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REZENSION/494: Avraham Burg - Hitler besiegen (SB)


Avraham Burg


Hitler besiegen

Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muß



Nach der menschheitsgeschichtlichen Zäsur der Shoa gabelt sich der Weg. Das im Namen der Humanität formulierte Postulat "Nie wieder!" führt je nach seinem spezifizierenden Zusatz auf zwei einander wesensfremde Pfade, die sich mit jedem Schritt weiter voneinander entfernen und zwangsläufig in diametral entgegengesetzte Positionen münden. Führt man gegen das Grauen die ausschließliche Negation ins Feld, daß dies nie wieder Menschen angetan werden dürfe, kommt man fortan nicht umhin, in aller Entschiedenheit für die Schwachen einzutreten, gleich mit welchen Widersprüchen man sich konfrontiert sieht. Zieht man hingegen die Konsequenz, daß dem jüdischen Volk derartiges nie mehr widerfahren dürfe, erwächst aus diesem Keim unvermeidlich der Drang, die Ohnmacht des eigenen Kollektivs zugunsten einer Stärke zurückzulassen, die sich zu Lasten aller anderen durchzusetzen vermag. Wie ein Knecht, der nicht die Herrschaft beenden, sondern selber Herr werden möchte, verschreibt man sich dem Vorteilsstreben als letztgültiger Doktrin, das sich in der fortgesetzten Umlastung auf andere erschöpft.

Wo sich der zionistische Entwurf, einen neuen Menschen zu schaffen, mit dem unablässigen Rückbezug auf die Shoa verschränkt, verengt dies die Entwicklungsmöglichkeit auf eine Machtpolitik, die aus den erlittenen Leiden der Vergangenheit die Rechtfertigung jedes Mittels im Namen der eigenen Sicherheit ableitet. Um diese Vorherrschaft zu konsolidieren, zwingt man sich und andern die fundamentale Unterscheidung auf, daß das Überleben des einen von unvergleichlichem Wert sei, wofür der andere selbstverständlich seinen Preis zu zahlen habe. Das Gebot eigener Stärke erfordert die Schwächung des anderen, die von der Verteidigung zur Prävention übergeht, die schließlich überall potentielle Feinde verortet, die keinesfalls ihr Haupt erheben dürfen. Allen voran die Palästinenser werden nach dieser Maxime gnadenlos drangsaliert, da sie als beraubte Nachbarn der vollen Wucht israelischer Suprematie unterworfen sind.

Wir haben die Shoah aus ihrer heiligen Position geholt und in ein Instrument gewöhnlicher und sogar abgedroschener Politik verwandelt. Wir haben die Shoah zu einem Mittel im Dienste des jüdischen Volkes gemacht. Sogar zu einer Waffe, die stärker ist als die israelischen Streitkräfte. Die Shoah ist zu unserem ausschließlichen Eigentum geworden. Wir verwenden enorm viel Energie darauf, sicherzustellen, dass kein anderer in "unser" Allerheiligstes vordringt. Immer wieder hat sich der jüdische Staat an die Seite der türkischen Regierung gestellt, wenn es darum ging, den Holocaust an den Armeniern zu leugnen. (...) Das hatte anscheinend strategische Gründe: gute Beziehungen zu Israels einzigem islamischen Verbündeten in der Region zu pflegen. Aber jeder, der die israelische Psyche gut genug kennt, weiß, dass wir den Holocaust an den Armeniern leugnen, um sicherzustellen, dass der Holocaust an den Juden unser Eigentum bleibt. Wir haben geschworen, dass es nie wieder eine Shoah geben wird. "Nie wieder" lautet unser Mantra, "Nie wieder" ist unsere Obsession. "Der Eskimo und die Armenier interessieren uns nicht, nur die Juden", sagte der Büroleiter des Premierministers einmal.
(S. 176)

