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REZENSION/483: Hans Fricke - Davor Dabei Danach (Ehemaliger Kommandeur der DDR-Grenztruppen) (SB)


Hans Fricke


DAVOR - DABEI - DANACH

Ein ehemaliger Kommandeur der Grenztruppen der DDR berichtet



Angesichts der gegenwärtig frisch befeuerten Dämonisierung der DDR, die vordergründig den 20. Jahrestag der Maueröffnung am 9. November 2009 zum Anlaß nimmt, tatsächlich jedoch einer antikommunistischen und antisozialistischen generalpräventiven Offensive den Weg ebnen soll, ist das in erster Auflage bereits im Jahre 1993 erschienene Buch von Hans Fricke "Davor - Dabei - Danach. Ein ehemaliger Kommandeur der Grenztruppen der DDR berichtet" ebenso aktuell wie empfehlenswert. In ihm legt der Autor, der bislang als einziger führender Offizier der ehemaligen DDR-Grenztruppen einen Insiderbericht über seine Tätigkeit verfaßt hat, nicht nur Zeugnis ab über den historischen Entstehungszusammenhang sowie das politische Selbstverständnis der DDR aus der Sicht eines Menschen, der sich auf der Basis seiner persönlichen politischen Überzeugung für diesen Staat eingesetzt und stark gemacht hat. Hans Fricke bietet, gerade weil sein Bericht mit der Schilderung seiner persönlichen Lebensgeschichte aufs engste verwoben ist, interessierten Lesern die Gelegenheit, ihre womöglich vorgefaßten und außeninduzierten Auffassungen vom vermeintlichen "Unrechtsstaat DDR" am Beispiel eines Menschen, der sich, wenn auch keineswegs kritiklos, zu ihr bekennt, zu überprüfen.

Wäre die DDR tatsächlich, wie ihre Gegner glauben machen wollen, mit dem NS-Staat, der die vorherige deutsche Republik in ein faschistisches Regime wandelte und der Welt den nächsten Vernichtungskrieg aufzwang, gleichzusetzen, hätte einer ihrer verantwortlichen militärischen Ausbilder wohl schwerlich Anschauungen äußern können, die ebenso eine tiefe Verbundenheit mit der Verpflichtung, den Frieden zu wahren, offenbaren wie die Bezugnahme auf die humanitären Werte, als deren alleinige Verfechterin sich die sogenannte internationale Gemeinschaft nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems verstanden wissen will. Frickes Bericht liefert ganz unabhängig von der Frage, für wie repräsentativ dieser Bericht eines einzelnen ehemaligen Kommandeurs der Grenztruppen zu halten sein mag, gerade in einer Zeit, in der die DDR mehr denn je verteufelt wird, eine hervorragende Gelegenheit, um sich anhand seiner Biographie, die von der Biographie des ersten und bislang einzigen Versuchs, die Gesellschaftsutopie Sozialismus auf deutschem Boden zu realisieren, nicht zu trennen ist, eine eigenständige Meinung zu bilden. So erläutert Fricke beispielsweise, warum er schon in jungen Jahren der SED beitrat, folgendermaßen:

Auch wenn mir eine Reihe dieser politischen Vorgänge und ihre wahren Hintergründe damals noch nicht so bekannt und bewußt waren wie später, hatte ich doch die feste Überzeugung, daß sich in Westdeutschland etwas Gefährliches zusammenbraue, was einer antifaschistisch-demokratischen Entwicklung diametral entgegenstehe. Und ich hatte auch keinen Zweifel daran, daß das Endziel der Deutschlandpolitik der Westmächte und ihres Juniorpartners BRD die Einverleibung der DDR in ihrem Rumpfstaat jenseits der Elbe sei. Damit aber wären alle Hoffnungen auf ein anderes, besseres Deutschland wieder zunichte und die Millionen Opfer im Kampf gegen Hitler-Deutschland umsonst gewesen. Deshalb konnte mein Platz nur an der Seite der Arbeiterklasse und der Kämpfer gegen den Faschismus sein.

