Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/266: T. Müller-Heidelberg u.a. - Grundrechte-Report 2005 (SB)


Herausgeber: Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Heiko Habbe, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutschka, Rolf Gössner, Frank Schreiber


Grundrechte-Report 2005

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland



Am 18. Mai erklärte Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2004, daß die "Bekämpfung des islamistischen Extremismus und Terrorismus auf absehbare Zeit die Kernaufgabe der deutschen Sicherheitsbehörden" bliebe. Der Bericht beziffert die Anhängerzahl islamistischer Organisationen mit 31.800 gegenüber 30.950 im Vorjahr und stellt somit, wie um die behauptete Gefährdung zu unterstreichen, einen leichten Anstieg fest, während der Bundesinnenminister die Zahl von 171 Ermittlungsverfahren mit "islamistisch-terroristischem" Hintergrund anführt, die bundesweit derzeit geführt werden. Drei Tage später, am 21. Mai, trat Schily erneut in Erscheinung und legte im Entwurf ein neues "Sicherheitspaket" vor. Laut Spiegel beinhalten die darin vorgesehenen neuen Sicherheitsgesetze eine weitere, nicht unerhebliche Ausweitung der Befugnisse der Geheimdienste Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst, so etwa den erleichterten Zugang zu Informationen über Bankkonten; gedacht ist zudem an eine weitere Zentralisierung der Verfassungsschutzämter.

Was all dies mit der bundesdeutschen Verfassung, sprich dem Grundgesetz und explizit den darin - angeblich - so felsenfest verankerten Grundrechten und ihrer demnach zu unterstellenden, aber auch der tatsächlichen Schutzwirkung zu tun hat, ist eine Frage, die der Bundesinnenminister bei der Vorstellung des neuen Verfassungsschutzberichtes zu stellen und zu beantworten nicht etwa "vergaß". Dies war und ist schlichtweg "nicht sein Thema", versteht er und mit ihm der seit Gründung der Bundesrepublik immens aufgeblähte Sicherheits- und Polizeiapparat sowie die angeblich mit dem Schutz des Grundgesetzes befaßten Ämter unter "Verfassungsschutz" die Überwachung, Abwehr und nicht zuletzt Kriminalisierung politisch unliebsamer, weil oppositioneller Bewegungen und Strömungen, ihrer Repräsentanten und Aktivisten.

Das Grundgesetz jedoch ist in seinem historischen Entstehungszusammenhang gänzlich anders konzipiert worden. Im Jahre 1949, als sehr vielen Menschen die Schrecken des Zweiten Weltkrieges sowie des totalitären NS-Regimes noch allgegenwärtig waren, hätte ein Grundgesetz, das der weitverbreiteten Parole "nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus", nicht irgendwie Rechnung getragen hätte, kaum die erforderliche Akzeptanz als Grundlagenpapier des im Gründungsprozeß befindlichen westdeutschen Teilstaats erreichen können. Um zu verhindern, daß es je wieder zu einer (legalen) Machtübergabe an ein diktatorisches Regime würde kommen können, sollte das allem staatlichen Handeln als übergeordnet gedachte Grundgesetz zahlreiche Sicherungssysteme enthalten. Namentlich die Grundrechte wurden als Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat konzipiert, sozusagen als dessen Verpflichtung und Selbstbeschränkung gleichermaßen, denn in Art. 1 (1) heißt es: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt".

Demnach müßten alle staatlichen Organe, jedoch explizit die mit dem Schutz der Verfassung beauftragten Behörden, mit der Frage befaßt sein, wo und wie es an den unzähligen Sollbruchstellen, an denen die Grundrechte-Inhaber, sprich die in der Bundesrepublik Deutschland befindlichen Menschen, mit den Organen der Gewaltmonopolisten konfrontiert sind, um die Verwirklichung der ihnen durch die Verfassung (angeblich) garantierten Schutzrechte bestellt ist. Dieser so hochbrisanten Arbeit haben sich in Deutschland, nachdem sich die Träger des staatlichen Gewaltmonopols in dieser Frage als absolut ineffektiv erwiesen haben, zahlreiche Bürger- und Menschenrechtsorganisationen verschrieben. Die Resultate ihrer Recherchen und Untersuchungen publizieren sie Jahr für Jahr in ihrem Grundrechte-Report. Der neueste und insgesamt neunte - der Grundrechte-Report 2005 - ist soeben im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen und stellt Fragen, wie sie der ursprünglichen Konzeption des Grundgesetzes entsprechend eigentlich vom Verfassungsschutzbericht zu erwarten gewesen wären:

