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REZENSION/210: Linda Melvern - Ruanda. Der Völkermord ... (SB)


Linda Melvern


Ruanda. Der Völkermord und die Beteiligung der westlichen Welt



In der jüngeren Geschichte postkolonialer Regulationskämpfe auf afrikanischem Boden gibt es eine einzigartige Schnittstelle mehrerer historischer Verläufe, deren Gewaltpotential an der Vernichtung einer ungeheuren Zahl an Menschenleben ablesbar wird: der Völkermord von Ruanda. Entfacht von dem Abschuß des damaligen ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana am 6. April 1994 beim Landeanflug auf Kigali, wurden in dem kleinen südostafrikanischen Staat Ruanda binnen einhundert Tagen zwischen 800.000 und eine Million Angehörige der Tutsi-Minderheit sowie gemäßigte Hutu durch Extremisten der Hutu-Ethnie und deren Handlanger abgeschlachtet. Diese Explosion an Gewalt entstand nicht aus heiterem Himmel, sondern besaß einen Nährboden, wie ihn die Zivilisationsgeschichte des Menschen von jeher für Grausamkeiten dieser Art bereithielt: Die Sicherung des eigenen Überlebens zulasten des anderen. Nachbarn fielen über Nachbarn her, Priester lieferten ihre Gemeindemitglieder ans Messer, Eheleute verrieten ihre Partner.

Für das Zustandekommen des Ruanda-Genozids waren vier übergreifende geschichtliche Entwicklungen von entscheidender Bedeutung: Zum einen hat das Ende des Ost-West-Konflikts zu Beginn der neunziger Jahre die bestehende Ordnung auch auf afrikanischem Boden durcheinandergebracht, vor allen Dingen dadurch, daß es scheinbar keine Alternative mehr zum Entwurf der vom Westen favorisierten marktwirtschaftlichen Ellbogengesellschaft gab. Bezeichnend für diese Entwicklung ist der massive Zugewinn an Einfluß von IWF und Weltbank auf die afrikanischen Regierungen, die unter dem Diktat der beiden Bretton-Woods-Institutionen Entscheidungen trafen, durch die die existentielle Not der Bevölkerung nicht etwa gelindert, sondern noch gesteigert wurde. In fast allen Ländern Afrikas vergrößerte sich die Kluft zwischen arm und reich. Das galt auch für Ruanda, dessen Regierung sich verschuldete und aufgrund wirtschafts- und finanzpolitischer Auflagen seitens der internationalen Kreditgeber eine Abwertung des ruandischen Franc bei gleichzeitig steigenden Preisen für Grundnahrungsmittel beschloß und damit die Bevölkerung verarmen ließ.

Ein weiterer Effekt dieser neuen, unipolaren Welt war der Versuch des Globalhegemons USA, den afrikanischen Kontinent an die Neue Weltordnung anzupassen, indem er mittels beteiligter Vasallenregierungen seinen Zugriff schrittweise ausbaute. Dabei mußten diese neokolonialen Ambitionen zwangsläufig mit bestehenden postkolonialen Bündnissen kollidieren, was insbesondere frankophone Staaten wie Zaire (heute DR Kongo) oder eben Ruanda betraf. Bis zum Ende des Genozids hatte Frankreich engsten Kontakt zur ruandischen Hutu-Regierung gepflegt; anschließend hingegen kamen die Tutsi an die Macht, und Frankreich mußte seine Einflußsphäre in Ruanda an die USA abtreten.

Hinsichtlich Entstehung und Ausmaß des Massenmords an den Tutsi spielte auch die rapide Veränderung der Aufgaben der UNO in den neunziger Jahren eine Rolle. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Weltorganisation innerhalb weniger Jahre vom UN- Sicherheitsrat als Feuerwehr in immer mehr Konfliktregionen rund um den Globus geschickt. Die Möglichkeiten der UNO, die auf diese Form von Weltregierung gar nicht vorbereitet war, wurden durch die vielen Blauhelmeinsätze bei weitem überdehnt. Das soll nicht die Mißachtung der dringenden Appelle des Kommandanten der UN- Mission für Ruanda (UNAMIR) um Unterstützung durch die Zentrale in New York entschuldigen, es zeigt jedoch das Spannungsverhältnis der Weltorganisation zum Sicherheitsrat im allgemeinen und den USA im besonderen auf.