Wir damals noch sehr junge Menschen, aufgewachsen in Faschismus und während eines verbrecherischen Krieges, waren denen dankbar, die uns da herausgeholt hatten. Das waren Antifaschisten und Kommunisten, die aus Konzentrationslagern, Zuchthäusern und aus der Emigration zurückgekehrt waren und die in der DDR - völlig im Gegensatz zur Bundesrepublik - das politische Leben prägten.

Für mich war klar: Der Krieg hatte fünfzig Millionen Menschen gefordert. Gegen den Krieg mußte man sein. Der aber war eine Frucht des Faschismus und der wiederum war eine Geburt des Kapitalismus. Der Sozialismus bedeutete mit seinem für mich damals konsequenten Antifaschismus die einzige Alternative, für die man sich mit seiner ganzen Kraft einsetzen muß. Deshalb sagte ich aus voller Überzeugung "Ja" zur neuen Ordnung. Das vergessen jene, die "immer schon alles gewußt haben", besonders die aus dem Westen, die heute ungläubig fragen, warum wir ein solches System unterstützt, an ihm mitgewirkt haben.
(S. 51/52)

"Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus" - dieser Grundtenor herrschte auch in der Bevölkerung des späteren Weststaates so eindeutig vor, daß die Beweggründe Frickes wie auch vieler anderer seiner Generation nicht nur nachzuvollziehen, sondern auch nach den Wertmaßstäben der bundesrepublikanischen Gesellschaft gutzuheißen wären. Tatsächlich jedoch hat sich in der BRD, wie Fricke in seinem Werk detailliert nachweist, der Faschismus im demokratischen Tarnkleid restaurieren können, und so ist nicht von der Hand zu weisen, daß die bundesrepublikanischen Eliten auch nach der Einverleibung der DDR den Zusammenhang zwischen dem Zweiten Weltkrieg, Faschismus und Kapitalismus, so wie Fricke ihn darstellt, negiert sehen möchten. Dabei ist die scheinbar wieder aktuelle Frage, ob die DDR "ein Unrechtsstaat" war, a priori keine historische; sie ist vielmehr elementarer Bestandteil, Vorwand und Transportmittel, um am Fallbeispiel der angeblich so mißgestalteten DDR mit Blick auf die Zukunft die Idee des Sozialismus generell zu verunglimpfen.

Dabei bräuchte die DDR im historischen Diskurs den Vergleich mit der damaligen BRD bzw. der nun wieder gesamtdeutschen Republik keineswegs zu scheuen. Sie hat jedoch, da ihre verbliebenen Fürsprecher und wendehals-resistenten ehemaligen Repräsentanten ihrerseits politisch angefeindet, wenn nicht gar kriminalisiert wurden, einen denkbar schlechten Stand, da sich bis heute nahtlos fortsetzt, was mit dem aufs Undemokratischste vollzogenen Anschluß der DDR an den kapitalistischen deutschen Weststaat BRD 1989 keineswegs seinen Anfang genommen hatte.

Der ostdeutschen Bevölkerung wurden bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen - wohl um sie darüber hinwegzutrösten, daß sie um ihre Meinung nach ihrer politischen Zukunft zuvor gar nicht gefragt worden war - durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) bekanntlich "blühende Landschaften" versprochen. Dieser Ausdruck wurde als Metapher für Freiheit, sozialen Fortschritt und Wohlstand benutzt; mit ihm wurden den nun ehemaligen DDR-Bürgern Verheißungen gemacht, so als würden ihnen durch die Rekapitalisierung ihres Landes binnen kurzem Errungenschaften zuteil werden, die sie "im Sozialismus" so lange hätten entbehren müssen. Inzwischen gibt es wohl niemanden mehr, der diese Kohl-Lüge nicht einzuschätzen wüßte. Die Ankunft im verheißungsvollen Westen hat die Maueröffnungseuphorie vom November 1989 schnell erkalten lassen. Einen Gewinn aus der sogenannten Wiedervereinigung hat einzig der West-Staat ziehen können, der sich das Volkseigentum der nun wehrlosen, weil ihrer politischen Führung entledigten und ihrer staatlichen Souveränitätsrechte entäußerten DDR-Bevölkerung auf gut Hochdeutsch gesagt "unter den Nagel reißen" konnte.

