integrationsziel 'Beitritt' in 45 Jahren nicht erreicht hat" (S. 28), in den Vordergrund.

Der Türkei Demokratiedefizite und Menschenrechtsverletzungen nachzuweisen, ist aus Sicht mit der entsprechenden Menschenrechtsrhetorik bewaffneter Gutachter eine der leichtesten Übungen, und so erübrigt sich - vermeintlich - die Beantwortung der ohnehin eher rhetorischen Frage nach den Gründen für die seit nun schon 45 Jahren unerfüllt gebliebenen Beitrittswünsche der Türkei. Wie auch könnte die Europäische Union, die sich als Sachwalterin des alten Europas und damit der ideengeschichtlichen Geburtsstätte jeglicher humanitärer Werte geriert, einen Staat wie die Türkei, der so offensichtlich eine Fassade des demokratischen Parlamentarismus' und der Rechtsstaatlichkeit aufgebaut hat und aufrechterhält, obwohl es sich um einen, wenn auch eher versteckt agierenden Militärapparat handelt, in ihren heiligen Reihen aufnehmen?

Zu den Verdiensten der vorliegenden Dissertation gehört es, über diese im politischen Tagesgeschäft wohlweislich ausgeklammerten Sachverhalte umfassend aufgeklärt zu haben. So führt der Verfasser unter dem Stichwort "Wirkungsmechanismen des politischen Einflusses des Militärs" in einem Unterkapitel zur politischen Rolle des Militärs aus:

Ein weiteres Demokratie-Problem der Türkei besteht darin, dass Teile der Militärführung in eine illegale Organisationsform (tiefer Staat) verwickelt sind, deren Identität und Tätigkeiten nicht konkret festgestellt und bewiesen werden können. Jedoch wird die Existenz einer solchen Struktur, die zusätzlichen Druck auf die zivilen politischen Akteure im Staat, vor allem auf die Regierung, ausübt, nach dem Motto "Staat im Staat" kaum bestritten. Insofern schwebt ein erneuter Putsch wie ein Damokles-Schwert über jeder Regierung, die einen Konfrontationskurs gegenüber dem Militärapparat und dem "tiefen Staat" einschlägt. Die demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien werden vom "tiefen Staat" nur dann geduldet, wenn keine Gefahr für die Existenz des Staates vermutet wird. Die Militärputsche wurden bisher vom "tiefen Staat" organisiert und durch die Machtübernahme der Militärs "legalisiert", das gem. Art. 35 des "Gesetzes über den Internen Dienst der türkischen Streitkräfte" dazu ermächtigt ist. Art. 85 der Verordnung dieses Gesetzes schreibt sogar bei Vorliegen von inneren und äußeren Bedrohungen das Eingreifen des Militärs unter Einsatz von Gewalt vor. Was unter "Bedrohungen" zu verstehen ist, liegt ausschließlich in der Entscheidungsbefugnis der Militärführung.
(S. 121/122)

Die Schwäche in Kesens Darlegung liegt vielmehr darin, aus Feststellungen dieser und ähnlicher Art nicht die in Hinsicht auf die angeblich befürwortete Demokratisierung der Türkei gebotenen Schlußfolgerungen zu ziehen. Ein Staatsapparat, in dem, wie Kesen selbst schreibt, der Militärapparat als ein "Staat im Staat" agiert und agieren kann, ohne von irgendeiner demokratisch legitimierten Institution daran gehindert werden zu können, hat nicht nur "Demokratiedefizite", die durch gutes Zureden, verlockende Angebote oder auch Drohungen behoben werden könnten. Ein solcher Staat ist ein einziges Demokratiedefizit, was sich keineswegs nur an der buchstäblich hoffnungslosen Situation der rund 20 Millionen Kurden ablesen läßt in Hinsicht auf ihr Anliegen, in einer solchen, von einer kemalistischen Staatsideologie durchdrungenen faktischen Militärdemokratur eine politische Autonomie und kulturelle Eigenständigkeit zu erringen.

