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REZENSION/156: Helen Caldicott - Atomgefahr USA (Rüstungspolitik) (SB)


Helen Caldicott


Atomgefahr USA

Die nukleare Aufrüstung der Supermacht



Dieser Tage jagt eine Schreckensnachricht die andere: unabhängige US- Forscher stellen schwere Strahlenschäden und enorm hohe Radioaktivitätswerte bei der Bevölkerung in Afghanistan fest; Nordkorea droht den USA offen mit nuklearen Vergeltungsschlägen, sollte Washington die Konfrontation mit Pjöngjang weiter eskalieren lassen; das General Accounting Office (GAO) des US-Kongresses, vergleichbar dem deutschen Bundesrechnungshof, warnt in seinem jüngsten Bericht davor, daß der Drang der Regierung von George W. Bush, bereits bis zum Wahljahr 2004 die ersten Elemente eines Raketenabwehrsystems für die USA installiert zu haben, dem Land die teuerste Fehlinvestition seiner Geschichte bescheren könnte; zwei Monate nach dem "Regimewechsel" in Bagdad bricht das Lügengebäude von Pentagon und Weißem Haus hinsichtlich der Gefährlichkeit Saddam Husseins für den Weltfrieden angesichts der immer offensichtlicheren Nicht-Existenz der irakischen Massenvernichtungswaffen wie ein Kartenhaus zusammen; nichtsdestotrotz nimmt US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Islamische Republik Iran als nächstes Zielobjekt ins Visier. Was diese höchst beunruhigenden Nachrichten verbindet, sind die langfristigen und hochgefährlichen Ambitionen des militärisch-industriellen Komplexes der USA hinsichtlich einer dauerhaften Herrschaft Washingtons über die ganze Welt - ein Phänomen, das die Ärztin und langjährige Friedensaktivistin Helen Caldicott in ihrem höchst empfehlenswerten Buch "Atomgefahr USA" detailliert und kenntnisreich aufgreift.

Die aus Australien stammende Caldicott lehrte als Professorin Pädiatrie an der Harvard Universität und kämpft seit mehr als 25 Jahren gegen nukleare Aufrüstung. Sie war an der Gründung der renommierten Friedensorganisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (International Physicians for the Prevention of Nuclear War - IPPNW) beteiligt und steht seit einigen Jahren nun dem in Los Angeles ansässigen Nuclear Policy Research Institute als Präsidentin vor. In den letzten Jahren hat sie mit fundierten Artikeln in angesehenen liberalen Zeitungen wie dem Londoner Independent, dem San Francisco Chronicle oder dem Sydney Morning Herald immer wieder auf die von Uran-Munition, einem Einmarsch in den Irak und von den Plänen der Bush-Regierung für eine nukleare Aufrüstung und den Bau eines Raketenabwehrsystems ausgehenden Gefahren hingewiesen.

Im vorliegenden Buch "Atomgefahr USA" räumt Caldicott mit der derzeit weitverbreiteten Annahme auf, der hochaggressive, außen- und sicherheitspolitische Kurs der Bush-Regierung stelle eine historische Ausnahme dar. Vielmehr belegt sie die der amerikanischen Rüstungspolitik innewohnende Kontinuität. Die jetzigen Taktgeber am Hofe von Bush jun. - Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, dessen Vize Paul Wolfowitz, Pentagon-Berater Richard Perle, Vizepräsident Dick Cheney - treten seit den Tagen Richard Nixons für eine weltweite, auf Waffenüberlegenheit gründende Pax Americana ein. Rumsfeld beispielsweise torpedierte bereits Mitte der siebziger Jahre als US-Verteidigungsminister unter Gerry Ford Henry Kissingers SALT- II-Verhandlungen mit Moskau, während Perle, unter Ronald Reagan der im Pentagon für Abrüstungsfragen zuständige Staatssekretär, mit seinen ständigen Drohungen in Richtung Moskau den Spitznamen "Fürst der Finsternis" verdient hat. Diese Männer, die als Neokonservative firmieren, eint der Glaube an die historische Führungsmission Amerikas, an die Allianz mit Israel sowie an die eigene Lehre vom siegreich zu führenden Atomkrieg. Wie Caldicott zu berichten weiß, halten die meisten CIA-Mitarbeiter sie für "Absolutisten", die "mehr als ein bißchen dumm" sind.

Doch wenn die Bushmänner so dumm sind, stellt sich die Frage, wieso sie diejenigen sind, welche seit zweieinhalb Jahren die internationale Politik bestimmen, die Staatenwelt nach den eigenen Vorstellungen umkrempeln, und wie es ihnen gelungen ist, den US- Wehretat auf die astronomische Summe von über 400 Milliarden Dollar im Jahr anzuheben. Wie kommt es, daß sie die USA, Großbritannien und Australien in einen illegalen Angriffskrieg gegen den Irak führen konnten, obwohl es vorher im UN-Sicherheitsrat erbitterten Widerstand und rund um die Welt die größten Friedensdemonstrationen seit Jahrzehnten gab und obwohl die amerikanischen und britischen Geheimdienste nicht einmal an die Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen glaubten? Die Antwort findet sich vor allem in den personellen und institutionellen Verbindungen der Bush- Regierung zur US-Rüstungsindustrie. Der Bechtel-Konzern beispielsweise, der ohne Ausschreibung den lukrativen Auftrag für den "Wiederaufbau" des Iraks erhalten hat, ist nicht nur Amerikas größtes Bauunternehmen, sondern betreibt unter anderem im Auftrag des US- Energieministeriums das Atomtestgelände in Nevada.