Nach zwanzig Jahren, die die Bevölkerung des einzigen deutschen Staates, von dessen Boden nie ein Krieg ausging, unter gewendeten, also rekapitalisierten Verhältnissen durchlebte, blüht auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, um im Bilde zu bleiben, am ehesten noch das Unkraut. In einer gemeinsam vom Statistischen Bundesamt und vom Paritätischen Wohlfahrtsverband am 18. Mai herausgegebenen Armutsstudie wird klargestellt, daß in dem angeblichen Wohlfahrtsstaat Bundesrepublik Deutschland ganze Landstriche vor Armut zu veröden drohen. Sie liegen ganz überwiegend im Osten Deutschlands, wo bereits jeder fünfte Bürger nach Maßstäben der Statistiker als "arm" gilt, während dies in der ehemaligen Westrepublik "nur" jeden achten betrifft. "Wenn die ärmste Region eine viermal so hohe Armutsquote aufweist wie die reichste, hat das mit gleichwertigen Lebensverhältnissen nichts mehr zu tun", resümiert der Hauptgeschäftsführer des Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider.

Die Gesellschaftsutopie Kapitalismus, sprich das Versprechen, durch in Privatbesitz befindliche Produktionsmittel und eine von staatlichen Reglementierungen weitgehend freigehaltene Wirtschaftsordnung die optimale Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, könnte somit ohne Wenn und Aber als gescheitert bewertet werden. Nicht von ungefähr mehren sich - und keineswegs nur in bezug auf die in Ostdeutschland allenfalls noch krasseren Armutsverhältnisse - Warnungen vor sozialen Unruhen und Armutsaufständen. Fraglos befindet sich die herrschende kapitalistische, noch dazu sich dem neoliberalen Diktat verpflichtet fühlende Gesellschaftsordnung in einer fundamentalen Legitimations- und Glaubwürdigkeitskrise. Die der FDP nahestehende Friedrich-Naumann-Stiftung sah sich veranlaßt, eine Studie zu den Einstellungen in der Gesellschaft zu veranlassen, woraufhin das Meinungsforschungsinstitut Infratest Dimap mit dem für die FDP wie die auch die gesamte politische Elite des Landes beunruhigenden Ergebnis aufwartete, daß fast jeder zweite Ostbürger dem Sozialismus noch einmal eine Chance geben wolle und das herrschende System für sozial ungerecht halte.

Wenn in diesem Jahr, das vielfach schon als "Superwahl"- und "Gedenkjahr" tituliert wird, so als hätten die bevorstehenden Urnengänge oder auch die Tatsache, daß sich die Gründung der Bundesrepublik Deutschland zum 60. Mal jährt, eine Relevanz, die ihnen eine Priorität vor den drängenden und ungelösten sozialen Fragen verleihen könnte, jeder Vorwand und jede Gelegenheit genutzt wird, um die schon seit so langer Zeit nicht mehr existierende DDR über die bislang bereits geleistete und vollzogene Verteufelung hinaus aufs neueste und noch dazu intensivste zu dämonisieren, spricht dies Bände für die tiefsitzenden und allzu begründeten Sorgen der herrschenden Elite vor dem schon totgeglaubten "Sozialismus". Wäre die westlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung und das mit ihr in Zeiten relativer sozialer Ruhe verbundene System parlamentarischer Demokratie sich ihrer bzw. seiner selbst so sicher, wie sie es den ihr Untergebenen glauben machen möchte, hätten ihre Protagonisten es wohl nicht nötig, gegen einen Gegner, der nicht etwa nur am Boden liegt, sondern der bereits zu existieren aufgehört hat, noch aufs Heftigste nachzutreten.

