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REZENSION/165: J. Pauwels - Der Mythos vom guten Krieg (2. Weltkrieg) (SB)


Jacques Pauwels


Der Mythos vom guten Krieg

Die USA und der 2. Weltkrieg



Wer in den fünfziger und sechziger Jahren in Westeuropa oder den USA auf die Welt gekommen ist, durfte als Kind die große Zeit des Kriegsfilms miterleben. In unzähligen spannenden Streifen wie "Der längste Tag", "Die Brücke am Kwai" oder "Gesprengte Ketten" wurde man entweder im Kino oder am heimischen Fernseher Zeuge, wie die unbezwingbaren und mutigen Helden der Leinwand, John Wayne, Robert Mitchum, Audie Murphy, Steve McQueen und viele mehr, die fiesen, sich selbst überschätzenden Nazis und die fanatischen, grausamen Japaner in die Knie zwangen und so die Welt vor Barbarei und Diktatur retteten. Ungeachtet der Tatsache, daß die aufs Kindergemüt maßgeschneiderte Hollywood-Version des größten Abschlachtens in der Menschheitsgeschichte so wenig mit den tatsächlichen historischen Begebenheiten gemeinsam hat wie die bereits in der Vorbereitungsphase befindliche Verfilmung der "Rettung der Gefreiten Jessica Lynch" mit dem jüngsten angloamerikanischen Einfall in den Irak, prägt sie bis heute maßgeblich das Weltbild der meisten Erwachsenen im westlichen Kulturraum. Den Beweis dieser These liefern unsere Politiker selbst, die fast jeden Gegner - ob Slobodan Milosevic, Saddam Hussein oder Kim Jong-il, sei dahingestellt - schnell zum neuen Adolf Hitler erklären und im Krisenfall jedes mögliche Zugeständnis gegenüber einem ihnen mißliebigen "Regime" mit dem Abkommen von München vergleichen.

Nämlichem Umstand verdankt sich die Tatsache, daß der Mythos vom "guten" Zweiten Weltkrieg ständig gepflegt und erneuert wird. Nach einer Phase in den siebziger und achtziger Jahren, in der es unter dem Eindruck des schockierenden Gemetzels in Vietnam fast nur noch Antikriegsfilme à la Apocalypse Now und Full Metal Jacket gab, führten der Kollaps der Sowjetunion und das Ende des Kalten Krieges zum neuen Aufblühen des Kriegsfilmes mit Megastreifen wie Steven Spielbergs "Der Soldat Ryan", Ridley Scotts "Black Hawk Down" und zuletzt Jerry Bruckheimers "Pearl Harbor". Nicht umsonst fühlten sich alle Medienkonsumenten angesichts der Krise im Kosovo an Spielbergs Holocaust-Drama "Schindlers Liste" erinnert, als die Verteidigungsallianz NATO im Frühjahr 1999 plötzlich zur "humanitären" Interventionsmacht mit globalen Anspruch mutierte. Unvergessen bleibt die Parole "Nie wieder Auschwitz", mit der der damals frischgebackene Bundesminister des Auswärtigen, Joschka Fischer, der Grünenpartei ihre letzten pazifistischen Zuckungen austrieb, den Überfall auf Jugoslawien rechtfertigte und sich selbst zum Staatsmann von Weltformat aufschwang.

Weitere Zeugnisse für die unglaubliche Hartnäckigkeit des Mythos vom "guten" Zweiten Weltkrieg sind US-Fernsehmoderator Tom Brokaws Bestsellerbuch "The Greatest Generation", eine an Selbstzufriedenheit kaum zu überbietende Huldigung der amerikanischen Veteranen jenes Konfliktes, das Buch "A Band of Brothers" von Steven Ambrose, das vor kurzem als aufwendige Fernsehserie von Steven Spielberg und Tom Hanks produziert wurde, sowie die Art und Weise, wie die US-Medien nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 Präsident George W. Bush unverhohlen zu einer Art zweitem Winston Churchill und die Jagd auf die Osama-Bin-Laden-Truppe zum manichäischen Endkampf mit dem "Bösen" aufgebauscht haben.

Angesichts des Ausmaßes an Volksverdummung wäre eigentlich jedem dringend anzuraten, das Buch "Der Mythos vom guten Krieg - Die USA und der 2. Weltkrieg" von Jacques Pauwels zu lesen. Der aus Belgien stammende, seit Jahren in Kanada lebende Philosoph und Politikwissenschaftler hat sich den eigenen Angaben nach vorgenommen, mit diesem Werk "eine Synthese" der wichtigsten und zum Teil kontroversen Erkenntnisse vorzulegen, die seit den sechziger Jahren aus den Studien der meist linksorientierten, sogenannten "revisionistischen" Historiker zum Thema des Zweiten Weltkrieges hervorgehen.

