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REZENSION/146: Phosphor · Ein Element auf Leben und Tod (Chemie) (SB)


John Emsley


Phosphor

Ein Element auf Leben und Tod



Es schien mir nahezu unmöglich, daß sich jemand die Mühe gemacht haben sollte, ein ganzes Buch über nur ein einziges der mindestens 108 Elemente des Periodensystems zu schreiben (kürzlich erzeugte nicht mitgerechnet). Nach Lektüre des 311 Seiten umfassenden Werkes von John Emsley, bei der es mir keine Minute langweilig wurde und die durchaus jedem Laien zu empfehlen ist, halte ich es allerdings für bedauernswert, daß zu den anderen oder zumindest zu den neunzig auf der Erde natürlich vorkommenden Elementen nicht auch entsprechende Bücher verfaßt wurden. Schließlich sollten Schwefel, Stickstoff, Chlor, Kohlenstoff usw. eine nicht weniger martialische bzw. schreckliche, somit nachdenkenswerte Vergangenheit haben.

Nun schreibt der Autor eingangs in seiner Danksagung, es handele sich bei dem Buch quasi um das Abfallprodukt einer umfassenden Recherche, deren Geschichten aber den Rahmen des dafür vorgesehenen Lehrbuchs gesprengt hätten und vielleicht auch zu weitschweifig gewesen wären, so daß er sie für populärwissenschaftliche Artikel, einen Radiovortrag und schließlich dieses Buch verwendet habe. Die unerwartete Resonanz, auf die diese Zufallsprodukte stießen (die im BBC Radio 4 ausgestrahlte Sendung gewann sogar den Glaxo Award für populärwissenschaftliche Produktionen und den Sony Award für denkwürdige Radioprogramme), sollte mir eigentlich recht geben, daß Ausführlichkeit und Sorgfalt in der naturwissenschaftlichen Recherche, die vor allem auch gesellschaftliche Entwicklungen mit einbezieht, in den heutigen Lehrbüchern und im Chemieunterricht an den Schulen eigentlich schmerzlich vermißt werden.

Gerade in diesem "Jahr der Chemie" werden wir in den Medien häufiger mit Beiträgen konfrontiert, die in wenigen Minuten mit sekundenschnellen Einblendungen bildreich und multimedial einen Bogen von der Alchimie zur Nanochemie oder Molekularbiologie und Gentechnik schlagen, aber in ihrer Zusammenhanglosigkeit und Wortlosigkeit weder didaktisch noch konstruktiv etwas zum Verständnis der Chemie und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung beitragen. Das gleiche gilt für den Chemieunterricht dieser Tage, in dem viel zu viel Stoff in zu kurzer Zeit bewältigt werden muß. Das führt dazu, daß Chemiebücher mit Bildern und Bildunterschriften, Graphiken und Tabellen überfrachtet sind, die dem Schüler oder Studenten im Comicstil die wichtigsten Stichworte und Merksätze einimpfen sollen, mit dem zweifelhaften Erfolg, daß sie nur bis zur nächsten "Multiple Choice"-Klausur im Gedächtnis bleiben - wenn überhaupt.

Das Buch von John Emsley ist hier ganz anders. Nur sehr sparsam schwarz-weiß illustriert und geradezu altmodisch wortreich beginnt es ganz am Anfang der Chemiegeschichte und läßt auch marginale gesellschaftliche Veränderungen nicht aus.

Vielleicht vom Autor ganz unbeabsichtigt wird hier anhand nur eines einzigen Elements deutlich, wie sehr naturwissenschaftliche und gesellschaftspolitische Geschichte miteinander verflochten sind, so daß sich der Leser und möglicherweise angehende Wissenschaftler oder Chemiker zwangsläufig mit der eigenen Verantwortung auseinandersetzen muß, die er mit jeder Art von Forschung unmittelbar übernimmt.

Die Geschichte des Phosphor, in der Machtinteressen einerseits und menschlicher Neugier andererseits die elementare Rolle spielten, wiederholt sich in den unterschiedlichsten Variationen (Fachbereichen wie Forschungsthemen) immer wieder:

So zeigt Emsley, wie die Alchimisten, vom "goldenen Strom", dem Urin, fasziniert, eigentlich ganz zufällig und ohne Wissen über Chemieunfälle, Sicherheitsprüfungen, Toxikologie oder Umweltverschmutzung, an einen der gefährlichsten Stoffe der Welt gerieten, den sie zur Festigung ihres Ansehens zunächst mit Quacksalberei und allerlei Hokuspokus in die Welt setzten.