Im Kapitel "Der Wahnsinn der Konzerne und die Todeshändler" zeichnet Caldicott ein düsteres Bild der amerikanischen Demokratie. Die von ihr aufgeworfene Frage, wer in Washington das Sagen hat, beantwortet die Autorin selbst:

Die internationalen Konzerne, deren leitende Angestellte die Amtsinhaber im Weißen Haus und im US-Kongress - vom Präsidenten und Vizepräsidenten bis zum letzten gewählten Kongressmitglied - zum Essen ausführen, sie umwerben, bestechen und korrumpieren. Diese allmächtigen Konzerne manipulieren und kontrollieren den überwiegenden Teil der amerikanischen Gesetzgebung zur Innen- und Außenpolitik, die den Kongreß durchläuft. Sie bedienen sich dazu der unterschiedlichsten Mittel: Denkfabriken (so genannter Think Tanks), Firmenfusionen, Lobbyarbeit und Parteispenden.

Daß diese etwas übertrieben klingende Einschätzung der Realität entspricht, belegt Caldicott mit zahlreichen Anekdoten, Fakten und Zahlen. Der Autorin gelingt es, ein anschauliches Bild des gigantischen Ausmaßes des militärisch-industriellen Komplexes der USA zu zeichnen und damit das immanent expansive Machtstreben Washingtons nachvollziehbar zu machen. Eine Kriegswirtschaft kommt logischerweise ohne Krieg und ohne Feinde nicht aus.

Die engagierte Friedensaktivistin widmet jeweils ein Kapitel der umfassenden, fast heimlich betriebenen Atomwaffenforschung der USA während der Ära Bill Clintons, der pannengeplagten Geschichte der amerikanischen Raketenabwehr seit den sechziger Jahren, den Nuklearkriegsstrategien des Pentagons, den Plänen Washingtons zur Militarisierung des erdnahen Weltraums sowie den grausamen Folgen des menschenverachtenden Einsatzes von Uran-Munition beim ersten Golfkrieg 1991 und beim sogenannten Kosovo-Krieg 1999. In einem umfangreichen Anhang werden auch aufschlußreiche, interessante und nützliche Daten zu den wichtigsten US-Rüstungsgiganten, US- Atomwaffenkontrollzentren und Regierungebehörden, den größten Standorten einsetzbarer US-Atomwaffen sowie zu den aktivsten internationalen Friedensinitiativen und Abrüstungsorganisationen präsentiert.

Leider muß man Caldicott in ihrem gegen Ende des Buches präsentierten Lösungsansatz für das Problem der nuklearen Aufrüstung eine gewisse Blauäugigkeit attestieren. Sie schlägt beispielsweise vor, das Pentagon aufzulösen und es den Vereinten Nationen zu unterstellen. Doch ob man damit zu einem anderen oder besseren Ergebnis als bei der von Donald Rumsfeld und Richard Perle favorisierten Vorgehensweise - nämlich die Vereinten Nationen dem Pentagon zu unterstellen - käme, ist zweifelhaft. Enttäuschend ist auch Caldicotts Aufruf zu "einer Zusammenarbeit ... aller Nachrichtendienste - MI5, MI6, Mossad, FBI, CIA, NSA", um den "internationalen Terroristen" das Handwerk zu legen, wo doch nicht einmal sicher ist, daß es die Letztgenannten ohne die Aktivitäten der Geheimdienste Großbritanniens, Israels und der USA überhaupt geben würde. So ist beispielsweise Osama Bin Laden ein früherer und möglicherweise noch immer aktiver Mitarbeiter der CIA, währen der Mossad bekanntlich die Hamas jahrelang als religiöse Opposition zur säkularen PLO aufgebaut hat. So gesehen kann man schwerlich der aggressiven neuen Militärdoktrin der USA gerecht werden, ohne deren wichtigste Grundaxiome wie die postulierte Existenz von "Terroristen" und "Schurkenstaaten" prinzipiell in Frage zu stellen.

Caldicott kann man ihrem offensichtlichen Glauben an eine heile Welt verzeihen, denn ohne ihn hätte sie womöglich nicht ihre couragierte Arbeit der letzten Jahrzehnte vollbracht und das wichtige Buch "Atomgefahr USA" gar nicht erst geschrieben. Was man weniger verzeihen kann, sind einige gravierende fehlerhafte Angaben, welche ihr Buch - jedenfalls in der deutschen Fassung - enthalten. So wird auf Seite 259 beispielsweise die Menge der im Golfkrieg 1991 eingesetzten Uranmunition mit 300.000 bis 800.000 Tonnen angegeben. Der größte Lapsus jedoch stellt die zweimalige Behauptung - Seite 159 und Seite 162 -, wonach feindliche Sprengköpfe oder Wasserstoffbomben, welche das US-Raketenabwehrsystem abfangen sollte, mit mehrfacher Lichtgeschwindigkeit (!) durch den erdnahen Weltraum reisten. Entweder das, oder die nordkoreanischen Wissenschaftler haben unter erschwerten Bedingungen und trotz mangelnder Ressourcen einen atemberaubenden Technologiesprung vollzogen, den niemand bisher zur Kenntnis genommen hat...

- 10. Juni 2003


Helen Caldicott
Atomgefahr USA
Die nukleare Aufrüstung der Supermacht
Aus dem Englischen (Originaltitel: The New Nuclear
Danger) von Andrea Panster
Heinrich Hugendubel Verlag, München, 2003
400 Seiten
ISBN 3-7205-2385-3.