Ohne Umschweife kann man Pauwels bescheinigen, die selbstgesteckte Aufgabe meisterhaft bewältigt zu haben. Denjenigen, die sich weniger für Geschichte interessieren, kann gesagt werden, daß das Buch ungemein spannend geschrieben ist und einem die Augen öffnen dürfte. Doch auch denjenigen, die bereits mit den Schriften von US- Historikern wie Gar Alperovitz, Edwin Black, Noam Chomsky, Carolyn Woods Eisenberg, Gabriel Kolko, Michael Parenti oder William Appleman Williams vertraut sind und sich beispielsweise über die allen Seiten gewinnbringende Zusammenarbeit zwischen amerikanischen Großkonzernen wie Ford, GM, IBM, ITT und Standard Oil mit den wichtigsten Unternehmen der Nazi-Wirtchaft wie der Deutschen Bank, Focke-Wulf, I. G. Farben, Opel und Siemens - sogar während des Krieges - im klaren gewesen sind, bietet das Buch eine ganze Fülle interessanter Details.

Hierzu gehört die Tatsache, daß während des Zweiten Weltkrieges "General Motors und Ford nicht weniger als die Hälfte der deutschen Panzerproduktion" repräsentierten, daß "die Fordwerke über ihre Tochterfirma Arendt an der top secret gehaltenen Entwicklung der Turbinen für die berüchtigten V-2-Raketen beteiligt" waren und daß Bayer in Leverkusen von alliierten Bombenangriffen verschont wurde, weil dort "gewisse Medikamente gegen Tropenkrankheiten hergestellt wurden, die die US-Armee im Stillen Ozean dringend benötigte und die sie über die Schweiz und Portugal erhielt". Wer sich hier an US- Präsident Calvin Coolidges berühmte Feststellung "The Business of America is Business" beziehungsweise an die generalstabsmäßigen Schiebereien eines Milo Mindbender in Joseph Hellers Kriegssatire "Catch 22" erinnert fühlt, liegt richtig.

Pauwels zeigt auf, daß die USA nicht bereits mit Franklin D. Roosevelts New Deal, sondern erst durch die Beteiligung am Zweiten Weltkrieg und dem damit einhergehenden Militärkeynesianismus den Weg aus der Großen Depression der dreißiger Jahre fanden. Dieser Umstand erklärt auch zum Teil, warum die US-Wirtschaft nach 1945 den Kalten Krieg brauchte, um somit die gigantischen Ausgaben für den eigenen militärisch-industriellen Komplex zu rechtfertigen. Doch gleichzeitig diente der Kalte Krieg dazu, sozialreformistische Ansätze als kommunistisches Teufelswerk verteufeln und bekämpfen zu können.

Interessant sind auch die Ausführungen Pauwels über die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges und die Entscheidung der Regierung von Harry Truman, die Atombombe gegen Japan einzusetzen. Wie Pauwels zeigt, sind die meisten Historiker inzwischen der Meinung, daß dieser Schritt zur Beendigung des Krieges gegen Japan nicht erforderlich, sondern in erster Linie als gigantische Einschüchterungsmaßnahme gegenüber der Sowjetunion gedacht war. Weniger bekannt dürften die ebenfalls im Buch aufgeführten Erkenntnisse sein, wonach der massive Bombenangriff auf Dresden im Februar 1945 ebenfalls als eine an den Kreml gerichtete Demonstration der Feuerkraft der angloamerikanischen Luftstreitmacht dienen sollte.

Recht überzeugend vermittelt Pauwels einen Eindruck von Krieg als Fortsetzung der Politik - speziell der Wirtschaftspolitik - mit anderen Mitteln. Hinter dem Lend-Lease-Arrangement beispielsweise, mittels dessen Großbritannien Rüstungsgüter für den Kampf gegen Nazi- Deutschland erhielt, haben die USA nicht nur die meisten Kolonien Londons in der Karibik einheimsen, sondern auch den eigenen Konzernen den Zugang zu dem bis dahin abgeschotteten Wirtschaftsraum des British Empire verschaffen können. Zu der in den dreißiger Jahren sich zuspitzenden Konfrontation zwischen Washington und Tokio schreibt Pauwels:

