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REZENSION/372: Choe u.a. (Hrsg.) - Korea: Entfremdung und Annäherung (SB)


Choe Hyondok, Lutz Drescher & Rainer Werning (Hrsg.)


Korea

Entfremdung und Annäherung



Von Korea, das wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt wurde, jedoch nach der Auflösung der Sowjetunion geteilt geblieben ist, weiß man hier in Europa nicht allzuviel. Der Koreakrieg, der von 1950 bis 1953 tobte und Millionen von Menschen, darunter Abertausende chinesischer und amerikanischer Soldaten, das Leben kostete, scheint fast völlig in Vergessenheit geraten zu sein und das ungeachtet der Tatsache, daß dieser Konflikt bis heute nicht offiziell beendet worden ist. Auf der koreanischen Halbinsel herrscht lediglich ein Waffenstillstand. Am 38. Breitengrad, der vier Kilometer breiten, sogenannten Demilitarisierten Zone (DMZ), der angeblich gefährlichsten Grenze der Welt, steht das Millionenheer Nordkoreas den hochgerüsteten Streitkräften Südkoreas und der USA gegenüber.

Warum es nach dem Fall der Berliner Mauer zu keiner "Wende" in Pjöngjang und keiner Wiedervereinigung der beiden Koreas gekommen ist und was die Ursprünge des derzeitigen Atomstreits des Nordens mit den Vereinigten Staaten von Amerika sind, erklären die Autoren des Buchs "Korea - Entfremdung und Annäherung", und zwar erfrischenderweise aus der Sicht der Menschen auf der koreanischen Halbinsel. Diese ungewöhnliche, aufschlußreiche Sicht der geopolitischen Lage in Nordostasien haben wir dem Kölner PapyRossa Verlag zu verdanken, der die 14 Vorträge zusammengefaßt hat, die Ende 2005 in der Evangelischen Akademie Schwanenwerder anläßlich des 15. Jahrestages der deutschen Wiedervereinigung auf der Tagung "Entfremdung und Annäherung - Korea auf dem Weg zur Einheit" gehalten wurden. Veranstalter der Tagung waren damals die Deutsche Ostasienmission (DOAM), das Evangelische Missionswerk in Süddeutschland (EMS), das Berliner Missionswerk, der Korea-Verband e. V. und das Missionswissenschaftliche Institut, Missio, Aachen.

Für das auffallend große Interesse der evangelischen Kirche an koreanischen Angelegenheiten gibt es einen einfachen Grund. Zusammen mit vielen anderen interessanten Details im vorliegenden Buch erfährt man im Beitrag "Viele kleine Schritte: Zur Rolle der protestantischen Kirche auf dem Weg zur Vereinigung" vom Mitherausgeber Lutz Drescher, der von 1987 bis 1995 in Seoul als ökomenischer Mitarbeiter der Presbyterian Church in the Republic of Korea gearbeitet hat, daß Südkorea das Land in Asien mit dem höchsten Anteil, rund 20 Prozent der Bevölkerung, an evangelischen Christen ist. Gemeinsam mit den Buddhisten hat sich 1919 die christliche Minderheit in Korea offen gegen die Kolonialherrschaft Japans aufgelehnt und die Unabhängigkeitserklärung mitunterzeichnet. Zwar gehört laut Drescher jenes Ereignis nach wie vor "zur Identität protestantischer Christen" in Südkorea, doch ist ihre Gemeinde derzeit ebenso wie die restliche Gesellschaft tief gespalten zwischen denen, welche die Versöhnungspolitik des früheren Präsidenten Kim Dae-Jung und dessen Nachfolgers Roh Moo-Hyun befürworten, und denen, die den aggressiven Kurs der Regierung von US-Präsident George W. Bush gegenüber dem kommunistischen Nordkorea gutheißen.

Der wesentliche Unterschied zwischen den Einigungsprozessen in Deutschland und Korea besteht darin, daß im Gegensatz zu Mitteleuropa, wo sich nach dem Fall der Mauer 1989 praktisch nur noch die USA und die Sowjetunion, sprich Rußland, über die neue Sicherheitsarchitektur einigen mußten, in Nordostasien die Interessen nicht zweier, sondern vierer Großmächte, die der beiden bereits genannten plus der Chinas und Japans, berücksichtigt werden müssen. Wie der Mitherausgeber Rainer Werning in seinem Beitrag "'Sonnenscheinpolitik' in Bombenstimmung" hervorhebt, wären Pjöngjang und Seoul im bilateralen Annäherungsprozeß erheblich weiter, würden die anderen "Protagonisten in der Region" nicht ihre Interessen auf der Halbinsel hegen und die Versöhnung zwischen Nord und Süd konterkarieren. Hierzu zählen der Bedarf der japanischen Rechten an der nordkoreanischen "Bedrohung" zwecks Remilitarisierung Nippons sowie das Spannungsverhältnis zwischen der Noch-Supermacht USA und ihrem aufstrebenden Rivalen China.