Videoüberwachung am Arbeitsplatz, der "große Lauschangriff" auf die Privatwohnung und die automatische Erkennung von Autokennzeichen im Straßenverkehr - geht die Privatsphäre in allen Lebensbereichen Stück für Stück verloren? Wie ist es bestellt um die Rechte von Schwachen und Schutzsuchenden, wenn alte Menschen in Pflegeheimen vernachlässigt und Familien bei der Abschiebung auseinander gerissen werden? Wie viel Sozialstaat bleibt, wo "Hartz IV" Arbeitszwang verordnet und die neue Sozialhilfeberechnung die Existenzsicherung erschwert? Gilt der Schutz der Menschenwürde noch absolut, wenn das Abschießen entführter Passagierflugzeuge erlaubt ist und das Folterverbot gelockert werden soll?
Diesen und anderen Fragen geht dieses Buch nach. Die nunmehr neunte Ausgabe des Grundrechte-Reports dokumentiert auch in diesem Jahr Verstöße gegen die im Grundgesetz garantierten Rechte der Bürgerinnen und Bürger. In Zeiten, die geprägt sind von terroristischer Bedrohung und wirtschaftlicher Krise, ist der wachsame und kritische Blick auf die Lage der Grund- und Menschenrechte in Deutschland nötiger denn je. (S. 2)

Der Grundrechte-Report 2005 stellt somit nicht etwa nur einen - wie sein Herausgeberkreis meint - alternativen Verfassungsschutzbericht dar, sondern ist das einzige Werk, das diesem Anspruch überhaupt gerecht wird. Der zentralen Frage, nämlich die im Grundgesetz garantierten Grundrechte auf die Verfassungsrealität hin abzuklopfen, wird dabei systematisch, das heißt anhand der besonders betroffenen Artikel, nachgegangen. Dabei haben die Herausgeber die in den zurückliegenden Grundrechte-Reporten bereits bewährte Systematik beibehalten, eine Systematik, die zugleich auch die zu dieser hochbrisanten Thematik unverzichtbare Stellungnahme und Bewertung enthält, weil allein schon die Zuordnung eines bestimmten Sachtextes unter einen Grundgesetzartikel veranschaulicht, daß die Herausgeber diesen verletzt und gefährdet sehen.

Zu Art. 1 (1) des Grundgesetzes ("Die Würde des Menschen ist unantastbar") werden unter dem Titel "Die neuen Verfassungsfeinde" nicht etwa "islamistische Extremisten" ins Feld der gezielten Feindbilderzeugung geschickt. Thematisiert wird in Hinsicht auf die Bestrebungen, das Folterverbot in Deutschland aufzuheben, "die Erosion der Menschenwürde durch Staats- und Strafrechtslehre". Dem in Art. 2 niedergelegten "Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit" wird die sogenannte Verfassungswirklichkeit gleich in vielfacher Hinsicht gegenübergestellt. Geschildert wird die damit unvereinbare Überwachung am Arbeitsplatz durch den Arbeitgeber, der berührungslose elektronische Datenaustausch zwischen einem winzigen Chip und einem Lesegerät, wie er durch die sogenannte RFID-Technologie im kommerziellen Warenverkehr bereits zum Einsatz kommt, die automatisierte Kennzeichenerkennung von Kraftfahrzeugen sowie das Ineinandergreifen staatlicher und privater Kontroll- und Überwachungspotentiale, wie es derzeit beim Verkauf personenbezogener Fußball-WM-Tickets praktiziert wird.

Nicht minder unverzichtbar für jeden Interessierten sind die zu Art. 2 (2) zusammengefaßten Texte, die in im besten Wortsinn desillusionierender Weise darlegen, wie es um das in diesem Artikel formulierte "Recht auf Leben" in Deutschland bestellt ist. Neben dem eingangs erwähnten Luftsicherheitsgesetz, das nur zu begründet als "Lizenz zum Töten Unschuldiger" bezeichnet wird, wird auch beschrieben, wie leicht Menschen durch staatliche Gewalt zu Tode kommen können. Ein Beispiel ist das "zweite Todesopfer hanseatischer Brechmittelpolitik", der 19jährige A. John aus Kamerun; geschildert wird jedoch auch, wie die BGS- Beamten, die 1999 bei einer gewaltsamen Abschiebung den Tod des Sudanesen Aamir A. bewirkt haben, von der Justiz reingewaschen wurden.