Doch eben dies geschieht im "Superwahl"- und "Gedenkjahr" 2009 mit der DDR. So hat, wie Ralph Hartmann, der als Botschafter der DDR in den Jahren 1982 bis 1988 in der Bundesrepublik Jugoslawien und bis 1990 beim Zentralkomitee der SED als Leiter des Sektors Sozialistische Länder tätig war, unlängst anmerkte [1], die FDP in Mecklenburg-Vorpommern einstimmig zu behaupten beschlossen, die DDR sei ein "Unrechtsstaat" gewesen. In einer pluralistischen Demokratie sind politische Meinungsäußerungen ganz unabhängig von ihrer Stichhaltigkeit grundgesetzlich geschützt, so also auch diese These. Gleichwohl darf an dieser Stelle an eine Antwort der Bundesregierung erinnert werden, die auf eine Anfrage von Dr. Gesine Lötzsch vom 7. Oktober 2008 antwortete, daß es den Begriff "Unrechtsstaat" im Völkerrecht nicht gebe. In einem dazu vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages erstellten Gutachten wurde zu diesem Begriff ausgeführt [2]:

Eine wissenschaftlich haltbare Definition des Begriffs 'Unrechtsstaat' gibt es weder in der Rechtswissenschaft noch in den Sozial- und Geisteswissenschaften." [...] ... es (geht) zumeist darum, die politische Ordnung eines Staates, der als Unrechtsstaat gebrandmarkt wird, von einem rechtsstaatlich strukturiertem System abzugrenzen und moralisch zu diskreditieren.

Ein Blick in dieses Gutachten wäre für die FDP in Mecklenburg-Vorpommern gewiß aufschlußreich gewesen. Bei der Diskreditierung der DDR, die nach erfolgter Kriminalisierung führender DDR-Politiker, -Kundschafter und -Grenzsoldaten eigentlich als längst abgeschlossen gelten könnte, geht es jedoch um die Bereitstellung von Krisenbewältigungsinstrumenten in Hinsicht auf politische Oppositionsbewegungen, soziale Unruhen und mögliche Hungeraufstände der Zukunft. Dabei geht fraglos von der Idee des Sozialismus eine Infragestellung der herrschenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung aus, wozu insbesondere ältere ehemalige DDR-Bürger, die nach zwanzig Jahren Zugehörigkeit zur BRD auf der Basis ihrer Erfahrungen "am eigenen Leib" einen Systemvergleich anstellen können, durch ihre Erinnerungen - so sie denn öffentlich gemacht werden - beitragen könnten. Einer der ehemaligen DDR-Bürger, der sich nicht unbedingt die DDR zurück-, jedoch ganz eindeutig eine sozialistische Gesellschaft wünscht, ist Hans Fricke:

Ich bin heute mehr denn je davon überzeugt, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen wir jetzt und in absehbarer Zukunft zu leben haben, nicht der Weisheit letzter Schluß sind. Sie können und dürfen es um unser aller Zukunft willen nicht sein. Im Gegensatz zu den meisten Menschen in den alten Bundesländern und nicht wenigen in Ostdeutschland halte ich die Ausbeutung der Menschen durch die ökonomisch Mächtigen und eine Zwei-Drittel-Gesellschaft nicht für das Natürlichste der Welt, sondern für den Ausdruck der Entwürdigung von Menschen in einer von Besitzenden regierten Gesellschaft. (...)