Wenn Avraham Burg seine Landsleute dazu aufruft, sich endlich vom Holocaust zu lösen und damit Hitler zu besiegen, mag das für viele wie eine unerhörte Provokation, ja Blasphemie klingen. Dies bekam der Autor bei seinen zahlreichen Veröffentlichungen und Stellungnahmen zu diesem Themenkomplex in den letzten Jahren in Gestalt heftiger Anfeindungen zu spüren, die ihn wahlweise zwischen Nestbeschmutzer, Vaterlandsverräter und Antisemiten ansiedelten. Da er seinen Landsleuten den Spiegel vorhält und sie eindringlich davor warnt, auf ihren historischen Peiniger fixiert sich auf ewig verfolgt zu wähnen und darüber zu den grausamsten Taten fähig zu werden, ruft dies zwangsläufig Entsetzen hervor. Ob dieses in die Geißelung des Tabubrechers mündet oder Anlaß zur Besinnung und Kurskorrektur gibt, hängt von der Bereitschaft ab, sich mit kritischen Standpunkten auseinandersetzen.

Gerade aus deutscher Sicht ist dieses Buch sehr aufschlußreich, da es eine Tür öffnet, der hiesigen Instrumentalisierung der eigenen Vergangenheit in Gestalt einer bedingungslosen Unterstützung israelischer Politik zu entsagen. Die rasante Rekrutierung des westlichen Nachkriegsdeutschlands als mitteleuropäisches Bollwerk im Kalten Krieg korrespondierte mit einer nicht minder von der weltweiten Blockbildung diktierten Aussöhnung mit Israel, das fortan vom Lebenselixier deutscher Finanztransfers profitierte. Diese Form der Vergangenheitsbewältigung umschiffte nicht nur die in ihren wesentlichen Teilen tabuisierte Massenvernichtung, indem sie dieses Kapitel deutscher Geschichte aus dem Kontext imperialistischen Expansionsstrebens im Gefolge kapitalistischer Verwertungszwänge riß und zu einem beispiellosen Sonderfall erklärte. Sie schuf darüber hinaus eine Verrechnung von Schuld und Sühne, die in der Buchführung unter dem Strich stets eine ertragreiche Kumpanei bilanzieren konnte. Der Staat Israel avancierte als Speerspitze westlichen Vormachtsstrebens in der arabischen Welt zum hochwertigen Bündnispartner, dessen Aufrüstung zur führenden Militärmacht in dieser Region jede Alimentierung rechtfertigte.

Nicht zuletzt ist es die Person des Autors, die den besonderen Gehalt dieses Werkes ausmacht. Avraham Burg gehörte dem politischen Establishment seines Landes an und bekleidete hochrangige Ämter. Der Streifzug durch seine Lebensgeschichte, der seine Wandlung vom entschiedenen Zionisten zu einem Kritiker dieser Ideologie nachvollziehbar macht, gibt einen seltenen Einblick in die Widersprüche und Konflikte israelischer Eliten. Noch ist es eine Minderheit, die sich der Drift der Gesellschaft in die Festungsmentalität verweigert und entgegenstemmt, welche eine allgegenwärtige Bedrohung beschwört, um daraus das Recht und die Pflicht zur Anwendung überlegener Waffengewalt und Perfektionierung eines administrativen Zwangsregimes abzuleiten. Wie das Beispiel des Autors belegt, findet man mahnende und warnende Stimmen in vielen Sphären der israelischen Gesellschaft, was die Strategie ihrer Ausgrenzung obsolet macht.

Avraham Burg, der am 19. Januar 1955 in Jerusalem geboren wurde, dürfte hierzulande bislang nur jenen bekannt sein, die sich mehr als oberflächlich mit der gesellschaftlichen Entwicklung seines Landes beschäftigen. In Israel ist der Name Burg jedoch eine feste Größe in der Politik. Der Vater des Autors, Josef Burg, ein aus Dresden stammender Doktor der Philosophie und Rabbiner, der 1939 nach Palästina auswanderte, war viele Jahre Vorsitzender der National-Religiösen Partei (NRP) und zwischen 1951 bis 1986 mehrfach Innenminister Israels. Avraham Burg wurde 1985 Berater von Premierminister Shimon Peres und 1988 für die Arbeitspartei in die Knesset gewählt. Seit 1995 leitete der gläubige Jude die Jewish Agency und führte als Vorsitzender der World Zionist Organization die Entschädigungsverhandlungen mit Schweizer Banken, wofür er sein Knesset-Mandat vorübergehend niederlegte. 1999 bis Anfang 2003 war Burg Sprecher der Knesset und in dieser Funktion diente er vom 12. Juli bis 1. August 2000 als provisorischer Präsident Israels. 2001 kandidierte er für den Vorsitz der Arbeitspartei, doch wurde er nicht gewählt.