Ein vierter historischer Faktor, der im Unterschied zu den ersten dreien nicht unmittelbar mit der Neuordnung der Welt nach dem Zerfall der Sowjetunion zu tun hat, war der latente bis offene Dauerkonflikt zwischen Hutu und Tutsi. Von der heutigen Afrikanistik wird zwar darauf verwiesen, daß Hutu und Tutsi ursprünglich gar keine zwei Ethnien waren, sondern daß es sich bei diesen Begriffen um sozialökonomische Zuweisungen handelt - Hutu bedeutet "Diener" und Tutsi "reich an Vieh" -, aber die Ruander selbst wußten sehr wohl, wer zu welcher Gruppe gehörte, und das nicht etwa nur deshalb, weil die belgischen Kolonialverwalter diesen Unterschied einst mit einem entsprechendem Stempel im Ausweis offiziell besiegelt hatten.

Der Konflikt zwischen Hutu und Tutsi schwelte schon lange vor 1994 und hatte bereits 1959 zur Hutu-Revolution gegen die damalige Tutsi-Herrschaft geführt. Dabei wurden die von den Kolonialherren bevorzugten und alle wichtigen Posten in Regierung und Ämtern in Anspruch nehmenden Tutsi umgebracht oder verjagt. In den folgenden Jahrzehnten kam es immer wieder zu Massakern unter Tutsi und Hutu, wobei die Rolle der Täter und Opfer wechselte und sich der Konflikt auch nicht auf Ruanda beschränkte, sondern genauso in dem kleineren Nachbarstaat Burundi ausgetragen wurde. Schon von daher konnte der Genozid von 1994 niemanden überrascht haben, wie es nachher von führenden Politikern behauptet wurde.

Die Extremisten unter den Hutu hätten mit ihren Genozid-Plänen keinen so durchschlagenden "Erfolg" gehabt, wenn sie nicht mit ihren teils über Radio ausgestrahlten Aufrufen zum Mord an den Tutsi - für die vorzugsweise das Wort "Kakerlake" verwendet wurde - einen entsprechenden Widerhall in der Bevölkerung gefunden hätten. Ob wissenschaftlich widerlegt oder nicht, zumindest in der Vorstellung vieler Ruander gab es einen ethnischen Unterschied, und der gewann seit Beginn der neunziger Jahre unter einer zunehmend bedrückenderen wirtschaftlichen Lage an Bedeutung.

Jeder, der mehr über den Ruanda-Genozid erfahren will, wird das vorliegende, sich weitgehend am chronologischen Ablauf der Ereignisse entlangbewegende Buch "Ruanda. Der Völkermord und die Beteiligung der westlichen Welt" von Linda Melvern mit Spannung lesen. Akribisch hat die Autorin die Entwicklung in den Jahren vor dem eigentlichen Beginn des Völkermords nachgezeichnet und dabei aus dem Quellenmaterial zweifelsfrei herausgezogen, daß extremistische Hutu mit dem ihnen als zu versöhnlich erscheinenden Kurs ihres Präsidenten, der 1993 im Friedensabkommen von Arusha eine Beteiligung der tutsi- dominierten Rebellen der Ruandischen Patriotischen Armee/Front (RPA/F) an Regierung und Streitkräften zugestimmt hatte, nicht einverstanden waren.

Durch die umfangreiche Recherche in teils unveröffentlichten Quellen ist Linda Melvern ebenfalls der Nachweis gelungen, daß wichtige Entscheidungsträger bei der UNO wie auch unter den Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats von den Vorbereitungen zum Völkermord gewußt hatten. Deshalb ist der Untertitel des vorliegenden Buchs über "die Beteiligung der westlichen Welt" an diesem grausamen Tun ohne Einschränkung gerechtfertigt. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß es einflußreichen extremistischen Hutu bitterernst war mit der Idee, alle Tutsi umzubringen und somit das "Problem" ein für alle Mal zu erledigen. Dieses Vorhaben hätte höchstwahrscheinlich durch eine Mandatserweiterung der UNAMIR und eine Aufstockung ihres Kontingents verhindert werden können.