Keineswegs werden in der Türkei nur die Kurden unterdrückt, wobei das Wort "nur" an dieser Stelle nicht wertend, sondern im Sinne von "ausschließlich" zu verstehen ist, sondern auch alle fortschrittlichen Kräfte, die die einzige Republik mit einer überwiegend islamischen Bevölkerung, die engste Verbindungen zu den westlichen Frontstaaten USA und Israel unterhält, zu einer sozialen oder gar sozialistischen Demokratie wandeln möchten. Nebi Kesen listet in seiner historischen Darstellung zwar akribisch alle Militärputsche (1960, 1971 und 1980) und Putschdrohungen der eigentlich herrschenden Militärs auf, stellt jedoch an keiner Stelle die naheliegende Frage, wie das türkische Militär dies über einen so langen Zeitraum hinweg bewerkstelligt haben sollte, wäre dies tatsächlich gegen den erklärten Willen aller übrigen NATO-Staaten bzw. möglichen EU-Partnern geschehen.

Der dankenswert ausführlichen Offenlegung der unter den Begriff "tiefer Staat" subsumierten tatsächlichen Verfassung der türkischen Republik haftet durch konsequente Auslassung nicht minder kritischer Fragen nach der tatsächlichen Mit-, um nicht zu sagen Hauptverantwortung westlicher Staaten an dem zutiefst undemokratischen Zustand dieses aus Sicht der NATO in geostrategisch höchst wertvoller Lage befindlichen westlichen Vorpostens für den gesamten Nahen und Mittleren Osten ein erheblicher Makel an, womit an dieser Stelle keineswegs die Plausibilität der Ausführungen Kesens über die Militärmacht im türkischen Staat in Abrede gestellt werden soll. In dieser Hinsicht ist sein Buch überaus zu empfehlen, zumal er auch die aktuelle Entwicklung sowie die Hintergründe der Strafprozesse um die "Ergenekon"-Gruppe keineswegs ausspart.

Hinter diesem Decknamen verbirgt sich eine illegale Struktur, bestehend aus Militärs, aber auch Spitzenfunktionären aus Bürokratie und Wirtschaft, Hochschulen, politischen Parteien und sogar Gewerkschaften, die vordergründig den zum ehernen Staatsprinzip erhobenen Laizismus zu schützen vorgeben, tatsächlich jedoch jede ihnen nicht genehme politische und gesellschaftliche Entwicklung der Türkei unter Anwendung aller nur denkbaren undemokratischen und gewaltsamen Mittel zu unterbinden trachten. Die AKP-Regierung des amtierenden Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan befand sich im Frühjahr 2007 in der Gefahr, durch einen Militärputsch gestürzt zu werden. Daß es dazu nicht kam, dürfte nach Kesens Analyse, derzufolge der "tiefe Staat" keine Entwicklung zuläßt, die seinen Interessen zuwiderläuft, eigentlich nur die Schlußfolgerung zulassen, daß Erdogan die ihm aufgezeigten Grenzen akzeptiert hat, akzeptieren mußte.

Von Oktober 2008 bis Anfang 2009 kam es zu 12 Verhaftungswellen gegen die "Ergenekon"-Gruppe. "Die illegalen organisatorischen Strukturen wie 'Ergenekon' schaden dem Ansehen der türkischen Militärs und verstärken die Diskussion über die Eindämmung bzw. Unterbindung ihres politischen Wirkens, wie es seitens der EU gefordert wird" (S. 123), schreibt Kesen dazu, allerdings ohne zu problematisieren, daß eben dies, nämlich eine Verbesserung des Ansehens des türkischen Militärs, der tatsächliche Zweck der Ergenekon-Prozesse sein könnte. Zu der sogenannten "Kurdenfrage", um an dieser Stelle auf das vorgeblich primäre Thema dieser Dissertation zurückzukommen, haben die gar nicht so geheimen Strukturen des türkischen Machtapparats einen unmittelbaren Bezug. So kommen 17.000 Tote, die in dem Krieg der türkischen Militärs gegen die kurdische Befreiungsbewegung zu verzeichnen waren, an dieser Stelle eher randläufig zur Sprache:

Bemerkenswert im "Ergenekon"-Fall ist die führende Rolle der ehemaligen Generäle und Offiziere, die in den 1980er und 1990er Jahren in Kurdistan die Militäroperationen mitgeführt und unter dem Vorwand der "Bekämpfung des separatistischen Terrorismus" für das Verschwinden von 17 Tausend Personen mitverantwortlich waren. Dagegen dienen die anderen Mitverantwortlichen für diese Morde immer noch in der Armee. Daher bleibt die Frage, inwieweit der "Ergenekon"-Prozess zur Aufklärung der staatlichen Repression in Kurdistan und zur vollen Aufdeckung der Strukturen des "tiefen Staates" führen wird, zunächst offen.
(S. 123)

