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REZENSION/105: medico international - Die Gewalt überleben (Report 23) (SB)


hrsg. von medico international


medico Report 23

Die Gewalt überleben

Psychosoziale Arbeit im Kontext von Krieg, Diktatur und Armut



Das Geschäft von Nichtregierungsorganisationen wie medico international steht und fällt zu einem Gutteil mit der Qualität ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Wer in der Lage ist, seine Aktivitäten als sinnvollen zivilgesellschaftlichen Beitrag zur humanitären und karitativen Schadensminderung darzustellen, empfiehlt sich für private Spenden und öffentliche Fördermittel und bietet seinen Mitgliedern nicht nur einen Arbeitsplatz, sondern auch Aufstiegschancen in anderen Institutionen, die die Arbeit in einer erfolgreichen NGO durchaus als Empfehlung verstehen. Bei allem persönlichen Engagement, mit dem die Arbeit in Feldern der angeblich nichtstaatlichen Einflußnahme auf politische Entscheidungsprozesse, der humanitären Hilfe, der Konfliktverhinderung und, wie in diesem Fall, der Linderung psychischer Schäden durch Gewaltanwendung entwickelt die Dynamik institutioneller und bürokratischer Zwänge stets ein Eigenleben, das die Unbestechlichkeit des individuellen Anliegens der Aktivisten in Frage stellen kann.

medico international bezieht seinen jährlichen Haushalt von 10 bis 12 Millionen Mark aus privaten Spenden sowie aus Zuschüssen, die die Organisation für die Projekte, die sie initiiert und unterstützt, etwa von der EU, dem Bundesministerium für Zusammenarbeit und Entwicklung, dem Auswärtigen Amt und Länder- sowie Kommunalhaushalten bezieht. Als Scharnier zwischen der öffentlichen Hand und der eigentlichen Projektarbeit, die von einer Vielzahl von Initativen und Gruppen auf mehreren Kontinenten geleistet wird, fungiert die Organisation praktisch als Dachorganisation oder Holding humanitärer Hilfe. In der Bundesrepublik tritt sie vor allem durch Stellungnahmen zu politischen Problemen etwa der Rüstungs- und Entwicklungspolitik oder außenpolitischer Entscheidungen, die das Schicksal der von ihr betreuten Menschen betreffen, in Erscheinung.

Auf der dem Report beiliegenden CD ist eine Selbstdarstellung der Organisation enthalten, die den politischen Standort medicos umreißt, der gerade bei Fragen des im Report behandelten Gebiets der psychosozialen Nachsorge nach kriegerischen Auseinandersetzungen und physischer Gewaltanwendung durch diktatorische Regimes von Bedeutung ist:

30 Jahre Projektarbeit -
Ein kleiner Exkurs in die MEDICO-Geschichte
'Krankheit macht die Menschen arm und Armut macht die Menschen krank.' Dieser Satz beschreibt einen Teufelskreis, dem Bewohnerinnen und Bewohner der armen Länder auf fatale Weise ausgeliefert sind. Um dieses elementare Menschenrecht auf Gesundheit auch für Menschen in den unterprivilegierten Regionen der Erde zu sichern, gründeten Frankfurter Bürgerinnen und Bürger, Medizinstudenten, Ärzte und Krankenschwestern vor über 30 Jahren medico international. Sie waren entsetzt von den Bildern abertausender ausgezehrter Menschen in Biafra, im südöstlichen Nigeria. Der Impuls helfen zu wollen war naheliegend und schien so einfach zu realisieren. Die medico-Gründer schrieben hunderte von Ärzten an und sammelten Medikamente, um sie Kriegs- und Hungeropfern zukommen zu lassen. Dass sich Gesundheit nicht aus dem Überfluss der westlichen Gesellschaft über die Dritte Welt ergießen läßt, hat medico international aus der Biafra-Hilfe schnell gelernt. Gesundheit ist für medico der zentrale Begriff geblieben, an den unsere Projekthilfe anknüpft. Wir verstehen Gesundheit wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als 'Zustand des vollständigen physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens'.
Die Erfahrungen, die wir in mehr als 30 Jahre Projektarbeit gemacht haben, spiegeln sich in den unterschiedlichen Begriffen, mit denen medico das eigene Konzept von Unterstützung zu beschreiben suchte: Es begann mit 'Katastrophenhilfe' - der gut gemeinte, aber wenig wirksame Medikamenten-Versand war die wohl kürzeste Phase in der medico- Entwicklungsgeschichte. Ihr folgte sehr schnell die Einsicht, dass mehr nötig ist als punktuelle Therapie von Symptomen, um Menschen zu unterstützen, die einen Ausweg aus ihren krankmachenden Lebensverhältnissen suchen. Mit der 'Befreiungshilfe' war die Hoffnung verbunden, die gesellschaftlichen Strukturen von Grund auf zu verändern. Wir unterstützten Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, die für gerechtere Lebensverhältnisse eintraten. Nur so schien das von der Weltgesundheitsorganisation formulierte Ziel 'Gesundheit für alle im Jahre 2000' eingelöst zu werden. Die Befreiungsprojekte scheiterten am Ost-West-Konflikt, in dem unter anderem das nicaraguanische Experiment zerrieben wurde, und an den patriarchalischen Strukturen der Befreiungsorganisationen selbst. Aber auch viele Projektionen westlicher Utopien hielten dieser Wirklichkeitsprüfung nicht stand.

Diese Entwicklungsgeschichte qualifiziert medico gerade aufgrund des Verzichts auf Imperialismuskritik und des positivistischen Abgesangs auf alle Versuche, mit den geschilderten Problemen einen grundsätzlichen Umgang zu pflegen, zum saturierten Mitglied des internationalen NGO-Apparats, der seinen Frieden mit den herrschenden Kräften gemacht hat, um nun als Moderator ihrer politischen Entscheidungen Akzeptanz zu schaffen und als freiberuflicher Reparaturbetrieb die Mängel und Störungen des kapitalistischen Weltwirtschaftssystems zu lindern. Die Abkehr vom Konzept politischer Emanzipation durch revolutionäre Erhebung ist der äußere Ausdruck eines Konformismus, der das System westlicher Staatlichkeit, das man auch in Zeiten internationaler Solidarität für die Befreiungsbewegungen des Südens nicht grundsätzlich in Frage stellte, durch sich kritisch gebende Korrektur stabilisiert. Als Fördermitglied von medico wie als Mitglied jeder anderen NGO auch, die sich durch engagierte zivilgesellschaftliche Partizipation des grundlegenden Streits auf dem Felde von Macht und Herrschaft enthoben hat, gibt man zu erkennen, daß man lieber "ein Stück weit" die Not lindert, als den Schrecken der ganzen Strecke dieses Problems in Angriff zu nehmen.

Die im medico Report vorgestellte psychosoziale Arbeit kann daher nicht verleugnen, bei aller Fortschrittlichkeit, mit der sie sich etwa von den Protagonisten des Traumakonzepts PTSD (Post- Traumatic-Stress-Disorder) abhebt, auf der Ebene psychotherapeutischer Linderung zu verbleiben, von der aus man keineswegs mehr auf die zugrundeliegenden politischen Auseinandersetzungen zugreift. Wenn etwa in einem Beitrag des Reports, der als Ergebnis der medico-Konferenz "Psychosoziale Arbeit nach Krieg und Diktatur" vom Juli 2000 entstanden ist und Texte verschiedener dort über ihre Arbeit referierender Aktivisten enthält, die nichterfüllte Hoffnung der Betroffenen auf Gerechtigkeit als Anlaß für psychosoziale Intervention dargestellt wird, dann wäre nicht nur danach zu fragen, was man etwa gegen die Verweigerung der Strafverfolgung der in diesem Falle gemeinten chilenischen Folterer unternehmen könnte, sondern wie man eine solche Erwartung überhaupt positiv affirmieren kann.