Mit Linda Melvern hat sich eine kompetente Journalistin der Aufarbeitung des Ruanda-Völkermords gewidmet. Einerseits kennt sie sich mit den Strukturen der Vereinten Nationen aufgrund früherer Recherchen aus, andererseits hat sie mit ihrem 2001 erschienenen ersten Buch über Ruanda, "A People Betrayed: The Role of the West in Rwanda's Genocide", bereits wichtige Vorarbeit zu diesem Werk geleistet. Darüber hinaus war sie als Beraterin der Strafermittler des UN-Tribunals für Ruanda tätig und ist heute Gerichtssachverständige im Prozeß gegen die mutmaßlichen Rädelsführer des Völkermords.

Gerade weil die Autorin so überaus informativ die Vorbereitung auf den Genozid und seinen Ablauf beschreibt und den Finger auf die Wunde der vielfältigen Beteiligung der westlichen Welt am Völkermord legt, erweckt das Buch den Anschein von Vollständigkeit. Dieser Eindruck täuscht jedoch. Die Rolle der Ruandischen Patriotischen Front beim Abschuß der Präsidentenmaschine wird ignoriert, obschon dieses Ereignis den Auftakt zu den Massakern bildete.

Es ist unverständlich, warum die Autorin nicht mit der gleichen Ausführlichkeit auf die Urheberschaft des Attentats eingeht, mit der sie die übrigen wichtigen Aspekte des Völkermords beschreibt. Selbst wenn sie der Ansicht wäre, daß extremistische Hutu ihren eigenen Präsidenten abgeschossen haben - was sie nicht explizit behauptet, aber nahelegt -, so sollte in einem Buch über die Katastrophe des Jahres 1994 zumindest nicht unerwähnt bleiben, daß ausgerechnet der einstige RPA-Führer und heutige Präsident Ruandas, Paul Kagame, der die Völkermörder aus dem Land vertrieben hatte, in den starken Verdacht geraten war, das Attentat auf Habyarimana befohlen zu haben.

Kagame war stellvertretender Leiter des militärischen Geheimdienstes in der ugandischen Armee und hatte bis 1991, unmittelbar vor der Übernahme des Kommandos über die RPA, eine Militärausbildung in den USA absolviert, wo man von seinen Fähigkeiten zur strategischen Kriegsführung äußerst angetan war. Aus Sicht der RPA, die wie die Hutu-Extremisten, nur aus entgegengesetzten Gründen, das Friedensabkommen von 1993 ablehnten und zudem mitansahen, daß die andere Seite zum Massenmord aufrüstete, mußte der Abschuß der Präsidentenmaschine als gelungener Schachzug gelten. Befanden sich doch an Bord der Mystère Falcon abgesehen vom ruandischen Präsidenten praktisch alle für die Sicherheit des Landes verantwortlichen Politiker und Militärs sowie der burundische Präsident Cyprien Ntaryamira - ebenfalls ein Hutu - und zwei burundische Minister.

Hat die Autorin, die ansonsten ausgesprochen penibel und ausführlich recherchierte, tatsächlich nichts von zwei verschiedenen Quellen gewußt, die behaupten, Kagame habe den Auftrag zum Attentat auf den ruandischen Präsidenten erteilt? Ein Informant ist der in die USA geflohene Jean-Pierre Mugabe. Als Offizier der RPA stammte er aus dem näheren Umfeld Kagames und hat gemeinsam mit diesem und weiteren Offizieren ein Spiel der Fußballweltmeisterschaft angeschaut, als Kagame die Nachricht vom Attentat überbracht wurde. Mugabe veröffentlichte am 24. April 2000 für die International Strategic Studies Association (ISSA) in Washington eine Stellungnahme zu dem Abschuß, wonach dieser von einer Spezialeinheit der RPA ausgeführt wurde. Die genauen Angaben des ehemaligen RPA-Offiziers hinsichtlich Ort, Zeit, Durchführung und Namen der Attentäter wirken äußerst glaubwürdig.