Wie gesagt: An Feststellungen dieser und ähnlicher Art mangelt es in Kesens Werk nicht, hier liegen eindeutig seine Pluspunkte, wie auch die anschließende Textpassage belegt:

Durch Herbeiführung und Verschärfung der Konflikte (gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen linken und rechten Gruppierungen, bewaffnete Auseinandersetzungen im Kurden-Konflikt, von den Geheimorganisationen der Armee inszenierte Provokationen etc.) kann die Armee jederzeit die Bedingungen und Gründe für eine Machtübernahme "vorfinden". Ihre Bereitschaft zur "Verteidigung des Staates und der Nation" hat sie seit der Einführung des Mehrparteiensystems 1946 in der Türkei durch 30 Putschversuche und drei "erfolgreiche" Putsche sowie einen "verdeckten Putsch" hinreichend unter Beweis gestellt.
(S. 123)

In wenn auch eher verhaltener Formulierung bringt der Verfasser die stillschweigende Kooperation zwischen der Türkei bzw. dem in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts mit großer Regelmäßigkeit putschenden türkischen Militär und den europäischen Staaten zum Ausdruck. Nach dem dritten Putsch am 12. September 1980 wurden die bilateralen Beziehungen vorübergehend ein wenig eingefroren, was einer politischen Notwendigkeit gleichkam, wollte Brüssel durch eine offene Kumpanei mit den Putschgenerälen nicht Gefahr laufen, von den Bevölkerungen ihrer Mitgliedstaaten als das, was es tatsächlich ist, erkannt und kritisiert zu werden. Der Assoziierungsprozeß, wie der zwecks einer Beitrittsperspektive geführte Annäherungskurs der Türkei an die damalige EG in jenen Jahren genannt wurde, stagnierte. Die europäische Haltung gegenüber der damaligen Junta analysierte Kesen keineswegs unzutreffend:

Die Bemühungen der EG um die Aufrechterhaltung der Beziehungen trotz der Militärdiktatur und um die Einflussnahme auf die politische Entwicklung in der Türkei lassen sich mit zwei Faktoren erklären. Zum einen hatte sich in der EG die Auffassung durchgesetzt, dass die Machtübernahme durch die Militärs aufgrund der innenpolitischen Konflikte in der Türkei "unvermeidbar" gewesen war. Insbesondere die konservativen Kreise in den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft zeigten eine unkritische Haltung, teilweise sogar Verständnis für das Eingreifen der Militärs. Dabei spielten die Überlegungen über die geo-strategische und militärische Bedeutung der Türkei für die westliche Allianz eine besondere Rolle. Der zweite Faktor der abwartenden EG-Haltung lässt sich mit einer geschickten Politik der Militärführung erklären, die die internationalen Proteste gering hielt. (...) Binnen kurzer Zeit zeigte sich die wahre Absicht der Militärs. Sie bezweckten nicht nur die Ausschaltung und Zerschlagung der linken und kurdischen außerparlamentarischen Opposition, die mit ihren revolutionären Zielen als ernste Bedrohung für das politische System der Türkei angesehen wurde. Vielmehr verfolgten die Militärmachthaber das Ziel, die künftige Gestaltung einer politischen Ordnung in der Türkei nach ihren Vorstellungen festzulegen und umzusetzen. So folgte dem Verbot der politischen Parteien und Gewerkschaften der Versuch, die früheren Politiker für immer aus dem politischen Leben zu verdrängen. Zu diesem Zweck beschloss der "Nationale Sicherheitsrat" (Milli Güvenlik Kurulu, MGK) am 15. Oktober 1981 die Auflösung der vor dem Putsch gegründeten Parteien und deren Enteignung.
(S. 47/48)