In dementsprechender Weise werden weitere Grundrechte im Grundrechte-Report 2005 durchgearbeitet. Immer und immer wieder weisen die Autoren und Autorinnen dezidiert und fundiert Verfassungsverstöße nach und werden ihrem Anspruch, auf diese Weise für den Erhalt oder vielmehr die Durchsetzung der Grundrechte eintreten zu wollen, sehr wohl gerecht, auch wenn die in diesem Report abgehandelten Vorfälle und Entwicklungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben und erheben können. Das Kopftuchverbot für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen wird als Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit bewertet, die gängige Abschiebepraxis, bei der Familien auseinandergerissen werden, als Verstoß gegen Art. 6, der Ehe und Familie eigentlich unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt.

Umfangreiches Material enthält der Report zu Verstößen gegen die in Art. 5 verankerte Meinungsfreiheit sowie die Versammlungsfreiheit nach Art. 8. Und obwohl im Eingangstext unreflektiert von "Zeiten, die geprägt sind von terroristischer Bedrohung ..." die Rede ist, führen einige Autoren in ihren zu Art. 20 (III), der die Bindung von Exekutive und Rechtsprechung an Recht und Gesetz festlegt, verfaßten Texten aus, daß eben diese elementar verletzt wird, sobald das Zauberwort "Terrorismusbekämpfung" ins Spiel gebracht wird. So weist die Rechtsanwältin Andrea Würdinger in ihrem der im Ausländerecht praktisch umgesetzten "Terrorismusbekämpfung" gewidmeten Beitrag darauf hin, daß der Begriff "Terrorismus" im Ausländergesetz an keiner Stelle definiert wurde.

Wolfgang Kaleck, Vorsitzender des Republikanischen Anwälte- und Anwältinnen-Vereins, schildert in seinem Text "Mit schwarzen Listen gegen Terroristen", daß gerade hier die Rechte der Betroffenen mit Füßen getreten werden und zitiert zu diesem Zweck die Referentin im deutschen Bundesministerium der Finanzen, Dr. Silke Albin, mit den Worten:

Der Sicherheitsrat macht damit im Rahmen des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus möglich, was es in einer freiheitlichen Rechtsordnung nicht geben darf: Eingriff in Individualrechte, ohne gleichzeitig angemessene Rechtsbehelfe zur Verfügung zu stellen.

Eher sporadisch wird wie an dieser Stelle der bundesdeutsche Boden des Grundgesetzes verlassen, was jedoch unumgänglich ist, da die Gefährdungen der Grundrechte im Zuge einer Entwicklung, bei der die staatliche Verfügungsgewalt nicht länger nur und nicht allein im nationalstaatlichen Rahmen, sondern immer weiter darüber hinausgehend und -greifend in internationalisierten Formen realisiert wird, eben nicht (nur) von bundesdeutschen Dienststellen ausgehen. Zunehmend fällt die nationale Innen- und Sicherheitspolitik mit überstaatlichen Administrationspraktiken und -ansprüchen zusammen. Nicht von ungefähr wird mehr und mehr von einer Weltinnenpolitik gesprochen, und nicht zuletzt betrifft die derzeitige Krise des sogenannten EU-Verfassungsgebungsprozesses eine Thematik, wie sie für die Qualität und den Bestand der Grundrechte in Deutschland kaum bedrohlicher sein könnte.

Leider haben die Herausgeber diesen Themenkomplex im Grundrechte- Report 2005 unberücksichtigt gelassen. Zwar scheint dieser Ermächtigungsvertrag, der die EU-Mitgliedstaaten mehr denn je ihrer Souveränität beraubt und die in den EU-Staaten lebenden Menschen entgegen den vorgehaltenen Behauptungen in Hinsicht auf die Grund- und Menschenrechte schlechter stellen würde, derzeit nicht realisiert werden zu können. In Deutschland jedoch wurde die sogenannte EU-Verfassung durch Bundestag und Bundesrat bereits durchgewunken, obwohl sie einen schweren Angriff auf die Grundrechte beinhaltet, weil diese hier nicht mehr als Abwehrrechte gegen die Staatsgewalt konzipiert und verstanden werden.