Mugabes Version wurde auch durch drei weitere ehemalige RPA- Mitglieder, die sogar direkt an der Durchführung des Attentats beteiligt waren und von denen sich zwei bereit erklärt hatten, vor dem UN-Tribunal auszusagen, sofern man ihnen Schutz gewähre, bestätigt. Die Zeugenaussagen wurden der kanadischen Zeitung "National Post" zugespielt, die Teile davon am 1. März 2000 veröffentlichte. Die Zeugen geben so genaue Einzelheiten der Aktion an - beispielsweise die Registriernummern der für den Abschuß verwendeten Boden-Luft-Raketen -, daß es ein leichtes gewesen wäre, sie zu widerlegen, falls sie gelogen hätten. Statt dessen hat das UN-Tribunal für Ruanda sämtliche Ermittlungen zum Attentat plötzlich abgebrochen und hält seitdem die Zeugenaussagen unter Verschluß.

Daß die Autorin nicht einmal die Existenz dieser öffentlich zugänglichen Informationen erwähnt, erweckt zwangsläufig den Eindruck, als habe sie absichtlich jenen Aspekt des Genozids ausgelassen, der einen häßlichen Makel auf Kagames vermeintlich weißer Weste hinterlassen hätte. Ein Motiv für Melverns selektive Berichterstattung erschließt sich womöglich aus ihrer Danksagung am Ende des Buchs. Darin schreibt sie, daß sie Einsicht in einige Dokumente nehmen konnte, die sich unter Verschluß befanden. Dazu bedurfte es der Erlaubnis der heutigen ruandischen Administration, die sie bei einer negativen Bewertung der Rolle Kagames beim Attentat wohl kaum erhalten hätte.

Das vorliegende Buch bietet keine tiefschürfende politische Analyse des Ruanda-Genozids. Indes entfaltet die gründliche chronologische Aufarbeitung als solche, die größtenteils auf der Auswertung von UN-Dokumenten beruht, ihre eigene Brisanz. Die westliche Welt trug Mitverantwortung für ein Blutbad, das sich mit relativ einfachen Mitteln hätte verhindern lassen.

Statt dessen hat Frankreich die Hutu bei der Vorbereitung und Durchführung der Abschlachtungen mit Waffen, Ausbildung und Logistik unterstützt; auch hat die Pariser Regierung den Rückzug der ruandischen Militärs vor den überlegenen RPA-Verbänden militärisch abgesichert. Umgekehrt haben die USA die RPA unterstützt und deren Invasion zur Beendigung des Mordens unter anderem dadurch gefördert, daß sie der UNAMIR jede Hilfe versagten. Darüber hinaus haben die USA in der Öffentlichkeit lange Zeit das Wort "Genozid" vermieden, obwohl die damalige Clinton-Administration fast täglich CIA-Lageberichte erhielt, aus denen zweifelfrei hervorging, daß in Ruanda ein fürchterliches Massaker an den Tutsi stattfand. Britannien wiederum hat sämtliche Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats, die auf eine Unterbindung des Mords an Hunderttausenden von Tutsi und moderaten Hutu abzielten, systematisch behindert.

Schade, daß Linda Melvern ihre Fähigkeit, umfangreiches Datenmaterial in eine gut lesbare Form zu bringen, selbst beschnitten hat. Somit bedient das Buch letztlich ein schablonenhaftes Täter-Opfer-Denken, wie es heute ausgerechnet von jenen Apologeten des Interventionismus instrumentalisiert wird, die den ruandischen Tutsi 1994 ihren Beistand verweigerten, also jener "westlichen Welt", deren Beteiligung am Völkermord von Ruanda die Autorin in ihrem Buch detailreich offengelegt hat.


Linda Melvern
Ruanda. Der Völkermord und die Beteiligung der westlichen Welt
Heinrich Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München 2004
384 Seiten
ISBN 3-7205-2486-8