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REZENSION/331: Kritische Geographie (Hg.) - Geopolitik (SB)


Kritische Geographie (Hg.)


Geopolitik

Zur Ideologiekritik politischer Raumkonzepte



Der Begriff Geopolitik taucht heute in zahlreichen politischen Publikationen als vermeintlich allgültige Erklärung für weltpolitische Vorgänge auf. Es hat den Anschein, als sei er, gut ein Jahrhundert nach seiner Einführung und eineinhalb Dekaden nach dem Ende des großen geopolitischen Ost-West-Konflikts, mehr denn je in Mode. Wenn die Regierung George W. Bushs von einer "Achse des Bösen" spricht, wenn Bundeswehrsoldaten in den Kongo entsandt werden, wenn chinesische Politiker sich bei afrikanischen Regierungen die Klinke in die Hand geben, wenn die Shanghai Cooperation Organisation (SCO), die als Gegengewicht zum Hegemoniestreben Washingtons in Zentralasien gegründet wurde, Iran zu ihrer Sitzung einlädt oder wenn in Lateinamerika, dem "Hinterhof" der USA, sich eine Reihe von Staaten dem Einfluß der Vereinigten Staaten zu entziehen beginnt, dann spielen bei all diesen Vorgängen geopolitische Aspekte hinein. Womit allerdings nicht behauptet werden soll, daß in den genannten Beispielen allein die ursprünglich einmal mit Geopolitik intendierten Absichten zum Tragen kämen. Deshalb ist es für alle Politikinteressierte nützlich, mehr über den ideologischen Ursprung der geopolitischen Ideen und Konzepte zu erfahren. Einen gelungenen Einstieg in diesen Themenkomplex bietet die vorliegende Aufsatzsammlung "Geopolitik - Zur Ideologiekritik politischer Raumkonzepte" aus dem ProMedia Verlag in Wien.

Im seinem einleitenden Kapitel hat der Geographieprofessor Gearóid O'Tuathail von der Virginia Tech, USA, die wichtigsten historischen Wurzeln der Geopolitik zusammengefaßt. Er schreibt, daß diese Denkrichtung "in den Hauptstädten rivalisierender Kolonialmächte des späten 19. Jahrhundert" (S. 9) entstand, einer Zeit, die geprägt gewesen sei von "imperialer Expansion und territorialer Erweiterung" der Kolonialmächte. Damals sei auch die Geographie als Wissenschaft entstanden. In knappen, aber inhaltlich kompakten Sätzen faßt O'Tuathail diese Entwicklung wie folgt zusammen:

An den Bildungseinrichtungen der Großmächte entwickelte sich in diesem Kontext eine Schicht von organischen Intellektuellen des Kolonialismus, die sich auf praktischer und theoretischer Ebene explizit mit dem Einfluss der Geographie auf die soziale Evolution der Staaten und mit der Formulierung von Außenpolitik beschäftigten. Intellektuelle wie Alfred Mahan und Nicholas Spykman in den Vereinigten Staaten, Friedrich Ratzel und Karl Haushofer in Deutschland, Rudolf Kjellén in Schweden und Halford Mackinder in Großbritannien kodifizierten eine bestimmte Sichtweise internationaler Politik, die dann später im Kontext des Zweiten Weltkriegs erstmals als 'geopolitische Tradition' bezeichnet wurde.
(S. 9)

Trotz unterschiedlicher nationaler Herkunft und Kultur hätten die Geopolitiker gemeinsame politische Leit- und Weltbilder entwickelt: Erstens seien sie Imperialisten gewesen und hätten die Überlegenheit ihrer Nation, einschließlich des national organisierten Kapitalismus, gegenüber allen anderen vorausgesetzt. Zweitens unterstellten sie eine Suprematie der weißen Rasse, was durch ihren Neo-Lamarckismus, der heute als Sozialdarwinismus Blüten treibe, noch verstärkt worden sei. Die Neo-Lamarckianer hätten im Evolutionsprozeß ein "absichtsvolles Design" vermutet und somit ihren Überlegenheitsanspruch aus der Umgebung, der vermeintlichen Natürlichkeit heraus zu begründen versucht.

Als drittes gemeinsames Charakteristikum der Geopolitiker nennt der Autor den Realitätsbegriff des kartesianischen Perspektivismus. In dieser Weltanschauung werde von einer Trennung zwischen dem Selbst, also der Innenwelt, und einem Draußen, dem Außenraum ausgegangen. Daraus habe sich die "Privilegierung des Gesichtssinns" ergeben, wodurch in der Konsequenz eine "Unterordnung von Geschichte gegenüber Raum" bevorzugt und "die Verräumlichung der wahrgenommenen Phänomene an Stelle ihrer historischen Einordnung" (S. 11) gefördert worden sei.