Die Haltung der damaligen EG als "abwartend" zu bezeichnen, kommt dabei selbstverständlich einer überaus zielgerichteten Verharmlosung der europäischen Teilhaberschaft an den militärdiktatorischen Verhältnissen im NATO-Staat Türkei gleich. Was diesen sensiblen Punkt betrifft, sucht der Autor die europäischen Staaten, deren moralische Überposition er mit großer Selbstverständlichkeit zu postulieren sucht, so weit wie möglich aus der Schußlinie zu nehmen. So bleibt es seinen Lesern überlassen, anhand des gebotenen umfangreichen Faktenmaterials und den durchaus detailgetreuen Schilderungen eigene Schlußfolgerungen zu ziehen. Dabei wirft die geschilderte Akzeptanz der EG für die putschenden türkischen Militärs ein Schlaglicht auf deren vollkommen desolates Demokratieverständnis und läßt befürchten, daß das Modell der Türkei, nämlich mit Panzern und Gewehren unliebsame Oppositionelle, seien es nun kurdische Aktivisten, türkische Linke oder einfach nur engagierte Lehrer und Gewerkschafter, auszuschalten, eine Option darstellt, die sich die EG- bzw. EU-Staaten ihrerseits für den Fall der Fälle vorbehalten und für den Fall der Türkei womöglich geradezu eingefordert hatten.

Wegen ihrer hohen geostrategischen Bedeutung darf die türkische Republik aus Sicht der EU und der USA keinen Weg einschlagen, der ihre feste Einbindung in die westliche Interessensphäre tangieren oder gar auflösen könnte. Kesen trifft in seinem Werk die Feststellung, daß "das Interesse der EU an der Einbindung der Türkei in den europäischen Integrationsprozess" unter anderem auf "außen- und sicherheitspolitischen Überlegungen" basiert, "die mit der geostrategischen Lage dieses Landes zusammenhängen" (S. 196). Diese Lage brachte es mit sich, daß die Siegermächte des Ersten Weltkrieges, bei denen es sich im wesentlichen um dieselben Akteure handelt, die gegenwärtig im Rahmen der NATO die Türkei als ihren Vorposten in der islamischen Welt bzw. der gesamten Region des Nahen Ostens erhalten wissen wollen, dafür Sorge trugen, daß der Nachfolgestaat des untergegangenen Osmanischen Reiches weder ein sozialistischer noch ein islamischer werden sollte.

"In der Gründungsphase der Republik Türkei wurde ein politisches System nach dem Grundsatz 'ein Staat, eine Nation und ein Führer' etabliert, welches weder eine politische Opposition noch Alternativen zu festgefahrenen Herrschaftsstrukturen zuließ" (S. 102), merkt Kesen dazu an, ohne allerdings die Frage aufzuwerfen, ob diese in ihrer Wortwahl wohl nicht ganz zufällig an den späteren Hitler-Faschismus erinnernde repressive Ordnung nicht sogar den Wunschvorstellungen der alliierten Siegermächte entsprochen haben könnte. Gegen die Besetzung des Territoriums des untergehenden Osmanischen Reiches durch alliierte Truppen hatte sich eine - von Türken und Kurden gemeinsam gebildete - Widerstandsbewegung formiert, zu deren Befriedung die Alliierten in dem am 10. August 1920 mit der osmanischen Seite geschlossenen Vertrag von Sèvres die Gründung eines unabhängigen Kurdistans in Aussicht gestellt hatten. Drei Jahre später, am 27. Juli 1923, wurde mit dem zwischen der Türkei und den Alliierten geschlossenen Vertrag von Lausanne die tatsächliche Grundlage für die am 29. Oktober desselben Jahres ausgerufene Republik der Türkei gelegt. Das Recht der Kurden auf Selbstbestimmung war hierin nicht mehr vorgesehen, und so nahm die Tragödie des kurdischen Volkes unter aktiver Beteiligung der Alliierten hier ihren Anfang und bis heute kein Ende, wie Kesen feststellt:

Die positiven Schritte der Türkei im Bereich der kurdischen Sprache und Kultur dürfen nicht zu der Annahme führen, dass sich die Anerkennung der Kurden auf einer rechtlichen Grundlage in der Türkei durchgesetzt hat. Der Rechtsstatus der Kurden als Nation bzw. eigenständiges Volk ist weiterhin nicht gegeben. Ihre rechtliche Stellung bestimmt sich vor dem Hintergrund der türkischen Verleugnungs- und Assimilierungspolitik gegenüber den Kurden schon seit der Gründung der Republik.
(S. 175)

