Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/253: Ismayr - Die politischen Systeme Osteuropas (Politik) (SB)


Herausgeber: Wolfgang Ismayr


Die politischen Systeme Osteuropas



Angesichts der rasanten Entwicklung, mit der in jüngster Zeit Regierungen in europäischen und asiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion gestürzt werden, stellt sich die Frage, ob ein Handbuch über die politischen Systeme Osteuropas nicht schon bald obsolet und allenfalls für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung nützlich sein wird. Die territoriale Zerschlagung der Sowjetunion setzte sich seit 1991 in inneren Umbrüchen fort, die im Falle Georgiens, der Ukraine und (möglicherweise auch) Kirgisiens auf eine radikale Abschaffung der verbliebenen Reste der früheren Nomenklatura abzielten und diese durch westlich orientierte Seilschaften ersetzten. Da blieb es nicht aus, daß mit diesen Einschnitten auch die Grundlagen des politischen Handelns, die Systeme, in Angriff genommen und neu entworfen wurden.

Dennoch dürfte das Buch über "Die politischen Systeme Osteuropas", herausgegeben von dem an der Technischen Universität Dresden lehrenden Professor für Politikwissenschaft Wolfgang Ismayr, nicht vorschnell unter der Kategorie "antiquarisch" abgelegt werden. Denn erstens werden hier viele Staaten behandelt, die inzwischen Mitglied der Europäischen Union sind und denen daher eine gewisse politische Stabilität zugesprochen werden kann (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Ungarn und - sicherlich nur bedingt - Zypern); und zweitens befinden sich die übrigen Staaten in einer Phase der Konsolidierung und/oder Annäherung an den Westen (Rußland, Weißrußland [Belarus], Ukraine, Moldova [Moldawien], Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Serbien-Montenegro, Bosnien- Hercegovina, Makedonien, Albanien, Türkei) und haben diese Neuorientierung längst in Recht und Gesetz festgeschrieben. Das wird in diesem Buch, das 2004 in der 2. Auflage erschienen ist, bereits berücksichtigt und dürfte auch in den kommenden Jahren für die politischen Entwicklungen in diesen Ländern maßgeblich sein.

Ein wesentlicher Nutzen dieses Sammelbands besteht darin, daß er über das bloße Rezipieren tagesaktueller Ereignisse hinaus tiefere Einblicke in die Matrix politischen Wirkens ermöglicht. Beispielsweise schreibt der Herausgeber einleitend in seiner gut 60 Seiten langen vergleichenden Darstellung der politischen Systeme über die Stellung der Verfassungsgerichte in den osteuropäischen Transformationsstaaten:

Insgesamt gesehen spielten die Verfassungsgerichte in der Verfassungspraxis eine wichtige Rolle auf dem Weg der Transition und der rechtsstaatlichen und demokratischen Konsolidierung, wobei der Schwerpunkt zumeist bei der (abstrakten) Normenkontrolle lag. Ihre Entscheidungen hatten oft erhebliche politische Bedeutung und waren nicht selten auch politisch umstritten (...) Die Beschlüsse der Verfassungsgerichte wurden in der Regel von den betroffenen Institutionen respektiert, und zumeist konnten sie auch ihre Unabhängigkeit bewahren. (S. 18/19)

Obgleich neben den Reststaaten der Sowjetunion auch die Relikte der ebenfalls im vergangenen Jahrzehnt zerschlagenen Bundesrepublik Jugoslawien mit der Staatenbildung rangen und heute noch ringen, kommt deren Verfassungsgerichten häufig bereits eine ähnlich herausragende Bedeutung als demokratisches Korrektiv zu wie in westlichen Gesellschaften. Diese Entwicklung darf als Ausdruck einer generellen administrativen Angleichung der heute vorherrschenden Regierungsformen Osteuropas an das westliche Demokratieverständnis betrachtet werden.