Der Autoren- und Herausgeberkreis hat sich um die Benennung mannigfaltiger Verfassungsverstöße allenfalls verdient gemacht; eine Initialzündung für einen von vielen Menschen aufgegriffenen Kampf gegen Demokratie- und Sozialabbau wird von ihm gleichwohl kaum ausgehen, weil die Lösungsversprechen untrennbar mit den Positionen und Perspektiven der Bürger-, Menschenrechtsorganisationen und Juristenvereinigungen verknüpft sind, die im wesentlichen für ihn verantwortlich zeichnen. Die Demontage des Sozialstaats etwa wird in ihren politischen, juristischen und historischen Bezügen von der Richterin am Bundesverfassungsgericht, Christine Hohmann- Dennhardt, in ihrem Text "Die Wiederentdeckung der Freiheit unter den Brücken. Zum Angriff auf den sozialen Gehalt unserer Grundrechte" geschildert:

Die Rechnung für einen solchen Weg zahlen nicht seine Profiteure, sondern wir alle, und sie könnte uns teuer zu stehen kommen. Den Kosten, die man mit einem Sozialstaat "light" und von ihrem sozialen Gehalt abgespeckten Grundrechten glaubt einsparen zu können, stehen nämlich langfristig die weit höheren gesellschaftlichen gegenüber. Sie liegen im Legitimationsverlust des demokratischen Staates, wenn er zwar weiter reklamiert, im Namen des Volkes zu handeln, aber nur den Interessen der Starken dient und deshalb die Schwachen sich nicht mehr von ihm vertreten fühlen, aufbegehren oder sich von ihm abwenden. Verlustig geht so auch die Solidarität als der Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält und ein friedfertiges Miteinander ermöglicht. Der Kampf jeder gegen jeden aber, der aus Unsolidarität entsteht, schlägt nicht nur Einzelnen Wunden, sondern verursacht Kollateralschäden in Gesellschaft wie Wirtschaft, die nur schwer begrenzbar und behebbar sind. (...)
Es ist deshalb an der Zeit, den Sozialstaat mit seinen sozial gewendeten Grundrechten als Errungenschaft zu verteidigen und sich den Versuchen seiner Demontage entgegenzustellen. (...) (S. 22)

Aus ihrem Fazit geht jedoch zugleich hervor, daß sie den Sozialstaat in seiner bisherigen Form erhalten wissen möchte, weil sie andernfalls "längerfristig" einen "Legitimationsverlust des demokratischen Staates" fürchtet mit der ihr unerträglichen Folge, daß die Schwachen, die sich "nicht mehr von ihm vertreten fühlen, aufbegehren oder sich von ihm abwenden" könnten. Allein, um die im Grundrechte-Report dezidiert beschriebene Entwicklung des Demokratie- und Sozialabbaus abwehren zu können, bedürfte es weitaus mehr Anstrengungen als ein Engagement, dessen Motivation in dem Bestreben zu verorten ist, den Sozialstaat als ordnungspolitisches Instrument zu erhalten, was nicht zuletzt jenen Kräften nützlich wäre, die derzeit so emsig mit dem Abbau demokratischer und sozialer Errungenschaften beschäftigt sind.

7. Juni 2005

Grundrechte-Report 2005 Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland Herausgeber: Till Müller-Heidelberg, Ulrich Finckh, Elke Steven, Heiko Habbe, Jürgen Micksch, Wolfgang Kaleck, Martin Kutschka, Rolf Gössner, Frank Schreiber


Ein Projekt der Humanistischen Union, der Gustav-Heinemann- Initiative, des Komitees für Grundrechte und Demokratie, des Bundesarbeitskreises Kritischer Juragruppen, von Pro Asyl, des Republikanischen AnwältInnenvereins, der Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen, der Internationalen Liga für Menschenrechte und der Neuen Richtervereinigung


T. Müller-Heidelberg u.a.
Grundrechte-Report 2005
Fischer Taschenbuch Verlag
Frankfurt am Main, Juni 2005
ISBN 3-596-16695-0