Bekanntlich war für die Nationalsozialisten in Deutschland, die geopolitischen Denkweisen anhingen, die Eroberung von Lebens-Raum eine wesentliche Triebkraft. Heute ist zwar der Begriff Lebensraum aus dem politischen Diskurs verschwunden, nicht aber die mit ihm verbundene Ideologie. Heute wäre unter Lebensraum sehr viel mehr zu verstehen als die territoriale Eroberung russischer Kartoffelacker oder kaspischer Ölfördergebiete durch die deutsche Wehrmacht. Übertragen auf die heutige globalisierte Welt müßte das Lebensraum-Konzept auch auf Dinge wie Einfluß auf Entscheidungen der Weltinstitutionen oder auf die Regeln des Internets, die Nutzung von Funkfrequenzen, die Sicherung und Durchsetzung von Patentrechten oder allgemein die Fähigkeit, eigene kulturelle, wissenschaftliche, wirtschaftliche und politische Werte sowie Rechtsnormen in anderen Regionen zu implementieren, angewendet werden.

Wie aktuell die Lebensraumfrage ist, zeigt die Erklärung des früheren Bundesverteidigungsministers Peter Struck, dem zufolge Deutschland am Hindukusch verteidigt wird, oder auch das außenpolitische Konzept der US-Regierung, bestimmte Weltregionen als "von besonderem strategischen Interesse" zu definieren. Solche geopolitischen Denkweisen haben selbstverständlich konkrete Konsequenzen: Es sind ja nicht die Soldaten der Hindukusch-Völker in Deutschland einmarschiert, sondern es sind westliche Mächte, die Afghanistan überfallen und unter sich aufgeteilt haben, und es sind auch keine kasachischen, arabischen oder westafrikanischen Marinesoldaten, die den reibungslosen Betrieb von Erdölterminals ihrer Geschäftspartner in den USA sicherstellen, sondern umgekehrt US-Militärs, die Stützpunkte auf der arabischen Halbinsel unterhalten, Manöver in zentralasiatischen Ländern durchführen und mit Kriegsschiffen bei ihren Zulieferern im erdölreichen Golf von Guinea Patrouille fahren.

Im zweiten Aufsatz der Sammlung befaßt sich der Berliner Geographieprofessor Hans-Dietrich Schultz mit "Geopolitik in der deutschsprachigen Geographie", wobei er eine Fülle von historischen Beispielen aufführt, wie aus einer bestimmten Betrachtung der Erdoberfläche tatsächliche oder potentielle Besitzansprüche abgeleitet wurden und werden. Schultz zeigt auf, daß eine geographische Disziplin wie die Länderkunde oder kategorische Bezeichnungen wie "Kontinent", "Land" und "Volk" keineswegs wertfrei sind, sondern das Verfügungsinteresse derer widerspiegeln, die sich ihrer bedienen. In Deutschland hatte das eine vernichtende Konsequenz für jene Menschen, die auf der Grundlage solcher vermeintlich schlüssig aus der Natur abgeleiteten Vorstellungen ausgegrenzt wurden.

Heute trifft man auf die Folgen eben dieser Kategorisierungen bei der Abwehr von Flüchtlingen, die von einem anderen "Kontinent" stammen und deshalb nicht in die Europäische Union dürfen. Wie würde die deutsche Öffentlichkeit reagieren, wenn regelmäßig in großer Zahl Leichen von Deutschen an den Nordseestrand geschwemmt würden? Das würde wohl kaum ignoriert werden. Zu einem solchen Szenario kommt es tatsächlich, nur daß es "Afrikaner" sind, die Jahr für Jahr nach ihrem vergeblichen Versuch, der Not in ihrer Heimat zu entkommen, tot an spanischen Stränden aufgefunden werden.

In der Ausgrenzung liegt eine wesentliche Funktion von Bezeichnungen wie "Europa" oder "Afrika". Eine andere liegt umgekehrt in der unterstellten Zusammengehörigkeit der "Europäer", "Afrikaner" oder "Deutschen". Wer solchen Unterscheidungsbegriffen auf den Leim geht, umschifft die Frage, ob nicht die ausgegrenzten Menschen innerhalb der Bundesrepublik mehr Gemeinsamkeiten mit den ausgegrenzten Flüchtlingen aus Afrika haben als mit den Privilegierten in Deutschland, den Profiteuren dieser Grenzordnung.