Wie schon in seinem Sammelband über die politischen Systeme Westeuropas (Siehe im Schattenblick unter BUCH\SACHBUCH, Index REZENSION/246) läßt Ismayr den durchweg sachkundigen Autoren, die sich mit den einzelnen Ländern befassen, einerseits genügend Raum zur eigenen Entfaltung, so daß die Beschreibungen nicht stereotyp wirken, andererseits gibt er feste Themen vor, die abgehandelt werden und dem Leser einen raschen Zugang zu der von ihm gewünschten Information ermöglichen. Die bündig abgefaßten Länderprofile orientieren sich an den Stichpunkten Staatsbildung und Systemtransformation, Verfassungsentwicklung und Verfassungsprinzipien, Staatspräsident, Parlament, Regierung und Verwaltung, Gesetzgebungsprozeß, Wahlsystem und Wählerverhalten, Parteiensystem und innerparteiliche Willensbildung, Interessensverbände und Interessensvermittlung, Massenmedien, Politische Kultur/politische Partizipation, Rechtssystem und Verfassungsgerichtsbarkeit, Regional- und Kommunalpolitik, Internationale Beziehungen und Europapolitik, Ausblick.

Das 966 Seiten starke Buch eignet sich nicht zum Schmökern, aber als Nachschlagewerk zu einer konkreten Frage lädt es durchaus dazu ein, weiterzulesen und auch das ein oder andere Nebengleis zu benutzen, um sich einen umfänglicheren Eindruck von einem bestimmten Thema zu verschaffen. Zudem bieten die ausführlichen Literaturangaben zum Schluß jeder Länderdarstellung die Möglichkeit des vertiefenden Studiums.

Wie es sich für die Politikwissenschaft geziemt, sind die Autoren um den Eindruck strikter Objektivität gegenüber ihrem Forschungsgegenstand bemüht. Daß dieser Anspruch manchmal abgehoben wirkt und Ausdruck einer Position ist, die nicht von jedem geteilt werden muß, soll hier am Beispiel der Länderbeschreibung Weißrußlands durch Silvia von Steinsdorff, Privatdozentin für politische Wissenschaft an der Ludwig- Maximilians-Universität München und Gastprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin, aufgezeigt werden. Unter der Kapitelüberschrift "Verfassungsentwicklung und Verfassungsprinzipien" schreibt sie:

Zwar fanden sich bereits im ursprünglichen Entwurf zahlreiche soziale und ökonomische Grundrechte, wie zum Beispiel das Recht auf einen 'würdigen Lebensstandard, einschließlich ausreichender Ernährung, Kleidung, Wohnung' (...) oder das 'Recht auf Arbeit als würdigster Form der Selbstbestätigung des Menschen' (...). Im Laufe der Zeit wurden diese sozialistischen Reminiszenzen jedoch ausgeweitet und konkretisiert. Ähnliche Rückschritte waren auch hinsichtlich der Grundrechtsschranken zu beobachten. (S. 432/433)

Wenn das Recht auf Ernährung, Kleidung, Wohnung und Arbeit eine "sozialistische Reminiszenz" ist, dann müßte das vom deutschen Grundgesetz ebenfalls gesagt werden, wird in ihm doch das Sozialstaatsprinzip verbürgt. Und wenn der Anspruch auf eine grundlegende Versorgung mit jenen lebenswichtigen Dingen nicht nur auf dem Papier existiert, sondern weitgehend erfüllt wird, dürfte es den Menschen, die in solch einer Gesellschaft leben, angesichts der drohenden Alternativen, wie sie für westliche Gesellschaften typisch sind - Arbeits- und Obdachlosigkeit, Armut und soziale Verelendung - ziemlich egal sein, wenn ihre Regierung "sozialistischen Reminiszenzen" anhängt.

Bei allem, was dem weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko vorgehalten werden kann, bleibt festzustellen, daß Weißrußland unter den sowjetischen Bruderstaaten den Kollaps des Systems noch am besten überstanden hat und wirtschaftlich gut gerüstet ist. Und das trotz jener "rückschrittlichen", sich den neoliberalen Interessen seiner Kritiker widersetzenden Verpflichtung zur Grundversorgung des Volkes. Heute noch ist die Bildung und medizinische Behandlung in Weißrußland kostenlos - unter dem Diktat des Internationalen Währungsfonds mit seiner zerstörerischen Auf-Teufel-komm-raus-Privatisierungs-Ideologie wäre diese sozialistische Errungenschaft längst abgehobelt worden.