Der Sozialismus, wie ihn Millionen Unterprivilegierte, Ausgebeutete und Unterdrückte herbeisehnen, ist nicht das, was wir unter Real-Sozialismus erlebt haben. Aber er wird kommen, wenn die Menschheit im dritten Jahrtausend weiterleben, den Hunger und das Elend bezwingen und dem Angriff elektronisch gesteuerter Machtmittel standhalten will. Dabei übersehe ich keineswegs, daß die Linken schweren Zeiten entgegengehen.
(S. 232)

Allem Anschein nach teilt die bundesrepublikanische Elite, wenngleich auf der Basis eines völlig konträren Standpunktes, die Einschätzung, daß mehr und mehr Menschen im Osten wie auch im Westen Deutschlands sich der Traditionen der fast schon für tot erklärten Linken bedienen und die System- wie Machtfrage neu stellen könnten. Um dem vorzubeugen bzw. eine juristische Handhabe zur Verfolgung unliebsamer Ideen und ihrer Träger zu schaffen, wurde bereits der Vorschlag unterbreitet, die "Leugnung des Unrechtscharakters der DDR unter Strafe" [1] zu stellen. Dorothee Bär, die Vize-Generalsekretärin der CDU, fordert, daß "in Zukunft nicht mehr ungeschoren davon kommen" dürfe, wer das "Unrecht von SED und Stasi" leugne. Ein Sturm der Entrüstung und offenen Ablehnung der damit vorgeschlagenen Aufhebung der grundgesetzlich angeblich geschützten Presse- und Meinungsfreiheit blieb bislang aus, und so steht auch die Äußerung der Thüringer Stasi-Beauftragten Hildegund Neubert, eine Bestrafung der "Leugnung des Unrechtscharakters der DDR" würde helfen, "dem Verbreiten totalitärer Gedanken entgegenzutreten", unkommentiert im Raum.

Diese über die Diskreditierung der DDR aus historisch-nachträglicher Sicht weit hinausgreifende Tendenz macht das Zeugnis des Hans Fricke "Davor - Dabei - Danach. Ein ehemaliger Kommandeur der Grenztruppen der DDR berichtet" gerade im sogenannten "Superwahl"- und "Gedenkjahr" 2009 nur umso wertvoller. Fricke repräsentiert, auch wenn dies nicht in das gängige westliche Klischee vom vermeintlich blinden Befehlsempfänger in einem zur Diktatur erklärten Staat paßt, eine kritische Intelligenz, die allerdings zu keinem Zeitpunkt in der Rückkehr zu kapitalistischen Verhältnissen eine Bewältigung ungelöster Probleme oder auch nur eine Verbesserung der Lage erwartet hätte. Die heutige politische Brisanz seines 1993 verfaßten Werkes, das nach Ansicht des Autors in einem engen politischen Zusammenhang zu seinem zweiten Buch, dem 2008 erschienenen Essay-Band "Politische Justiz, Sozialabbau, Sicherheitswahn & Krieg" [3] steht, liegt in der kritischen Haltung eines DDR-Bürgers, der im Ergebnis seiner inneren Zweifel den aktiven Dienst in den Grenztruppen quittierte, ohne sich auch nur im mindesten an der Diskreditierung der DDR zu beteiligen:

Ich leistete meinen Dienst, den auch ich über Jahre als Ehrendienst empfand, so lange, wie ich davon überzeugt war, er sei notwendig und richtig. Ich hatte keinen Zweifel daran, daß die zuverlässige Grenzsicherung der Erhaltung des Friedens und damit den Lebensinteressen der Bevölkerung der DDR diente. Als ich Ende der sechziger Jahre immer unsicherer wurde und Anfang der siebziger Jahre meine Zweifel zunahmen - ich kam mit vielem einfach nicht mehr zurecht - hatte ich darüber nachgedacht, daraus persönliche Konsequenzen zu ziehen, und sie 1975 schließlich auch gezogen.