Der breit angelegte Themenbogen des 240 Seiten umfassenden Buchs spannt sich über Aufsätze wie "Bündnis- und Allianzpolitik der Großmächte und die Rolle der UNO in der Zeit des Kalten Kriegs" (Thomas Pankratz) über die Erörterung des Nationenbegriffs durch den französischen Geographen Yves Lacoste bis zu "Großraumkonzepte an den Peripherien des Weltsystems" (Wolfgang Dietrich) und den Gebrauchswert von "Kulturräumen" (Georg Stöber und Hermann Kreutzmann). Der Afrika-Experte Henning Melber zeigt am Beispiel Namibias die koloniale Aufteilung des schwarzen Kontinents sowie die Entstehung eines Staates als Folge von Geopolitik auf. Mit Afrika und seiner kolonialen Eroberung beschäftigt sich auch der Historiker und Politologe Dierk Walter, wobei er sein Thema in eine übergreifende Erörterung unter dem Titel "Imperialistische Großraumkonzepte? Anmerkungen zu einem eingängigen Bild" einbettet.

Die Warnung des französischen Geographen Yves Lacoste, der in seinem Aufsatz "Es lebe die Nation! Wozu?" für eine definitorische Besetzung des Begriffs der Nation plädiert, vor einem Erstarken der rechtsgerichteten Partei Front National (FN) erwies sich als prognostisch weitgehend treffsicher. Mit nur leichter Modifikation ist genau das eingetreten, was er über die wahrscheinlichen Konsequenzen einer ausländerfeindlichen Politik seitens der französischen Regierung schrieb:

Der Beginn der Realisierung der allgemeinen Rückführungspolitik einer FN-Regierung kann, abgesehen von der Verurteilung durch den 'Conseil constitutionnel' und die europäischen Institutionen, zu massiven Demonstrationen, zu Aufruhr und zu wahren Aufständen in jenen Vierteln führen, in denen Moslems konzentriert sind. Die Exekutive, bei denen die Ansichten der FN stark verbreitet sind, könnte sehr heftig reagieren, was neue gewaltsame Reaktionen mit sich bringen würde. Die Situation kann noch dramatischer werden, wenn blutige Attentate dazukommen, die von der einen oder anderen Seite mit gegenseitigen Beschuldigungen geschürt wurden. Krisennotstand und sogar Kriegsrecht könnten ausgerufen werden, die einher gehen mit dem Verbot gewisser Bewegungen und dem Aussetzen von demokratischen Freiheiten.
(S. 149)

Erinnert diese Vorhersage nicht frappant an die wochenlangen Aufstände mit vielen hundert brennenden Autos in den französischen Großstädten und die hilflos-brutale Reaktion der Staatsmacht darauf? Heute weiß man, daß die FN nicht so erstarkt ist, wie von Lacoste befürchtet, dafür haben aber die anderen Parteien, insbesondere die Konservativen, einen kräftigen Rechtsschwenk vollzogen.

In einem weiteren Aufsatz bemüht sich Geographieprofessor O'Tuathail um die Einführung in eine "kritische Geopolitik", mit der die dominanten geopolitischen Diskurse der Postmoderne dekonstruiert und die Machtverhältnisse hinterfragt werden sollen (S. 120). Sein Aufsatz, noch im vorigen Jahrzehnt geschrieben, verdeutlicht, daß die Anschläge vom 11. September 2001 in den USA keineswegs jene historische Zäsur waren, als die sie häufig dargestellt werden. Bereits unter Bill Clinton wurden Entwicklungen eingeleitet, an die sein Nachfolger George W. Bush mit dem weltweit ausgerufenen Antiterrorkrieg anknüpfen konnte. Gegenüber der heutigen Zeit wirken die neunziger Jahre manchmal wie eine Phase der Freiheit, doch schon damals warnte O'Tuathail vor der Sichtweise der Clinton-Regierung, in der von "Schurkenstaaten und nuklearen Banditen" gesprochen wurde, und er fordert:

Ein kritischer postmoderner Ansatz zu einer neuen geopolitischen Debatte und Praxis tut Not. Dies muss ein Ansatz sein, der eine Beschreibung für die gegenwärtige Situation bietet, ohne diese zu objektivieren, und der gleichzeitig die Machtbeziehungen in Frage stellt, die in geopolitischen Diskursen fortbestehen. Als ein nicht abgeschlossenes Problem betreffend Nationalstaaten, staatlichem internationalen Handeln und außenpolitischer Sicherheit ist Geopolitik auch im nächsten Jahrtausend ein viel zu wichtiges Problem, als dass man es unkritischen Geopolitikern überlassen könnte.
(S. 140)