Als Absatzmarkt für Exportprodukte sowie als Quelle billiger Rohstoffe und Arbeitskräfte waren die Gebiete auf der anderen Seite des Stillen Ozeans für die USA von großer - und wachsender - Bedeutung. Aber sie mußten dort immer mehr mit einem aggressiven Konkurrenten rechnen, der seine eigenen imperialistischen Ambitionen in demselben geographischen Gebiet zu realisieren versuchte, und zwar vor allem im gummi- und ölreichen Südostasien. Dieser Konkurrent war Japan, das Land der 'aufgehenden Sonne', das auch nicht vor Gewaltmaßnahmen zurückschreckte, um sein eigenes Einflußgebiet in Korea, China und anderswo im Fernen Osten auszubauen. Was die Vereinigten Staaten störte, war nicht so sehr die Tatsache, daß Tokio die chinesischen und koreanischen Nachbarn als Untermenschen unterdrückte, sondern der Umstand, daß Japan in diesem Teil der Welt seine eigene 'geschlossene Wirtschaft' errichtete, zu der es den US-amerikanischen Konkurrenten keine 'offene Tür' zugestand. Als diese in Tokio dagegen protestierten, boten die Japaner an, in China 'das Prinzip der nicht- diskriminierenden Handelsbeziehungen' unter der Bedingung anzuwenden, daß die USA versprächen, in ihrem Einflußgebiet in Lateinamerika dasselbe zu tun. Washington wünschte sich Gegenseitigkeit jedoch nur in der Einflußzone der anderen imperialistischen Mächte und nicht im eigenen politischen und wirtschaftlichen Hinterland und verwarf das japanische Angebot.

Wie man sieht, hat Washington schon immer seine "Open Door"-Politik, die heute weniger über befreundete Diktaturen als unter den Stichworten des "freien Handels", der "Demokratie" und der "Menschenrechte" durchgesetzt und von IWF und Weltbank auf globaler Ebene forciert wird, zum eigenen Vorteil ausgelegt. In einem ansonsten höchst aufschlußreichen und kritischen Buch schwenkt Pauwels in der Bewertung des Ausgangs des damaligen Streits zwischen Tokio und Washington unerklärlicherweise auf die alte Leier vom "Überraschungsangriff" der Japaner am 7. Dezember 1941 auf Pearl Harbor ein und räumt lediglich ein, daß er "in gewisser Hinsicht" von der Regierung Roosevelts "provoziert" worden war. Bereits damals war sich zum Beispiel Charles Beard, der größte US-Historiker seiner Zeit, im Klaren darüber, daß Pearl Harbor für Washington überhaupt keine Überraschung, sondern das willkommene Instrument gewesen war, um endlich den großen Widerstand der eigenen Bevölkerung gegen einen Beitritt zum Weltkrieg zu brechen. Weil Beard keinen Hehl aus seiner provokanten These machte, wurde er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den frühen Tod gehetzt.

Dank der Freigabe zahlreicher US-Regierungsdokumente in den letzten Jahren sind immer mehr Beweise für die Richtigkeit der These Beards aufgetaucht. In seinem 1999 erschienen Werk "Tag des Betrugs: Die Wahrheit über FDR und Pearl Harbor" hat der US-Marinehistoriker Robert Stinnett dargelegt, warum Washington aus nachvollziehbaren militär-strategischen und wirtschaftlichen Gründen den Erstschlag des kaiserlichen Japans gezielt provoziert hat. Wichtigstes Beweisstück Stinnets war ein geheimes, auf den 7. Oktober 1940 datierendes Memorandum von Kapitänleutnant Arthur McCollum, einem hochrangigen Offizier beim Office of Naval Intelligence (ONI) - dem Geheimdienst der US-Marine. Mit jenem Memorandum hatte McCollum der Regierung in Washington einen Plan vorgelegt, wie man einen Krieg mit Japan provozieren und damit auch eine Kriegserklärung Deutschlands gemäß der Beistandsverpflichtung des Dreimächtepakts herbeiführen könnte. Hierzu gehörten acht verschiedene Maßnahmen, mittels derer eine militärische Antwort Tokios erzwungen werden sollte. Ein Schlüsselement der McCollum-Strategie bestand darin, die US- Pazifikflotte eigens als Köder für einen japanischen Überraschungsangriff auf Hawaii stationiert zu halten. Diese Strategie hat Roosevelt dann auch nachweislich konsequent und zum Teil gegen einigen Widerstand in Washington erfolgreich in die Tat umgesetzt.

Vor allem, weil Pauwels "Mythos vom guten Krieg" dermaßen viele und wichtige Rückschlüsse auf die US-Außenpolitik bis zum heutigen Tag erlaubt und ihre grundlegende Kontinuität freilegt, ist es schade, daß der Autor die offizielle Version vom "Überraschungsangriff" auf Pearl Harbor hat stehen lassen. Die Beibehaltung der politisch- korrekten Interpretation dieses Ereignisses ist um so bedauerlicher, weil es gerade die Schablone bietet, nach der, wenn es nach dem Willen der Regierung von George W. Bush geht, alle "guten Menschen" die Flugzeuganschläge vom 11. September und den anschließenden Antiterrorkrieg Washingtons "verstehen" sollen.

13. August 2003


Jacques R. Pauwels
Der Mythos vom guten Krieg - Die USA und der 2. Weltkrieg
Aus dem Flämischen (Originaltitel: "De mythe van de 'goede vorlog'.
Amerika en de Tweede Wereldoorlog") von Renate Heike van der Laan,
zweite verbesserten und erweiterten Auflage
PapyRossa Verlag, Köln, 2003
297 Seiten, 16,50 Euro
ISBN 3-89438-220-1