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REZENSION/175: Noam Chomsky - Offene Wunde Nahost (SB)


Noam Chomsky


Offene Wunde Nahost

Israel, die Palästinenser und die US-Politik



Der Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis scheint im Grunde genommen einfach zu verstehen zu sein. Um der ethnisch- religiös motivierten Verfolgung in ihrer Heimat in Ost- und Mitteleuropa zu entkommen, wandern Juden in ein Land ein, in dem ihre Vorfahren vor vielen Generationen gelebt haben und das seit Jahrhunderten von Menschen anderen Glaubens und anderer Kultur besiedelt ist. Anstatt sich auf eine Weise zu integrieren, die die Ängste und Besitzansprüche der in Palästina lebenden Araber respektiert, nimmt das zionistische Projekt immer stärker Züge einer kolonialistischen Usurpation an. Die Frage, wie es den zahlenmäßig stark unterlegenen Immigranten gelingen konnte, die Mehrheitsbevölkerung im Laufe eines halben Jahrhunderts so zu dominieren, daß ihnen von den Vereinten Nationen ein eigener Staat zugesprochen und die arabische Bevölkerung in der Folge auf einem immer kleineren Teil ihres ursprünglichen Territoriums zusammengedrängt wird, läßt jedoch erahnen, daß die Geschichte vielschichtiger und komplizierter ist, als daß man sie lediglich als Konflikt zwischen zwei Völkern, die sich in einer kolonialistischen Konfrontation gegenüberstehen, abhandeln könnte.

Um den Entwicklungslinien, die sich hinter der Komplexität des Geschehens und vor allem seiner medialen Verzerrung verbergen, auf die Spur zu kommen, bedarf es eines umfassenderen Blicks auf die Geschichte Palästinas und die weltpolitische Bedeutung des Nahostkonflikts. Ein unverzichtbares Werk für jeden, der sich nicht mit seiner vordergründigen Darstellung in der meist die israelische Sicht der Dinge favorisierenden westlichen Presse zufriedengeben möchte, ist "Fateful Triangle. The United States, Israel and the Palestinians". Dieser Klassiker des bekannten amerikanischen Linguisten und Verfassers vieler streitbarer Werke zu Politik und Zeitgeschichte, Noam Chomsky, wurde unter diesem Titel erstmals 1983 in den USA veröffentlicht. Daß das zum Standardwerk vieler Kritiker der israelischen Besatzungspolitik avancierte Buch nicht schon bald darauf ins Deutsche übersetzt wurde, kann eigentlich nur mit der Ignoranz des hiesigen Publikums gegenüber derjenigen Seite des Nahostkonflikts erklärt werden, die die Sicht der betroffenen Palästinenser schildert.

Letztes Jahr hat der Europa Verlag dieses Buch auf der Grundlage des in den USA 1999 in einer überarbeiteten Version neuaufgelegten Originals unter dem Titel "Offene Wunde Nahost. Israel, die Palästinenser und die US-Politik" der hiesigen Leserschaft zugänglich gemacht. Schon ein Jahr später wartet der rührige Hamburger Verlag, der in seinem Programm diverse wichtige Bücher dieses linken Kritikers amerikanischer Hegemonialpolitik führt, mit einer aktualisierten Neuausgabe auf. Ihr wurde ein Vortrag, den Chomsky im März 2001 gehalten hat, über die Friedenschancen in Nahost sowie eine nützliche "Kurze Chronologie des Nahostkonflikts" beigefügt.

An den zu verschiedenen Zeiten entstandenen Texten des Buches läßt sich feststellen, wie trittsicher Chomskys Analysen bereits zu Beginn der achtziger Jahre waren und wie sehr sich seine das Zusammenspiel von Israel und den USA in den Mittelpunkt der Kritik rückende Position bewährt hat. So sind im Vorwort vom Mai 2002, in dem der Autor die Lage in Nahost in den aktuellen Bezug zu den Regierungen Bush und Sharon stellt, keine grundlegenden politischen Veränderungen zur Darstellung der Lage auszumachen, wie sie in der Einleitung zur aktualisierten amerikanischen Neuauflage vom März 1999 geschildert wird. Damals residierte im Weißen Haus noch Präsident Clinton, und die gescheiterten Gespräche in Camp David zwischen dem damaligen Ministerpräsidenten Barak und Palästinenserführer Arafat wie der Beginn der zweiten Intifada standen noch bevor.