Auch die weitere Geschichte des Phosphors verläuft, wie der Autor selbst sagt, "wahrhaft schrecklich", und das liegt ganz offensichtlich am unseligen Zusammentreffen menschlicher Denkgewohnheiten, nach schnellen Antworten und Lösungen zu suchen sowie voreilig Schlüsse zu ziehen, und dem spektakulären Wirkungsspektrum des Phosphors und seiner zahlreichen Verbindungen.

So hielt man Phosphor allein aufgrund der Tatsache, daß er aus Exkrementen gewonnen werden konnte und aus eigener Kraft leuchtete, womit er folglich kausallogisch das Lebenslicht enthalten müsse, noch bis ins 19. Jahrhundert hinein für ein Heilmittel, das in seiner willkürlichen therapeutischen Anwendung vielen Menschen das Leben raubte.

Für den menschlichen Organismus ist reiner Phosphor ein starkes Gift, weshalb es sich - leicht zugänglich als Rattengift - auch bei Giftmördern großer Beliebtheit erfreute. Und so erzählt das Buch ebenso ungeschminkt über die spektakulären Gattenmorde der Mary Wilson, die ihre drei Ehemänner nacheinander mit phosphorgewürzten Speisen ums Leben brachte, wie auch über die verheerenden Zustände in der phophorverarbeitenden Streichholzindustrie, die in England zu Beginn der Industrialisierung traurige Berühmtheit erlangten.

Quellengetreu wird hier die Ausbeutung vor allem von Kindern und Frauen geschildert, die nicht nur unter gesundheitsschädlichen Bedingungen für einen Hungerlohn arbeiteten, sondern auch noch Geldstrafen für Fehlleistungen oder Arbeitsausfall zahlen mußten, denen Kosten für Farbe, Pinsel und Etiketten vom Lohn abgezogen wurden, und die ihre nötigen Zuträger oder Hilfskräfte bei der Arbeit noch selbst entlohnen mußten. Doch auch später durchgesetzte bessere Arbeitsbedingungen und Entlastungen können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Streichholzmacher, bzw. laut Emsley "weißen Sklaven in London", den revolutionären Fortschritt der Wissenschaft und der Menschheit schließlich auch noch mit schlimmsten Schmerzen und dem Leben bezahlten:

"Einen typischen Fall der Phosphornekrose beschreibt 1865 Dr. T. Smith in der ersten Ausgabe des St. Bartholomew's Hospital Report. Dieses Krankenhaus war damals die führende Heilstätte der britischen Hauptstadt. Hier war ein Patient eingetroffen, dessen Gesicht stark geschwollen war und der keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen konnte; infolge dessen war er deutlich unterernährt. Über den 35 Jahre alten Lucifer-Macher lesen wir:
Von einem Ohr zum anderen, über den Kieferknochen hinweg zog sich eine Linie aus offenen Geschwüren, aus denen ein übelriechender Eiter floß und unter welchen mit einer Sonde totes Knochengewebe getastet werden konnte. Im Mund waren die Knochen unter den Weichteilen freigelegt, sie erschienen rauh und braunschwarz. Das Zahnfleisch klaffte vom toten Kieferknochen und war weiter zurückgegangen, als es dem natürlichen Stand entspricht. Eine Sonde konnte mühelos an beiden Seiten von vorne und hinter den Knochen bis zu den Sinus im Nacken geführt werden." (Emsley, Phosphor - ein Element auf Leben und Tod, S.103)

Emsley bleibt nicht bei diesem einen Beispiel und aus seinen sachlichen, aber nicht wertenden, gründlichen Recherchen geht hervor, daß die Leiden und Qualen der zahlreichen Ausbeutungsopfer dieser Industrie hier keinesfalls zuende waren. Sie wurden vielmehr zu willkommenen Forschungsobjekten der Medizin, die sich an ihnen mit zahllosen Experimenten, Extraktionen, Amputationen und Prothesetechniken bis zu ihrem unabwendbaren Tod schadlos hielt. Daß Resultate jener Verstümmelungsexperimente eine gewissen Ähnlichkeit mit den Protagnoisten der gerade aufkommenden phantastischen und Horror- Literatur besaßen, ist wohl kein Zufall.

