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REZENSION/402: Georges Corm - Missverständnis Orient (Politik) (SB)


Georges Corm


Missverständnis Orient

Die islamische Kultur und Europa



Im "Kampf der Kulturen" manifestiert sich eine Herrschaftsdoktrin, die Leben und Sterben in einer Welt schwindender Ressourcen jedes Verständnisses gesellschaftlicher und globaler Ausbeutungsverhältnisse entkleidet und zu einem Abwehrkampf der Zivilisation gegen die Horden der Barbarei umdefiniert. Bedurfte die Exekution der Macht seit jeher des Leims proklamierter eigener Überlegenheit im Innern und der Erniedrigung des äußeren Feindes, so kulminiert diese schärfste aller Waffen, deren Perfektion die Menschheitsgeschichte auszeichnet, in einem Entwurf, der die Entmenschlichung zum Untergang verdammter Völkerschaften unumkehrbar festzuschreiben sucht.

Als bezeichnendes Beispiel dieser Ideologie zitiert Alain Gresh in seinem Buch "Israel - Palästina. Die Hintergründe eines unendlichen Konflikts" eine Äußerung Moshe Katzavs: "Zwischen uns (den Juden) und unserem Feind tut sich ein ungeheurer Abgrund auf, nicht nur, was die Fähigkeiten anbelangt, sondern auch in Fragen der Moral, der Kultur, der Heiligkeit des Lebens und des Gewissens. Sie sind unsere Nachbarn, doch man hat den Eindruck, dass einige hundert Meter entfernt Leute leben, die nicht zu unserem Kontinent, unserer Welt gehören, sondern letztlich aus einer anderen Galaxie stammen." Diese Tirade provoziert Gresh zu der spöttischen Frage: "Sind das überhaupt Menschen, diese Palästinenser?"

Nicht umsonst kommt dem Nahostkonflikt eine zentrale Bedeutung in den Kriegen um die sogenannte neue Weltordnung zu, repräsentiert er doch die Bruchstelle zwischen dem jahrhundertealten Dominanzstreben des Abendlands und dem zum Anachronismus erklärten Orient: "Wir gehen in erster Linie für unser nationales Wohlergehen nach Palästina, dann aber auch, um alle Spuren der orientalischen Seele systematisch auszufegen", schrieb der 1940 verstorbene Ze'ev Jabotinsky, Wortführer der revisionistischen Bewegung, die als Vorläuferin der Likud-Partei gilt (zitiert nach dem englischsprachigen Buch des Journalisten Tom Segev: One Palestine, Complete, 2000).

Vor wenigen Tagen erst warnte der Privatsekretär des Papstes, Georg Gänswein, im Magazin der Süddeutschen Zeitung vor einer drohenden Islamisierung Europas: "Die damit verbundene Gefahr für die Identität Europas darf nicht aus falsch verstandener Rücksicht ignoriert werden." Der Privatsekretär verteidigte denn auch die Regensburger Rede seines Papstes, der damals über ein Zitat erklärte, im Islam könne man "nur Schlechtes und Inhumanes finden". Die Rede hält Gänswein für "prophetisch", nur hätten die Medien ein Zitat aus dem Zusammenhang gerissen.

Daß dies keineswegs marginale Positionen im Kontext der aktuellen Verengung des Denkens sind, unterstreicht die monumentale Symbolik des 11. September 2001, der längst als angeblicher Wendepunkt der Geschichte verinnerlicht worden ist. Die zusammenstürzenden Zwillingstürme des World Trade Center schienen vom Ende des Imperiums zu künden, das den Barbaren in die Hände fällt. Obgleich sich die USA und ihre Verbündeten anschicken, der Welt endgültig ihr Regime aufzuzwingen, lautet seither die alle kritischen Erwägungen verschlingende Botschaft, von Fanatismus und Haß erfüllte Gotteskrieger wollten Freiheit und Demokratie mit ihrem Terror überziehen.

An der Brust der USA genährte Zöglinge wie Osama bin Laden und die Taliban avancierten vor der Kulisse der großen Scharade namens "Untergang des Abendlands" zu Speerspitzen einer als fortschrittsresistent diffamierten islamischen Kultur, die in zunehmendem Maße ihre Erfüllung darin sehe, blindwütig und selbstmörderisch die zivilen Zentren westlicher Errungenschaften zu erschüttern. Weit davon entfernt, von religiösen Dogmen zu befreien, erfüllt sich so die Philosophie der Aufklärung in der Beschleunigung abendländischer Durchdringung der Welt mit waffenstarrender und hochtechnologischer Gewalt, um zuletzt das Primat ihres Überlebens zu Lasten der "Zurückgebliebenen" in metaphysischer Vollendung mit einem gottgleichen Erbe der jüdisch-christlichen Kultur zu begründen.

Georges Corm, ein Ökonom und ehemaliger Finanzminister des Libanon, der zahlreiche Bücher in französischer und arabischer Sprache über den Libanon, die arabische Welt und Fragen der Entwicklungszusammenarbeit veröffentlicht hat, hält der westlichen Welt den Spiegel ihrer eigenen Kulturgeschichte, Philosophie und politischen Entwicklung vor. Nichts verstehe der Westen so gut, wie sich selbst heiligzusprechen, faßt Corm seine Kritik zusammen. Der Westen setze sich nach eigenem tiefverwurzelten Selbstverständnis mit der Vernunft, ja mit Gott gleich, auch wenn er von ihm abgefallen sei. Er meine, aller Welt Lehren erteilen zu dürfen und zu müssen. Er sei entzaubert, und doch feiere er die Wiederkunft Gottes.