Im Falle einer Wiedervereinigung Koreas droht den USA eventuell ein erzwungener Abzug ihrer Streitkräfte aus Südkorea und der Verlust ihrer wenigen Stützpunkte auf dem ostasiatischen Festland - ein Alptraumzenario für sämtliche im Pentagon und in diversen Washingtoner Denkfabriken sitzenden Verfechter weltweiter, amerikanischer "Power Projection". Eine endgültige Friedensregelung auf der koreanischen Insel kommt zudem der Regierung in Peking, der Schutzmacht Nordkoreas, vermutlich solange nicht gelegen, wie nicht die Gefahr einer Unabhängigkeit Taiwans endgültig gebannt und die Einheit Chinas noch in Frage gestellt wird. Washington und Tokio, die beide ihren langjährigen Einfluß in Taipeh nicht verlieren wollen, unterstützen ihrerseits mal offen, mal verdeckt die Unabhängkeitsbestrebungen auf der Insel, um den Aufstieg der Volksrepublik zur asiatisch-pazifischen Seemacht zu blockieren. Angesichts so verzwickter Konstellationen wird klar, warum der Weg zur Wiedervereinigung Koreas lang und beschwerlich bleiben wird.

Unter Berücksichtigung der komplizierten Beziehungen der beiden Koreas zu den imperialistisch agierenden Nachbarn China, Japan, Rußland und den USA bieten die Autoren des vorliegenden Buchs einen seltenen, und daher zu begrüßenden Einblick in die Geschichte, die Kultur und die ökonomischen Verhältnisse auf der koreanischen Halbinsel. Man erfährt dabei allerlei, was einem bis dahin möglicherweise wenig bekannt war, wie beispielsweise von der früheren Stärke der nordkoreanischen Schwerindustrie, vom großen Einfluß der chinesischen Schriftsprache auf das koreanische Alphabet oder von früheren Annäherungsversuchen zwischen Seoul und Pjöngjang, die Anfang der siebziger Jahren der Ping-Pong-Diplomatie Maos und Richard Nixons zum Opfer fielen.

En Detail wird die Juche-Philosophie Nordkoreas, welche die Eigenständigkeit des Landes zum höchsten Prinzip erhebt, erklärt, wie auch die zaghaften Bemühungen Pjöngjangs Richtung Wirtschaftsreform und -Öffnung geschildert werden. Offenbar versuchen die Nordkoreaner in den letzten Jahren ihre Wirtschaft an die Globalisierung anzupassen, ohne dabei die politischen Verhältnisse im Lande zu verändern. Es sind mit unterschiedlichem Erfolg Ansätze aus China und Südkorea übernommen und angewandt worden. Im Zuge der "Sonnenscheinpolitik" Seouls haben viele südkoreanische Unternehmen Produktionsstätten im Gaesong Industrial Complex (GIC) auf der nördlichen Seit der DMZ aufgebaut. Inzwischen drängen chinesische, japanische und russische Wirtschaftsinteressen auf Integrierung der gesamten koreanischen Halbinsel in die regionale Infrastruktur und den Ausbau eines entsprechenden Straßen- und Schienennetzes wie auch von Trassen für den Öl- und Gastransport aus Zentralasien. Doch wie Prof. Dr. Kim Yeon-Chul, der ehemalige Politikberater des südkoreanischen Ministers für Wiedervereinigung, in seinem Beitrag "Wirtschaftspolitik in Süd- und Nordkorea - von der Konfrontation zur Kooperation" treffend feststellt:

Die weitere Öffnung Nordkoreas setzt aber die Verbesserung des internationalen Klimas voraus. Ohne eine Lösung der Nuklearproblematik wird seine Öffnung begrenzt bleiben.
(S. 101)

Auch wenn die sogenannten Sechser-Gespräche zwischen den Vertretern der beiden Koreas, Chinas, Japans, Rußlands und der USA demnächst in Peking wieder aufgenommen werden, ist eine Beilegung des Streits zwischen den Hauptkontrahenten Pjöngjang und Washington noch lange nicht in Sicht. Als sich die Nordkoreaner bei der letzten Gesprächsrunde im September 2005 zum Verzicht auf ihr Atomwaffenprogramm und zum Wiederbeitritt zum Nicht-Verbreitungsabkommen prinzipiell bereiterklärten, erwiderte Washington dieses Zugeständnis mit der Verhängung von Sanktionen gegen die Banco Delta Asia (BDA) in Macao, über die Pjöngjang einen Großteil seines ohnehin nicht besonders umfangreichen, dafür umso lebenswichtigeren Außenhandels betreibt.

Das Finanzministerium in Washington wirft bekanntlich Nordkorea vor, im großen Stil gefälschte US-Dollar-Noten in Umlauf zu bringen. Weniger bekannt ist die Tatsache, daß die US-Behörden für diesen schweren Vorwurf bis heute keinen einzigen stichhaltigen Beweis vorgelegt haben. Kein Wunder also, daß die Nordkoreaner die Geduld mit den Drohgebärden und Dauerprovokationen der Bush-Regierung verloren haben und ihrerseits am 9. Oktober 2006 einen ersten Atombombentest durchführten. Zwar wird dieses gefährliche Ereignis im Buch nicht behandelt, da besagte Tagung zeitlich davor liegt, dennoch kann man sich anhand von "Korea - Entfremdung und Annäherung" ein gutes Bild davon machen, wie es dazu kommen konnte und wie eine friedliche Entwicklung auf der koreanischen Halbinsel aussehen könnte.

6. Februar 2007


Choe Hyondok, Lutz Drescher u. Rainer Werning (Hrsg.)
Korea
Entfremdung und Annäherung
PapyRossa Verlag, Köln, 2007
164 Seiten, 16,00 Euro
ISBN: 978-3-89438-359-6