Die Zahl an Menschenopfern durch nach heutigem Wissensstand unsachgemäße Handhabung des brisanten Materials wird nur noch durch den Tod und die Verwüstung übertroffen, die britische Brand- und Phosphorbomben Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland anrichteten. Auch hier stellt der britische Autor die gesamte Entwicklung dar, von den ersten Phosphornebelgranaten im ersten Weltkrieg und den deutschen wasserstoffgefüllten Zeppelinen, deren unbedeutende Bombenangriffe 1915 über London aber schon eine unverhältnismäßige Panik auslösten, bis zu den menschenverachtenden Verwüstungen der britischen Operation Gomorrah in den letzten Julitagen in Hamburg 1943, die allein mindestens 37.000 Todesopfer forderte.

Man könnte meinen, daß die Rolle, die Phosphor darüber hinaus in den sogenannten Gift- und Kampfgasen (Sarin) oder als Organophosphate in Pflanzenschutzmitteln spielt, dieser verheerenden Gewalt gegenüber kaum noch ins Gewicht fällt.

Doch wurden inzwischen u.a. durch den Phosphateintrag in fließende Gewässer (Eutrophierung durch Waschmittel) und Emissionen der chemischen Industrie mit einer weitaus größeren und breitflächigeren und somit perfiden Verteilung von umwelttoxischen Phosphorverbindungen als unabwendbare Folge dieser langen Phosphor- und Chemiegeschichte und natürlich in synergistischem Zusammenwirken mit anderen emittierten Schadstoffen die Lebensbedingungen für alle Lebewesen dieser Erde merklich verschlechtert.

Obwohl der Autor am Ende des Buches in seinem Epilog die Geschichte des Phosphors noch mit einer "runden Ecke" (nach dem Motto: es gibt auch "gute" Chemie) abzuschließen sucht - denn als passionierter Chemiker, will er die Fortschritte seiner Wissenschaft nicht wirklich in Frage stellen - läßt die ansonsten wertfreie geschichtliche Darstellung des Buches dem Leser genügend Raum und Material für die eigene Stellungnahme. So schließt Emsley seinen umfassenden Bericht zwar mit den Worten:

Ist die schreckliche Geschichte des Phosphors nun beendet? Können wir in eine goldene Zukunft blicken, in der die Menschen nur noch von den nützlichen Eigenschaften des Elements profitieren? Ich denke schon. Wir haben dem Element in der Vergangenheit zuviel Freiheit gelassen, weil es uns in die Hände gegeben wurde, bevor wir seine enormen Fähigkeiten richtig einschätzen konnten... Zweifellos wäre in jedem Fall der Zeitpunkt gekommen, in dem man den Phosphor gerufen hätte, um des Teufels Werk zu tun. Hoffen wir für das anbrechende Jahrtausend, daß dieses Werk nun vollbracht ist.

Doch läßt sich diese Hoffnung angesichts der überwältigenden Spur an Zerstörungen, die das Element hinterließ, nur schwer teilen. Zum einen halten wir noch heute viele Elemente, aber auch Verbindungen und sogar Techniken für harmlos und unschädlich, deren Möglichkeiten noch gar nicht vollständig bekannt sind und die durchaus ähnliche Ungeheuerlichkeiten nach sich ziehen könnten. Zum anderen - und das läßt sich anhand der vorliegenden Fakten sehr gut nachvollziehen - handelt es sich hier in allen beschriebenen Beispielen um das Werk des Menschen (und keiner jenseitigen oder teuflischen Instanz), der allein aus seinem Macht- und Herrschaftsanspruch und eigenem Selbstverständnis heraus bereit war und ist, andere Menschen und Lebewesen zu "opfern".

Die jüngere Geschichte macht deutlich, daß dieses Werk noch lange nicht vollbracht ist, und daß die Geschichte des Phosphors wie die aller anderen chemischen Elemente weiter geht. Denn in allen Phasen der Geschichte, angefangen von den Alchimisten bis in unser Jahrhundert, waren es ausschließlich diese Machtinteressen, die Forschung überhaupt ermöglicht haben. Diese vielleicht vom Autor gar nicht beabsichtigte, aber grundlegende Aussage des Buches würde aber gerade in Unterricht und Lehre wertvolle Denkanstöße geben. Schade, daß es ausgerechnet hier keinen Platz findet und "nur" als populärwissenschaftliches Abfallprodukt gilt.


John Emsley
Phosphor · Ein Element auf Leben und Tod
Übersetzt von Anna Schleitzer
Wiley-VCH Verlag GmbH, Weinheim 2001
311 Seiten
ISBN 3-527-30421-5