Die Rigidität, mit der die Konfliktparteien auf ihren Positionen bestehen, beurteilt Chomsky jedoch nicht aus der üblichen Äquidistanz heraus, die sich insbesondere europäische Politiker zueigen gemacht haben und die ein wesentlicher Grund für die krasse Bevorteilung der israelischen Seite ist, sondern er läßt keinen Zweifel daran, daß es ihm um die argumentative Unterstützung der schwächeren Partei geht. Während die US-Politik, wie er anhand einer Analyse der unterschiedlichen Auslegungen der UN-Resolution 242 ausführt, seit 1971 den israelischen Annexionsbestrebungen den Zuschlag gibt, erweist sich die europäische Mittelposition im Endeffekt ebenfalls als eine Begünstigung Israels. Der gerade in jüngster Zeit erweckte Eindruck, die EU beziehe geradezu Partei für die Palästinenser, könnte nicht irreführender sein, wie man unschwer begreifen wird, wenn man die Geschichte der israelischen Besatzungspolitik im vorliegenden Werk studiert hat.

Eingeleitet wird der Hauptteil des Buches mit der Vorgeschichte des Nahostkonflikts, in der der Autor einen eher kurzgefaßten Abriß der zionistischen Immigration in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts und ihrer damals in Großbritannien wie den USA umstrittenen Bewertung präsentiert. Mit der Darstellung des jüdischen "Unabhängigkeitskampfes als Eroberungskrieg" rückt Chomsky einige Mythen über die angeblich bis zur Invasion in den Libanon 1982 "defensive Natur" der israelischen Kriege zurecht. In diesem Rahmen leistet der Autor auch eine Kritik der Ausführungen des amerikanischen Philosophen Michael Walzer wie anderer Israel-Apologeten aus den USA.

Chomskys Seitenhieben auf die zentrale Probleme ignorierende oder völlig verzerrende amerikanische Berichterstattung zum Nahostkonflikt ist anzumerken, daß er sich ausführlich mit der politischen Funktion von Medien auseinandergesetzt hat. Die bisweilen zu feiner Ironie und sarkastischer Verdrehung zugespitzte Diktion seiner Ausführungen bleibt immer im Rahmen der angemessenen Ernsthaftigkeit, mit der der Konflikt angesichts der leidvollen Erfahrungen seiner Akteure zu behandeln ist, ohne jedoch darauf zu verzichten, die Absurdität der Argumentation vieler Apologeten der israelischen Besatzungspolitik zu exponieren.

Der hierzulande als "Sechs-Tage-Krieg" nach wie vor vom Nimbus eines militärisch so spektakulären wie politisch gerechten Erfolgs behaftete Krieg firmiert bei Chomsky als "Eroberungsfeldzug von 1967", so die Überschrift des Kapitels, in dem er den Beginn des bis heute anhaltenden Status Quo der israelischen Okkupation Ostjerusalems, des Westjordanlands und des Gazastreifens unter die Lupe nimmt. Mit der Eroberung dieser Gebiete nahm das Verhängnis eines Neokolonialismus, der der betroffenen Bevölkerung kaum die Luft zum Atmen läßt, seinen Lauf und erhielt die weltpolitische Kontur, die das Geschehen durch die Achse USA-Israel heute mehr denn je bestimmt. Insbesondere Henry Kissinger hat die amerikanische Strategie geprägt, Israel zum Aktivposten der Washingtoner Hegemonialpolitik im Nahen Osten zu machen und zu seinem Schutz wie zur Ausdehnung des Einflusses Washingtons einzelne Staaten aus der damals hinsichtlich der Feindschaft zu dem jüdischen Staat noch geschlossenen arabischen Front herauszubrechen:

"Von 1967 bis 1971 befürworteten die USA den internationalen Konsens über eine diplomatische Regelung auf Grundlage der UN- Resolution 242, die einen vollständigen Friedensschluß bei vollständigem Rückzug Israels aus allen 1967 eroberten Gebieten (mit eventuellen kleineren, wechselseitig anerkannten Modifikationen) vorsah. Als der ägyptische Präsident Sadat diese Bedingungen im Februar 1971 anerkannte (...), mußten die USA sich entscheiden: Wollten sie die bisher von ihnen vertretene Politik fortsetzen oder sich Israels Verweigerungshaltung anschließen? Kissinger befürwortete letzteres: Keine Verhandlungen, nur Gewalt. Er gewann den internen Konflikt und machte die USA zum Vorreiter der Verweigerer, der nun nicht nur die Rechte der Palästinenser ignorierte, sondern auch den von der Resolution 242 geforderten Rückzug nicht mehr akzeptierte. Von da an blockierte Washington alle diplomatischen Bemühungen zu einer Lösung des Konflikts und geriet zunehmend in die Isolation, als die PLO Anfang der achtziger Jahre Verhandlungen zu einer beiderseitigen Annäherung forderte." (S. 304)

Chomsky erinnert mehrfach an diese Friedensinitativen der PLO, die die Legende vom unversöhnlichen Haß der palästinensischen Nationalbewegung auf den Staat Israel überzeugend widerlegen. Viel mehr müßte bei heutigen Friedensverhandlungen in Rechnung gestellt werden, wie sehr sich die Palästinenser bereits bewegt haben und wie wenig dies auf die eigentlich illegitime Partei in diesem Konflikt, die israelische Besatzungsmacht, zutrifft. Allein Chomskys Ausführungen zu den diplomatischen Winkelzügen, die im Rahmen dieses Dreiecks meist zulasten der Palästinenser erfolgten, dürften den Blick des in vielerlei Hinsicht ahnungslosen Publikums radikal verändern. Das gilt auch für seine Erklärungen zum jüdischen Charakter des Staates Israel, die die vorbehaltlose Gleichstellung des Landes mit den säkularen demokratischen Staaten Europas nicht mehr zuläßt.

Der mit Abstand längste, zweite Teil des Buches ist dem Libanonkrieg 1982 unter besonderer Beachtung der Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila wie der Rolle der US-Regierung als vermeintlich unparteiischer Vermittler, tatsächlich aber die israelischen Angreifer begünstigende Partei gewidmet. Da die Invasion in den nördlichen Nachbarstaat Israels vom damaligen Verteidigungsminister Sharon initiiert wurde und man davon ausgehen kann, daß sich seine geostrategischen Vorstellungen bis heute kaum verändert haben, ist die Kenntnis dieses Angriffskrieges zur Beurteilung der aktuellen israelischen Regierungspolitik unverzichtbar. Großen Raum nimmt Chomskys Bewertung der Untersuchung des Massakers durch die israelische Kahan-Kommission ein, die ein Meisterstück an demokratischer Transparenz bei gleichzeitigem Herunterspielen schwerwiegender Belege für die Verantwortung, die Sharon für den Tod von etwa 2000 palästinensischen Flüchtlingen trug, darstellte.

Um die Traumatisierung der Palästinenser durch die lange Geschichte israelischer Unterdrückung zu verstehen, ist auch der dritte Teil über die erste Intifada, die im Dezember 1987 begann und in den Friedensprozeß der frühen neunziger Jahre mündete, von Belang. Chomsky schildert eine Fülle zum Teil persönlich bezeugter Ereignisse, bei denen die palästinensischen Aktivisten trotz ihrer Jugend und der Harmlosigkeit ihres Widerstands von israelischen Soldaten schwer mißhandelt oder gar umgebracht wurden. Die Unbeugsamkeit und Konsequenz des palästinensischen Kampfes gegen die Besatzungsmacht ist nicht zu verstehen, wenn man nicht den bereits entrichteten hohen Preis an menschlichem Leid in Rechnung stellt, der mit einer Unterwerfung unter die zionistischen Pläne zur Lösung des Konflikts vertan wäre.

Chomskys Beurteilung des Friedensprozesses, die er im vierten Teil vornimmt, deckt sich trotz der Tatsache, daß ihre Ausarbeitung etwa auf das Jahr 1997 datiert, mit dem heute von vielen Experten gezogenen Resümee. Demzufolge ging es beim Oslo- Abkommen von vornherein darum, Israels Sicherheitsprobleme zulasten der Palästinenser zu entsorgen, denen zudem die territorialen Vorstellungen der israelischen Siedlungspolitik aufoktroyiert werden sollten, um sie mit einem in allen wesentlichen Belangen unter israelischer Herrschaft stehenden Bantustan von Staat abzuspeisen, der auch noch als Absatzgebiet und Arbeitskräftereservoir der israelischen Wirtschaft gegen die Interessen der israelischen Lohnarbeiter eingesetzt werden könnte.