Im übrigen liefert von Steinsdorff - vermutlich unbeabsichtigt - selbst einen wichtigen Grund, der zumindest mit dazu beigetragen hat, weshalb sich Lukaschenko repressivster Mittel gegen die Opposition bedient hat, indem sie schreibt:

Tendenziell hat sich - nicht zuletzt durch massive westliche Hilfe - seit 1999 eine gewisse Konsolidierung und Professionalisierung des oppositionellen Parteienspektrums vollzogen. Als wichtiger Anhaltspunkt für die jeweilige personelle, programmatische und organisatorische Relevanz der verschiedenen Parteien kann ihre Beteiligung an den Gesprächen am Runden Tisch dienen, die die OSZE im Herbst 1999 zwischen den Machthabern und den gesellschaftlichen Oppositionskräften organisierte. (S. 454/455)

Mit anderen Worten, der Westen ist bemüht, durch umfangreiche finanzielle Mittel eine Opposition gegen Lukaschenko aufzubauen. Und die vom Westen dominierte OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) hat das ganze unter dem Deckmantel der Förderung der Demokratie orchestriert. Da muß es nicht wundern, wenn eine Regierung ihr Heil in polizeistaatlichen Maßnahmen, Unterdrückung der Opposition und einem Maulkorb für Presse, Funk und Fernsehen sucht. Lukaschenko hat nicht einfach nur sein Amt verteidigt, wie ihm propagandistisch reduziert immer wieder vorgehalten wird, er hat durch seine zweifelsohne rigiden bis teils brutalen Maßnahmen eben auch das politische System Weißrußlands erfolgreich bewahrt. Dafür hat der Präsident durchaus Rückhalt im Volk. Das wird von denen, die beim Verteufeln immer vorne an sind, gern übersehen.

Der besagte Runde Tisch hatte sich alsbald in Bedeutungslosigkeit verloren, aber der damals und seitdem laufend von außen eingestreute Sand im Getriebe des weißrussischen Systems könnte bald seine schleifende und reibende Wirkung entfalten. Erst vor kurzem kam es in Minsk zu Demonstrationen von Oppositionellen, die unter ausdrücklicher Berufung auf die "Tulpen-Revolution" in Kirgisien den Sturz Lukaschenkos forderten. Ohne das harte Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten rechtfertigen zu wollen, kommt man um den Verdacht nicht herum, daß die Spannungen in Weißrußland von außen induziert, mindestens aber gefördert werden - eine Ansicht, die der Leser in Silvia von Steinsdorffs Ausführungen sicherlich nicht antreffen wird.

Wer zu dem vorliegenden Buch greift, um sich über die politischen Systeme Osteuropas zu informieren, wird gut bedient, solange er nicht vergißt, daß die Autorinnen und Autoren Mehrheitsmeinungen vertreten. Das wird nicht nur am obigen Beispiel Weißrußland deutlich, sondern auch an Serbien- Montenegro. Wenn das Rambouillet-Abkommen vom Februar 1999 auch nur im entferntesten als eine mögliche "Lösung für die Zukunft Kosovos" (S. 729) in Erwägung gezogen wird, dann bliebe als Erklärung der ablehnenden Haltung Serbiens eigentlich nur noch Nationalchauvinismus übrig. Denn einzugestehen, daß Serbien, wie jeder andere Staat auch, lediglich auf die Bewahrung seiner Souveränität bestand, bedeutete umgekehrt, die hehren Motive der westlichen Staatengemeinschaft beim Abfassen des Rambouillet- Abkommens in Frage zu stellen.

Kurzum, Anhänger globalisierungskritischer, sozialistischer, antiimperialistischer oder sonstwie gegen den Mainstream gerichteter Ideen könnte Wolfgang Ismayrs Grundlagenwerk über die politischen Systeme Osteuropas trefflich zur Schärfung und Schlagkraft der eigenen Argumente dienen.


Herausgeber: Wolfgang Ismayr
Die politischen Systeme Osteuropas
2., aktualisierte und überarbeitete Auflage,
Lesek und Budrich, Opladen 2004
UTB-ISBN 3-8252-8186-8
ISBN 3-8100-4053-3