Im Juni 1993 wurden mit den sogenannten Kopenhagener Kriterien die Bedingungen aufgelistet, die die Aufnahmekandidaten für einen EU-Beitritt zu erfüllen hätten. Den Bewerbern wird institutionelle Stabilität, die Einhaltung der Menschenrechte, die Übernahme des Gemeinschaftsrechts sowie eine funktionierende Marktwirtschaft abverlangt, womit sich die Union als ein kapitalistischer Staatenbund zu erkennen gab, der aus der Aufnahme neuer Mitglieder weitere Vorteile zu ziehen trachtet. Die Belange der Kurden im Land des Beitrittsaspiranten Türkei spielten und spielen dabei nur insofern eine Rolle, als die mit großer Regelmäßigkeit und Systematik an ihnen verübten Menschenrechtsverletzungen den EU-Organen die Handhabe bieten, der Türkei die erwünschte Aufnahme bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag zu verwehren. Da eine rechtliche Anerkennung und Gleichstellung der Kurden mit den Grundsätzen der türkischen Verfassung und der Staatsideologie vollkommen unvereinbar sind, beruht die seitens der EU immer wieder aufgeworfene Perspektive, im Zuge des Annäherungsprozesses die Türkei zu "demokratisieren" und zu Zugeständnissen gegenüber den Kurden zu bewegen, auf einem seiner Natur nach unerfüllbaren Versprechen.

An der Aufrechterhaltung und Neubefütterung dieser und weiterer Versprechen ist der Autor des vorliegenden Buches jedoch mit großem Engagement beteiligt. Ist dem berichterstattenden Teil seiner Dissertation im großen und ganzen ein hoher Informationswert beizumessen, gerät das insofern empfehlenswerte Werk ins Wanken, sobald es um die daraus zu ziehenden Schlußfolgerungen und Lösungsansätze geht. Nebi Kesen scheint sich mit seiner Dissertation als sach- und fachkundiger Berater für eine Kurden- bzw. Türkeipolitik der EU empfehlen zu wollen, nimmt doch die Entfaltung politikwissenschaftlich gestützter Lösungsmodelle im letzten Drittel seines Werkes einen großen Raum ein. Der Kern seiner Idee ist dem von Dr. Hans-Lukas Kieser vom Historischen Seminar der Universität Zürich, auf dessen Antrag die Dissertation unter anderem angenommen worden war, verfaßten Vorwort zu entnehmen:

Nebi Kesens Buch kommt zur rechten Zeit. Zwar hat die AKP mehrfach entscheidende Schritte in der staatlichen Kurdenpolitik in Aussicht gestellt und auch Sympathien unter den Kurden gewonnen, ohne aber politisch über einen wohlwollenden Paternalismus gegenüber den Kurden hinauszukommen. Im Sommer 2009 haben nun zentrale Akteure ihren Willen zu einer politischen Lösung bekräftigt: die AKP, die DTP - die Partei der Demokratischen Gesellschaft, mit kurdischer Wählerbasis, die aus den Regionalwahlen im März 2009 gestärkt hervorgegangen ist - und die PKK. Wenn die Synergie stimmt, sind Quantensprünge möglich. Nebi Kesens Buch verbindet die gebotenen Postulate mit der nötigen politikwissenschaftlichen und gegenwartsgeschichtlichen Analyse. Die Hoffnung besteht, dass sich sein föderalistischer Modellvorschlag als fundierter Anstoß für die politischen Akteure an der Verhandlungsfront erweist.

Hier nimmt Kieser Bezug auf die politische Lage, wie sie sich im Frühsommer 2009 darstellte, inzwischen jedoch bereits wieder vollkommen obsolet geworden ist, weil mit dem am 11. Dezember 2009 vom türkischen Verfassungsgericht verhängten Verbot der DTP die in Kesens Buch angeführten Voraussetzungen für eine politische Lösung des Kurdenkonflikts nicht mehr vorliegen. Damit ist allerdings auch Kesens mühsam aufgebautes Konstrukt, das sogenannte Spiralmodell, bei dem die Durchsetzung der Menschenrechte in fünf Phasen geordnet werden in Verbindung mit der Behauptung, daß die heutige Türkei diese bereits durchlaufen hätte und somit das Klassenziel eigentlich schon erreicht haben müßte, von der Wirklichkeit nicht etwa überholt, sondern durchkreuzt worden bzw. als das, was es ist, entlarvt worden: eine bloße Theorie, geschaffen bzw. angewandt in einem politischen Kontext, in dem es um die Durchsetzung EU-hegemonialer Zielsetzungen in bezug auf die Türkei geht, wofür die dortige Menschenrechtssituation und die Belange der Kurden bestenfalls strategische Mittel zum Zweck sind.