Im abschließenden fünften Teil lotet Chomsky die "Chancen für den Frieden im Nahen Osten" aus und nimmt dabei eine Analyse des geostrategischen Szenarios der Region vor, die noch einmal deutlich macht, daß es sich bei diesem Konflikt längst um eine weit über Israel und Palästina hinausreichende Auseinandersetzung handelt, die nur im Rahmen eines weltpolitischen Arrangements unter maßgeblicher Beteiligung der USA zu Ende geführt werden kann. Wie dies allerdings erfolgen soll, darauf kann auch Chomsky keine Antwort geben, außer daß er seinen amerikanischen Mitbürgern empfiehlt, im Sinne eines gerechten Friedens zwischen Israelis und Palästinensern, also den bekannten UN-Resolutionen im ursprünglich intendierten Sinne folgend, auf ihre Regierung einzuwirken. Angesichts der Verweigerungshaltung der USA, die Chomsky im aktuellsten Text des Buches, dem Vorwort vom Mai 2002, auch Präsident George W. Bush anlastet, ist es allerdings nicht verkehrt, die Aussichten auf baldigen Frieden skeptisch zu beurteilen:

"Nach wie vor liegt das grundsätzliche Problem darin, daß Washington Israels Weigerung unterstützt, eine politische Lösung gemäß den Vorschlägen der internationalen Gemeinschaft zu akzeptieren. Gegenwärtige amerikanische Modifikationen der Verweigerungshaltung sind rein taktischer Natur. Um die Pläne für einen Angriff auf den Irak nicht zu gefährden, ließen die USA eine UN-Resolution zu, die den Rückzug Israels aus den neu besetzten Gebieten fordert. Der Rückzug müsse 'unverzüglich' stattfinden - was, wie Außenminister Colin Powell sofort erklärte, 'so bald wie möglich' bedeutet. Powells Besuch in Israel wurde aufgeschoben, um der israelischen Armee die Fortsetzung ihrer Zerstörungsoperationen zu ermöglichen." (S. 9)

Unter dem Eindruck der im April 2002 durchgeführten "Operation Schutzwall", bei dem die israelische Armee die palästinensischen Autonomiegebiete im Westjordanland besetzte, schwere Verwüstungen insbesondere in den Ministerien der Palästinensischen Autonomiebehörde anrichtete und die Bevölkerung einer in dieser Härte nie dagewesenen Einschränkung durch Ausgangsperren, Straßenblockaden, Zerstörungen und Hausdurchsuchungen unterzog, fiel es Chomsky naturgemäß schwer, die Hoffnung auf eine gerechte Konfliktlösung zu nähren. Schließlich verfügt der 75jährige Autor über den Erfahrungshorizont des langjährigen Beobachters wie engagierten Friedensaktivisten, der gerade in diesem Konflikt keineswegs Anlaß zu vorschnellem Optimismus gibt. Die imperialistische Agenda und die antiislamischen Tendenzen des von den USA geführten Krieges gegen den Terrorismus verdüstern das Bild zusätzlich, doch gerade deshalb gilt es, sich auf die konkreten Absichten der einzelnen Parteien zu besinnen und keinem Wunschdenken nachzuhängen, das nur zu einer Verkennung der herrschenden Gewalten führen kann.

Zur Gestaltung des Buches lobend zu erwähnen sind die sorgfältig edierten Fußnoten, die praktischerweise am Ende jedes einzelnen Teils plaziert wurden und eine zusätzliche Quelle wichtiger Informationen sind, sowie die Arbeit des Übersetzers Michael Haupt, der die vielen Anglizismen, die sich immer häufiger bei der Übertragung englischsprachiger Sachbücher ins Deutsche einschleichen, dankenswerterweise vermieden hat.


Noam Chomsky
Offene Wunde Nahost
Israel, die Palästinenser und die US-Politik
Das Buch ist als Aktualisierte Sonderausgabe
Europa Verlag, Hamburg, 2003
368 Seiten, 14,90 Euro
ISBN 3-203-76017-7