Wie diese politische Laufbahn belegt, kam Burg mit vielen hochrangigen Persönlichkeiten der Regierungspolitik in engen Kontakt, wie er auch selbst höchste Staatsämter bekleidete. Als früherer Vorsitzender der wichtigsten internationalen Interessenvertretungen seines Landes verfügt er über intime Kenntnisse diesbezüglicher Strategien und Konflikte. Avraham Burg ist kein ehemaliger Falke, der sich in späten Jahren eine zweite Karriere als Taube gönnt, was man zumeist unzutreffend als Altersweisheit interpretiert. Seine Widersprüche zum Zionismus und dessen Konsequenzen resultieren aus der unmittelbaren und selbstkritischen Auseinandersetzung mit seiner eigenen Funktion, dem persönlichen Umfeld und den von ihm mitbestimmten politischen Prozessen.

Seinen Wehrdienst leistete er in der Eliteeinheit der Fallschirmspringer, was für gewöhnlich einem Sprungbrett für politische Karrieren gleichkommt. Er lehnte jedoch den Libanonkrieg 1982 ab und war nach seinem Dienst in den Streitkräften in Organisationen wie Peace Now aktiv. Im Oktober 2003 erregte er international Aufsehen, als sein Artikel "The end of Zionism" im britischen "Guardian" veröffentlicht wurde. In seinem ersten Buch, das 2004 erschien, warnte er vor religiösem Fanatismus. Im selben Jahr zog sich Burg aus dem öffentlichen Leben zurück, wurde Geschäftsmann und widmete sich seiner publizistischen Tätigkeit. Als das vorliegende Buch 2007 in Israel erschien, löste es einen Sturm der Entrüstung aus. Zum ersten Mal hatte es ein führender Vertreter des politischen Establishments gewagt, die zentralen Prinzipien israelischer Staatsraison in Frage zu stellen.

In einem Interview mit der liberalen israelischen Zeitung "Haaretz" im Juni 2007 widersprach er erneut den Kernthesen des Zionismus, was ihm wiederum heftige Anfeindungen, aber auch Zuspruch für seinen mutigen Stich ins Wespennest eintrug. Burg erwiderte auf den Vorwurf, er habe ein antiisraelisches Buch verfaßt, sein bisheriges Leben sei isrealisch geprägt gewesen. Das reiche ihm nicht mehr aus, denn von den drei Identitäten, die ihn geformt hätten - human, jüdisch und israelisch - halte ihn das israelische Element von den beiden andern fern. Das Judentum habe immer Alternativen bereitgehalten, während der strategische Fehler des Zionismus darin bestehe, diese Alternativen zu beseitigen und ausschließlich auf einen starken Staat zu setzen, dessen wichtigste Bestandteile aus Illusionen bestünden.

Avraham Burg erzählt in zwölf Kapiteln seine eigene und die Geschichte des Staates Israel auf sehr persönliche Weise, indem er Erinnerungen an seine Eltern, prägende Erlebnisse, markante Wendepunkte, Überlegungen zum Wesen des Judaismus und gesellschaftliche Analysen miteinander verknüpft. Man muß seine zahlreichen eingestreuten Standpunkte zur politischen Entwicklung in anderen Weltregionen nicht immer teilen, um seine Aussage zu würdigen, wonach die Definition des Staates Israel als jüdisch mit dem Ende des ursprünglich aufgeklärten Zionismus gleichzusetzen sei, weil sie die jüdisch-israelische Gesellschaft immer stärker in eine rassistische verwandele und ihrer humanistischen Werte beraube. Dies öffne einem radikalen Messianismus Tür und Tor, der mit demokratischen Grundsätzen nicht zu vereinbaren sei und sich in politischen Sprengstoff verwandelt habe.