"Das Spiralmodell erklärt den Prozess der Implementierung der Menschenrechte in fünf aufeinander folgenden Phasen, an deren Ende bei positiver Annahme die internationalen Menschenrechtsnormen seitens der betroffenen Staaten schließlich internalisiert werden", behauptet der Autor (S. 221). Und weiter: "Diese fünf Phasen, in denen sowohl nationale als auch internationale Akteure je nach Phase als Gegner und/oder Verbündete mit unterschiedlicher Intention handeln, werden wie folgt genannt: 1. Repression, 2. Leugnen, 3. Taktische Konzessionen, 4. Präskriptiver Status und 5. Normgeleitetes Verhalten." (S. 221/222) Der Autor ordnet, wie um seine vollkommen fehlangewandte Theoriebildung mit historischen Fakten zu untermauern, der Phase der Repression die Zeit der Militärdiktatur von 1980/81 zu, die des Leugnens der "Rückkehr zur Demokratie" von 1982 bis 1986, um daran anschließend die Zeit der "europäischen Annäherung" von 1987 bis 1996 unter "Taktische Konzessionen" zu fassen. Als vierte Phase - "Präskriptiver Status", was bedeuten soll, "dass sich die Akteure regelmäßig auf die Norm beziehen, um ihr eigenes Verhalten und das anderer Akteure zu beschreiben und zu kommentieren" (S. 225) - definiert der Verfasser die Jahre 1997 bis 2000 unter dem Stichwort "Zielsetzung und Erreichung der EU-Beitrittskandidatur", während die Zeit von 2001 bis 2005 als "Normgeleitetes Verhalten und EU-Anpassungsreformen" bezeichnet wird.

Da die fünfte Phase dieser Theorie zufolge inzwischen bereits seit fünf Jahren abgeschlossen ist, müßte es um die Menschenrechte in der Türkei zum Besten stehen. Daß einer solchen Behauptung jede, aber auch wirklich jede Bodenhaftung und Wirklichkeitsannäherung fehlt, weiß natürlich auch der Autor, und so fügt er etwas kleinlaut hinzu, daß eine "Ausnahme" der Menschenrechte im Zusammenhang mit der Kurdenfrage bestehe, weil die Staatsideologie und deren Einfluß auf die Kurdenpolitik der Türkei deren Menschenrechtspolitik unter den Vorbehalt des Separatismus bzw. der Bekämpfung des Terrorismus stelle. Daß die Menschenrechte als unteilbar und ausnahmslos geltend postuliert werden müssen, wenn ihre Implementierung denn eine tatsächliche Wirkung entfalten soll, wurde an dieser Stelle geflissentlich ignoriert, und so muß geargwöhnt werden, daß die mit dem Spiralmodell aufgestellte Behauptung, die heutige türkische Republik habe von 1980 bis 2005 einen fundamentalen Wandlungsprozeß durchlaufen, einzig konzipiert wurde, um sie aus Gründen, die allein in den hegemonialen Absichten von EU und NATO zu verorten sind, mit einem menschenrechtlichen Gütesiegel versehen zu können.

Der von Kieser in dessen Vorwort bereits erwähnte "föderalistische Modellvorschlag" des Verfassers ist nicht minder ein bloßes Theoriekonstrukt, wogegen per se nichts einzuwenden wäre. Dabei handelt es sich um den Übertragungsversuch politikwissenschaftlicher Vorstellungen nach dem Vorbild realexistierender föderalistischer Staaten wie unter anderem auch der Bundesrepublik Deutschland. Dieses Thema umfangreich zu erörtern und in allen nur denkbaren Facetten zu diskutieren, offenbart den Standpunkt eines Gelehrten, der anzunehmen scheint, daß die demokratischen Kräfte innerhalb der Türkei bar eigener Ideen wären. Kesen bringt mit diesen Vorschlägen, mögen sie auch noch so "gut gemeint" sein in Hinsicht auf die Lösung des Kurdenkonflikts, die Brüsseler Suprematie zum Ausdruck und ignoriert auf dem Wege dahin zudem seine eigenen, das Buch ungeachtet seiner politischen Positionierung empfehlenswert machenden Feststellungen in Hinsicht beispielsweise auf die Struktur des "tiefen Staates".