Ich habe weder den Befehl gegeben, auf Flüchtlinge zu schießen, noch habe ich selbst auf jemanden geschossen. Aber ich habe jahrelang an verantwortlicher Stelle und in verantwortlicher Funktion Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten dazu erzogen, die Grenzen unseres Staates und die Befehle der militärischen Führung zu erfüllen. Meine Aufgaben waren die gleichen, wie sie für Offiziere und Kommandeure jeder Armee der Welt elementare militärische Pflicht sind.

Wir militärischen Vorgesetzten sahen unsere Aufgabe nicht darin, aus den uns anvertrauten jungen Menschen gewissenlose Totschläger zu machen, sondern Soldaten, die sich eng mit dem Volk verbunden fühlen, von der historischen Notwendigkeit, der Gerechtigkeit und dem Humanismus des Sozialismus überzeugt sind und auf der Grundlage damals geltender Gesetze und Dienstvorschriften handeln.
(S. 228)

Wenn das Bestreben, auf junge Soldaten so einzuwirken, daß sie sich "eng mit dem Volk verbunden fühlen" und vom "Humanismus des Sozialismus" überzeugt sind, Attribute eines "Unrechtsstaates" gewesen sein sollen, wie wäre demgegenüber dann ein "Rechtsstaat" zu definieren? Daß sich Begriffe wie Recht und Unrecht nicht anhand objektiver oder auch nur objektivierbarer Kriterien zuordnen lassen, sondern zu den politischen Instrumenten der jeweiligen Sieger gehören, die sich ausschließlich auf der Basis ihrer Überlegenheit in allgemeiner wie auch juristischer Hinsicht die Deutungshoheit sichern können, hat sich in den Jahren nach dem Erscheinen dieses von dem bislang einzigen ehemaligen Kommandeur der DDR-Grenztruppen verfaßten Berichts in den sogenannten Mauerschützen- und Politbüro-Prozessen erwiesen.

Unter Bruch des im bundesrepublikanischem Grundgesetz verankerten Rückwirkungsverbot wurden der letzte DDR-Staats- und Parteichef Egon Krenz sowie weitere ehemalige Politbüro-Mitglieder, aber auch einfache Grenzsoldaten, zu zum Teil langjährigen Haftstrafen verurteilt. Nachdem das gegen Krenz wegen Totschlag an DDR-Flüchtlingen verhängte Urteil in der BRD rechtskräftig geworden war, bestätigte im März 2001 auch der von Krenz angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese zum Zwecke der nachträglichen Delegitimierung der DDR gefällten politischen Aburteilungen. Die Straßburger Richter befanden, um zu rechtfertigen, daß in diesen Prozessen das Rückwirkungsverbot nicht greift, daß die DDR ein "Unrechtsstaat" gewesen sei mit einem Grenzregime, das kraß gegen das Recht auf Leben verstoßen habe. Selbstverständlich hat auch Hans Fricke, nicht ohne sein Bedauern über die Toten, die das im übrigen von den Warschauer-Pakt-Staaten bestimmte Grenzsicherungssystem sowohl unter den Flüchtlingen als auch unter den Grenzsoldaten gefordert hat, zum Ausdruck zu bringen, auf der Grundlage seiner aus langjähriger eigener Tätigkeit beruhenden Kenntnisse zum Schußwaffengebrauch an der Grenze, wie es richtigerweise heißen müßte, da es einen "Schießbefehl" nie gegeben hat, Stellung genommen:

Während meiner Dienstzeit im Stab der II. Grenzbrigade galten Schußwaffenbestimmungen, die Wachen, Posten und Streifen der Grenztruppen verpflichteten, nach Anruf und Warnschuß die Waffe gezielt einzusetzen, wenn keine andere Möglichkeit der Festnahme bestand.

Diese Bestimmungen waren Bestandteil des Vergatterungsbefehls der Vorgesetzten in der Grenzkompanie an die Posten vor jedem Dienst. Nicht geschossen werden durfte beispielsweise auf Luftziele, Diplomaten, auf Kinder und in Richtung BRD.