Es zeichnet die kulturgeschichtliche Analyse des Autors aus, daß er sich nicht unter umgekehrtem Vorzeichen in derselben Denkfalle verrennt und etwa eine Überlegenheit der islamischen Kultur postuliert. Vielmehr weist er das Ringen der monotheistischen Weltreligionen als geradezu zwangsläufigen Machtkampf dreier Geschwister aus, die jeweils den Anspruch auf uneingeschränkte und umfassende Alleingültigkeit erheben. So erinnert er an die Greuel der Judenverfolgung und schildert dann, wie es in jüngerer Zeit zum Bündnis der jüdischen und christlichen Kultur gegen den Islam kam. Er beschreibt die bemerkenswerte Toleranz, die der Islam in den Jahrhunderten seiner Blüte vielerorts gegenüber anderen Glaubensüberzeugungen aufbrachte, verschweigt aber auch nicht die despotischen Regimes, die in der Moderne die meisten überwiegend islamischen Länder regieren.

Ein exemplarischer Blick auf ausgewählte historische Epochen und Ereignisse wie auch die Präsentation der aus Sicht des Autors einflußreichsten philosophischen und soziologischen Ansätze beleuchtet insbesondere Gründe und Mechanismen der letztendlich so überwältigenden Durchsetzungsfähigkeit der christlich-abendländischen Kultur. Interessant ist in diesem Zusammenhang beispielsweise, daß der Islam so gut wie nie einen Klerus hervorgebracht hat, der mit dem der christlichen Kirchen des Abendlands vergleichbar wäre, wo kirchliche und weltliche Macht jahrhundertelang aufs engste verschränkt und nicht selten sogar austauschbar waren.

Auch kommt die koloniale, hegemoniale und imperiale Expansion der europäischen Mächte und zuletzt der USA zur Sprache, die jenen Staaten, die heute mit der islamischen Welt identifiziert werden, politische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse aufzwang. Was nun aus Sicht des Okzidents als Rückständigkeit des Orients verachtet wird, ist in erheblichen Teilen das Resultat eben dieser Ausplünderung und Zurichtung.

Georges Corm trägt die These überzeugend durch, daß sich die trügerische Laizität der westlichen Kultur in Wirklichkeit nie von ihren biblischen Archetypen wie Prophetentum, Auserwähltheitsglaube und Heilstheologie gelöst hat und damit der inneren Funktionsweise des Monotheismus verhaftet bleibt. Bei aller vordergründigen Profanisierung werde die Geschichte doch biblisch interpretiert, indem der optimistische Glaube an ihre Rationalität darauf gründet, daß der christlich-jüdische Westen mit seinen Eroberungen in allen Bereichen den Weg weist.

Der Bruch zwischen Orient und Okzident beschreibt demnach weniger die Wirklichkeit, als daß er eine Identität inszeniert, welche die westliche Kultur um ihres eigenen Vorteils willen erfunden und in den letzten Jahrhunderten vorexerziert hat. Im Konflikt zwischen Ost und West erhalten geopolitische Gegensätze und profane Machtinteressen die höhere Weihe einer mythologischen Grenze zwischen Ariern und Semiten, die je nach Bedarf und Kontext rassistisch, zivilisatorisch oder politisch definiert und festgeschrieben wird.

Wie der Autor warnt, kenne der narzistische Diskurs des Westens über sich selbst seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine Grenzen mehr. So werde der kritische Diskurs, der einst seine Stärke gewesen sei, zunehmend marginalisiert. Der europäischen Kultur sei es gelungen, die Welt zu verwestlichen, und diese Herrschaft nehme imperiale Formen an, die von einem messianischen Streben begleitet würden, das jede Art der Kritik aus der Welt zu schaffen trachte. Sollte diese Marginalisierung des kritischen Denkens weiter fortschreiten und gar in dessen Auslöschung münden, wäre dies für die gesamte Menschheit eine Katastrophe.

Es macht die Stärke dieses Buches aus, die tief im abendländischen Denken verwurzelte Ideologie der eigenen kulturellen Überlegenheit und die daraus abgeleitete Verkennung und Verleumdung des islamischen Kulturkreises an seinen eigenen Postulaten zu messen und in Frage zu stellen. Der Autor nimmt die Überzeugung des Westens ernst, den säkularisierten, aufgeklärten und vernünftigen Teil der Welt zu repräsentieren, und weist die Widersprüche und Brüche dieses Anspruchs nach. So kommt es in diesem Essay nicht zum leidigen Streit um die Wahrheit, bei dem zwei konkurrierende Weltbilder und Glaubenssysteme einander in die Parade fahren, sondern zu einer Fülle kritischer Fragen an jene Seite in diesem Konflikt, die nicht nur die stärkeren Waffen besitzt, sondern auch unabweisliche Gründe für sich in Anspruch nimmt, sie gegen die schwächere Partei einzusetzen.

30. Juli 2007


Georges Corm
Missverständnis Orient
Die islamische Kultur und Europa
Rotpunktverlag, Zürich 2004
180 Seiten
ISBN 3-85869-281-6