Von einer Aufsatzsammlung, die unter dem Titel "Geopolitik" firmiert, ist selbstverständlich nichts anderes zu erwarten, als daß dieser Begriff ganz und gar in den Mittelpunkt der Debatte gestellt wird. Dazu hätte allerdings auch gehören können, daß sich die Autorinnen und Autoren mit der Frage befassen, was "Geopolitik" nicht beschreibt, bzw. was durch diesen Begriff sogar verschleiert wird. Mit der Erklärung, ein Staat verfolge geopolitische Interessen, werden längst eingetretene und damit unabänderliche Entwicklungen nachträglich beschrieben und die Motive des Handelns auf die territoriale Eroberung reduziert. Doch ausgerechnet das mit Geopolitik assoziierte Expansive, Ausufernde und Grenzüberschreitende erweitert nicht den Blick, sondern beschränkt ihn. Nicht erst in der heutigen, noch- unipolaren Welt mit der Führungsmacht USA meint Außenpolitik in erster Linie Innenpolitik.

Der Begriff Geopolitik wird von beiden Seiten des politischen Spektrums verwendet. Von Rechtskonservativen wird er positiv affirmiert, von Linken abgelehnt. Der kritische Umgang mit diesem vorbelasteten Begriff führt letztere zwar auf eine Spur, der zu folgen sich lohnt, um aktuelle weltpolitische Entwicklungen genauer einschätzen zu können - so erinnert Ratzels Verklärung des Kampfs der unterschiedlichen Kulturen um Lebensraum als Motor für Fortschritt und Wandel an Samuel Huntingtons Behauptung der Unabwendbarkeit des Kampfs des christlichen Abendlands gegen die islamische Welt -, aber Geopolitik führt dann geradewegs in eine Sackgasse, wenn sie zum Universalschlüssel für sämtliches weltpolitisches Geschehen erhoben wird.

Bereits zu der Zeit, als der Begriff Geopolitik aufkam und später deutsche Panzer von ihm ideologisch angetrieben gen Osten rasselten, um den vermeintlich "Auserwählten" des "Dritten Reichs" ihren phantasierten naturgesetzlich zustehenden Lebensraum zu sichern, wurde mit Geopolitik in letzter Konsequenz nicht Außen-, sondern Innenpolitik betrieben. Denn ein Raum an sich kann nicht eingenommen und beherrscht werden, aber die Menschen, denen die Nutzung dieses Raums vorenthalten oder zugestanden wird, können es. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Am 1. Mai 2003 verkündete US-Präsident George W. Bush, der eigens mit einem Militärjet auf dem Flugzeugträger USS Abraham Lincoln gelandet war, das Ende des Irakkriegs. Er dachte offenbar, mit der Eroberung des Territoriums namens Irak auch die dort lebenden Menschen unterworfen zu haben. Ein folgenschwerer Irrtum, wie sich herausgestellt hat.

Wenn O'Tuathail und andere Geographen, die einen "kritischen" Standpunkt für sich reklamieren, erklären, daß sie die Debatte um Geopolitik nicht jenen überlassen wollen, die einen positivistischen Umgang mit dem Begriff und seiner Bedeutung pflegen, so betreten sie damit von vornherein ein Feld der Auseinandersetzung, das von jenen Interessen bestellt wird, deren Hegemonieanspruch sie zu hinterfragen angetreten sind. Kann "kritische Geographie" etwas anderes hervorbringen als eine Reform dieser Disziplin und folglich die höhere Ordnung des gleichen Systems? Kann der Versuch, die Definitionshoheit über den Begriff Geopolitik zu besetzen, auf etwas anderes hinauslaufen als auf die qualifiziertere Verschleierung dessen, daß Menschen nicht den Raum, sondern immer nur andere Menschen beherrschen?

Dennoch, eben weil die Autorinnen und Autoren mit ihren Ausführungen zur Vergangenheit und Zukunft der hiesigen privilegierten Gesellschaft an Fragen der globalen Einflußnahme rühren, die viel zu selten gestellt werden, ist das vorliegende Buch allen politisch Interessierten als aufschlußreiche Lektüre zu empfehlen.


Kritische Geographie (Hg.)
Geopolitik
Zur Ideologiekritik politischer Raumkonzepte
ProMedia Verlag, Wien, 2001
240 Seiten, ISBN 3-85371-167-7


15.06.2006