Von einem "Schießbefehl", der angeblich die Grenztruppen zur "rücksichtslosen Anwendung" der Schußwaffe verpflichtete - Anklagevertreter, Richter und Medien nehmen im Zusammenhang mit Prozessen gegen ehemalige Grenzsoldaten auf einen solchen ominiösen Befehl Bezug -, habe ich niemals Kenntnis erhalten. Noch nicht einmal im Prozeß gegen die DDR-Führung konnte ein solcher "Schießbefehl" vorgelegt werden. Deshalb aber aus der Gesamtheit der Grenzgesetze der DDR, der Dienst- und Ausbildungsvorschriften der Grenztruppen einen "Schießbefehl" zu konstruieren, ist wenig überzeugend. (...)

Seit dem 1. Mai 1982 galt das von der Volkskammer der DDR beschlossene Grenzgesetz. Nach Paragraph 27 war das Schießen an der Grenze "gerechtfertigt", um ein "Verbrechen" zu verhindern oder die "eines Verbrechens Verdächtigen" zu ergreifen. Dieses Grenzgesetz erlaubte Schüsse nicht bei schlichten Grenzdurchbruchsversuchen ohne qualifizierende Umstände. In solchen Fällen schrieb das Gesetz vor, das Leben von Menschen nach Möglichkeit zu schonen. Diese Bestimmungen galten bis zur Wende.

Im Gegensatz zu Richter Theodor Seidel im ersten Grenzerprozeß - er, dem die Verteidigung wegen seiner Mitarbeit in einer Fluchthelferorganisation Befangenheit vorwarf, hat das Grenzgesetz als nichtig gewertet - erkannte die Vorsitzende im vierten Grenzerprozeß, Ingeborg Tepperwiesen, ausdrücklich an, daß das Grenzgesetz nicht in einem solchen Widerspruch zu den fundamentalen Grundsätzen von Recht und Menschlichkeit gestanden habe, daß es deshalb unwirksam wäre. Die unter ihrem Vorsitz tagende 29. Berliner Große Strafkammer bestätigte, daß Schüsse an der Mauer weder DDR-Verfassung noch Völkerrecht oder Naturrecht, sondern im konkreten Fall nur ausgerechnet das DDR-Grenzgesetz brachen: danach sei nämlich Schußwaffeneinsatz als letztes Mittel zur Festnahme - also nur zur Verletzung, nicht zur Tötung eines Menschen - legitim gewesen.

Mit diesem aufsehenerregenden Urteil verhedderte der Rechtsstaat sich ein weiteres Mal in seinen eigenen Fallstricken. Mit einer solchen Urteilsbegründung hätte die Justiz sich selbst den juristischen Weg für den Prozeß gegen die ehemalige DDR-Führung verbaut.

So war es nicht verwunderlich, daß der Bundesgerichtshof in seinem Urteil zur Revision des zweiten Grenzerprozesses am 3. November 1992, also wenige Tage vor dem geplanten Prozeß gegen Erich Honecker und andere, nicht nur das Grenzgesetz der DDR für menschenrechtsunwürdig und damit strafbares Unrecht erklärte, sondern zugleich ausdrücklich einräumte, daß sich die Praxis in der DDR voll an diesem orientierte, hiesige Wertmaßstäbe der Gesetzeslage entsprächen.
(S. 196/197)