Einen solchen Staat als reformierbar zu postulieren in Bezug auf die behauptete Absicht, den Kurden zu der von ihnen schon seit so langer Zeit eingeforderten Autonomie zu verhelfen, kommt einer Beteiligung an der Aufrechterhaltung des Status quo gleich. Kesen preist sein Föderalismuskonzept "als Garant für den Ausgleich der Interessen der Kurden und Türken" an als Alternative zur Sezession (S. 307) und stellt gleichwohl fest, daß "die Haltung der Konfliktparteien" so sehr divergiert, daß "die Chancen einer Einigung über eine föderale Lösung unter den jetzigen Bedingungen gegen Null tendieren" (S. 307). Die Verantwortung für die im Wege stehenden Bedingungen weist der Autor nicht dem türkischen Staat bzw. Militär oder den westlichen Verbündeten der Türkei zu, sondern verteilt sie gleichermaßen auf die Kurden, weil deren Forderung nach Föderalismus "mit fehlenden konkreten Konzepten und Vorschlägen" behaftet sei, und die türkische Seite, weil diese "nichts davon wissen will".

Damit ist die Türkei aus dem Schneider. Kesen zeichnet ein Szenario zweier vermeintlich auf gleicher Augenhöhe agierender Konfliktparteien, wohlwissend und deshalb gezielt ignorierend, daß die kurdische Seite seit Gründung der Republik in ihrer Existenz als ein eigenständiges Volk ignoriert und zwangsassimiliert sowie seine Befreiungsbestrebungen gewaltsam unterdrückt wurden. Somit nimmt der Autor ungeachtet des kurdenfreundlichen Tenors seines Werkes im Kern einen pro-türkischen Standpunkt aus der Sicht eines Vertreters europäischer Interessen ein, der letzten Endes den starken türkischen (Militär-) Staat bestehen lassen möchte, weil nur ein solcher die wichtigen geostrategischen, militärischen und auch wirtschaftlichen Aufgaben erfüllen kann, die Brüssel, aber auch Washington ihm zugedacht haben. Die ungelöste "Kurdenfrage" ist dabei ein Störfaktor, weil die ungebrochenen politischen Bestrebungen der kurdischen Befreiungsbewegung einen reibungslosen Ablauf in Frage stellen, und so nimmt es nicht wunder, daß Kesen keineswegs nur einem Anpassungsprozeß der Türkei an die EU das Wort redet, sondern eine "Europäisierung" der kurdischen Gesellschaft (S. 303) einfordert und erklärt:

Der Aspekt der gesellschaftlichen Integration betrifft insbesondere die kurdische Gesellschaft, für die die europäischen Wertvorstellungen und Ziele "Neuland" sind und deren Internalisierung äußerst schwierig sein dürfte. Daher sollte das Integrationsproblem der Kurden und seine Ursachen, insbesondere seitens der EU, richtig erkannt und behandelt werden.
(S. 303)

Die Kurden, ein auf vier Staaten aufgeteiltes Volk ohne jeden Anspruch auf Eigenstaatlichkeit, von denen allein in der Türkei rund 20 Millionen Menschen leben, stellen demnach ein "Integrationsproblem" dar - deutlicher hätte Kesen seinen Standpunkt kaum machen können. Wer seine Lösungsvorschläge, Analysen und Erklärungsmodelle in Hinsicht auf das darin zum Ausdruck gebrachte Demokratieverständnis einer genaueren Prüfung unterzieht, wird nicht umhinkommen, sie zu verwerfen, weil sie weder für eine Demokratisierung der Türkei - was ohne eine Loslösung oder zumindest Lockerung der mit den westlichen Staaten geknüpften Bande ebensowenig vorstellbar ist wie ohne tiefgreifende innenpolitische Veränderungen - noch für eine tatsächliche Aufhebung der Unterdrückung und Drangsalierung des kurdischen Volkes etwas Konstruktives beizutragen haben.

29. Januar 2010


Nebi Kesen
Die Kurdenfrage im Kontext des Beitritts der Türkei zur Europäischen
Union
Nomos Universitätsschriften - Politik - Band 169
1. Auflage 2009
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2009
ISBN 978-3-8329-4818-4