Wie der Historiker Tom Segev siedelt auch Burg den Wendepunkt der zionistischen Entwicklung beim Eichmann-Prozess an. Präsident Ben Gurion inszenierte ihn 1961 als Schauprozeß, um die Shoa, die bis dahin im öffentlichen Diskurs Israels keine Rolle gespielt hatte, zu einem Teil der Identität aller Juden zu machen, gleich welcher Herkunft sie waren. Die Hinrichtung Eichmanns, so argumentiert Avraham Burg, eröffnete mit dem Shoah-Diskurs den Rückbezug auf beispiellose Leiden des jüdischen Volkes. Dieser rechtfertigte den triumphalen Wiedergewinn all dessen, was Hitler und Eichmann vernichtet hatten, in Gestalt der Okkupation palästinensischer Gebiete, deren dauerhafte Besetzung den "heutigen Albtraum" hervorgebracht hat.

Israel befindet sich nach Einschätzung des Autors auf einem gefährlichen Irrweg: Es habe Muskeln entwickelt, aber keine Seele. Obgleich die Juden über einen starken Staat und mehr Macht als je zuvor in der Geschichte verfügen, haben sie den Holocaust zu einem "theologischen Pfeiler der jüdischen Identität" gemacht und ihre Opferrolle funktionalisiert. Die postulierte Einzigartigkeit des Holocaust durchdringt mit tagtäglichen Medienberichten, Unterrichtselementen und Gedenkritualen ihr Leben auf allgegenwärtige Weise, schreibt Burg. Der von den Zionisten geschaffene Mythos einer permanenten jüdischen Leidensgeschichte versperre zunehmend den Blick auf die Zukunft und führe zu einem gefährlichen Abgleiten in den Verfolgungswahn. So zieht der Autor insbesondere gegen die in nationalreligiösen und Siedlerkreisen häufig gezogenen Parallelen zwischen arabischen Führern und den deutschen Nationalsozialisten zu Felde:

Sind das meine Brüder, frage ich mich und antworte mit einem klaren Nein. Für mich sind Bruderschaft und nationaler Familienzusammenhalt nichts, was sich ganz von selbst aufrechterhält. (...) ich habe Brüder und Schwestern im Geiste, mit denen ich dieselben Wertvorstellungen teile. Wer ein schlechter Mensch ist, ein jammernder Feind oder ein Besatzer mit harter Hand, ist nicht mein Bruder, selbst wenn er beschnitten ist, den Sabbat und die Gebote einhält. Eine Frau, die aus Schicklichkeit ihre Haare unter einem Tuch verbirgt, Almosen gibt und Barmherzigkeit übt, aber unter dem Kopftuch die Unantastbarkeit jüdischen Landes vertritt und sie über die Unantastbarkeit menschlichen Lebens stellt, wessen Leben es auch sein mag, ist nicht meine Schwester. Vielleicht sind sie sogar meine Feinde.
(S. 229/230)

Dem zionistischen Entwurf war kein Determinismus in die Wiege gelegt, wie die historischen Kontroversen um seine Bestimmung und seinen Verlauf belegen. Er hat jedoch die Entwicklung genommen, die Opfer im eigenen Volk zu verachten und zu funktionalisieren, um sich auf die Siegerseite zu schlagen, indem er sich selbst zum Produzenten neuer Opfer in Gestalt arabischer "Untermenschen" aufschwang. Wie Avraham Burg zu bedenken gibt, sei Hitler erst dann besiegt, wenn seine Taten nicht länger zur Rechtfertigung der eigenen Handlungsweise dienen. Ein überzeugendes Argument, wenn man sich das palästinensische Ghetto des Gazastreifens und Westjordanlands vor Augen führt.

25. September 2009


Avraham Burg
Hitler besiegen
Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muß
Campus Verlag, Frankfurt 2009
280 S., 22,90 Euro
ISBN 978-3-593-39056-7