Es liegt auf der Hand, daß das Grenzsicherungssystem der DDR und dessen tödliche und dabei von allen, wie Fricke berichtete, Angehörigen und Offizieren der Grenztruppen bedauerten Konsequenzen nur aus Sicht derjenigen aus ihrem historischen wie weltpolitischen Kontext herausdefiniert werden können, die ihre eigene und keineswegs unmaßgebliche Beteiligung an diesem Frontabschnitt eines gar nicht so Kalten Krieges herausgestrichen sehen wollen. Fricke führt auch aus, daß genaugenommen von einer deutsch-deutschen Grenze gar nicht die Rede sein kann. In diesem wie auch weiteren Bereichen fand eine Systemauseinandersetzung zwischen der US-geführten kapitalistischen Welt und ihrem realsozialistischen Herausforderer unter der Vormachtstellung der Sowjetunion statt, und so ist eine geschichtliche Aufarbeitung des Grenzregimes, die etwas anderes sein will als eine Zurschaustellung der Position des Siegers, nicht möglich, ohne diese Zusammenhänge aufs Anschaulichste und Stringenteste zu beleuchten.

Eben dies hat Hans Fricke in seinem 1993 erstveröffentlichten und inzwischen in 2. Auflage erschienenen Bericht getan. Es ist kein flammender Appell und keine flammende Anklage, sondern eine, von dem unverbrüchlichen und ungewendeten politischen Standpunkt des Autors getragene nüchterne Darstellung und Analyse, deren stärkste Waffe in der Stringenz ihrer historisch höchst fundierten Argumentation liegt. Dies würde es voreingenommenen Lesern, die nicht bereit sind infragezustellen, was sie schon immer über die DDR gewußt zu haben glauben, erschweren, ihrer eingeschlagenen Linie treu zu bleiben, und so kann dieses Buch nur all jenen Interessierten wärmstens empfohlen werden, die nicht bereit sind, sich dem Meinungsdiktat einer Obrigkeit zu unterwerfen, die unlängst erst unter Beweis gestellt hat, wie sie mit ihren eigenen "Todesschützen" umgeht.

Nach Agenturmeldungen vom 20. Mai hat die zuständige Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) das Ermittlungsverfahren gegen einen Bundeswehrsoldaten, einen 28jährigen Feldjäger, der im afghanischen Kundus am 28. August 2008 bei einer Straßensperre mit einem Maschinengewehr auf ein herannahendes Auto schoß und dabei eine Frau und zwei Kinder tötete und vier weitere Menschen verletzte, eingestellt. Zur Begründung wurde angeführt, ein vorsätzliches Tötungsverbrechen sei nicht zu erkennen gewesen. Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) zeigte sich erleichtert, weil die Zeit der Unsicherheit für die Soldaten nun vorbei sei.

Da die DDR und eben nicht die BRD die Verliererin ist und die Sieger sich nun sogar anschicken, mit den Mitteln der Strafjustiz jedes positive Bekenntnis zur DDR oder zur als "totalitäres Denken" geschmähten Utopie des Sozialismus zu verfolgen, wird angesichts dieser Ermittlungseinstellung niemand laut die Frage aufwerfen, ob die Bundesrepublik aufgrund ihrer noch dazu für Menschen in einem fernen Land tödlichen Kriegseinsätze nicht als "Unrechtsstaat" zu bezeichnen wäre.

[1] Siehe in: "Supergedenken in der Krise", von Ralph Hartmann, in der Zweiwochenzeitschrift Ossietzky, Nr. 10, 16. Mai 2009, S. 369

[2] Zitiert aus: Verfehltes "Wahlkampfthema Nummer 1", von Hans Fricke, April 2009, veröffentlicht u.a. im Schattenblick unter im Pool POLITIK\FAKTEN unter INNEN/1588

[3] Im Schattenblick rezensiert unter BUCH\SACHBUCH unter REZENSION/456: Hans Fricke - Politische Justiz, Sozialabbau ... (SB)

22. Mai 2009


Hans Fricke
DAVOR - DABEI - DANACH
Ein ehemaliger Kommandeur der Grenztruppen der DDR berichtet
1. Auflage Dezember 1993
Verlag GNN, Gesellschaft für Nachrichtenerfassung und
Nachrichtenverbreitung,
Verlagsgesellschaft politische Berichte m.b.H., Köln
ISBN 3-926922-18-4