Tatsächlich handelt es sich bei der Hoffnung auf Vergeltung juristischer Art und Entschädigung um einen Anspruch, der sich angesichts der keineswegs grundlegend veränderten Bedingungen der Herrschaftsausübung kaum verwirklichen lassen wird. Wenn etwa die Verhaftung Pinochets als Fortschritt für seine traumatisierten Opfer gewertet wird, weil die "Tatsache, daß der Diktator nicht länger unangetastet blieb", die Einlösbarkeit dieses Anspruchs suggeriert, dann sind die Betroffenen vom Regen in die Traufe geraten. Zwar werden in Chile heute keine Oppositionellen mehr ermordet und gefoltert, doch Armut und Unterdrückung haben sich durch die Dominanz kapitalistischer Politik qualifiziert. Die Beseitigung einer sozialistischen Regierung auf Betreiben der USA ist natürlich jenseits jeder Möglichkeit der Sühne, daher verabreicht man den Opfern die Beruhigungspille einer angeblich alles richtenden Weltjustiz, auf daß sie in dem sozioökonomischen Raubsystem, das unter Pinochet etabliert wurde und fortbesteht, weiterhin gut funktionieren.

Wenn psychosoziale Arbeit "endlich auch die subjektive Seite der Betroffenen" wahrnimmt, um den traumatisierten Menschen dabei zu helfen, "angemessene Gegenreaktionen und Verarbeitungsformen zu finden, Konzepte zu entwickeln und Hilfe anzubieten", dann demonstriert diese Trennung von den demgegenüber "objektiven" Mißständen, daß man selbige nicht ernsthaft in Frage zu stellen gedenkt. Zwar beansprucht medico-Mitarbeiterin Usche Merk ein breites Handlungsspektrum für psychosoziale Arbeit, die "von individueller, therapeutischer Betreuung, gemeindeorientierter Rehabilitation und der Selbsthilfe von Betroffenenorganisationen bis zum Kampf um die Verteidigung und Durchsetzung von Menschenrechten und die Mobilisierung sozialer Bewegungen" reiche, rührt mit dem von ihr vorgestellten Konzept "Schnelle Eingreiftruppe Seele" jedoch nicht an den konstituierenden Voraussetzungen der Gewalttätigkeit, die diese Arbeit erforderlich macht.

Selbst wenn sich die Autoren des Reports nicht für militärische Interventionen aussprechen, so muß man die Option einer Durchsetzung der Menschenrechte durchaus als Aufforderung verstehen, in den geschilderten Konflikten, in denen die Opfer ganz und gar ohnmächtige Beute bewaffneter Kräfte sind, notfalls auch auf solche Weise für die Eröffnung eines neuen Arbeitsfelds zu sorgen. Schließlich läßt sich humanitäre Arbeit nur erschwert unter den Bedingungen des Krieges verrichten, und da NGOs, etwa in Jugoslawien oder in Tschetschenien, bereits in Verdacht geraten sind, gegen ihr Gastland gerichtete Interessen zu verfolgen oder die Internationalisierung des Konflikts mit der Folge imperialistischer Einmischung zu betreiben, bestehen die besten Voraussetzungen für psychosoziale Arbeit in befriedeten Regionen unter Kuratel des Westens.

Letztendlich kann eine solche Arbeit, so sehr sie auch auf das Individuum oder die Gemeinde zentriert sein mag, sich politischer Stellung- und Parteinahme nicht enthalten. Der Anspruch der Menschenrechte ist so universal wie seine Verwirklichung interessengebunden, werden sie auf dem Feld internationaler Politik doch regelmäßig als Sturmgeschütze hegemonialer Interessen verwendet, die in der Konsequenz die eine Gewaltanwendung durch die andere ablösen, wenn sie nicht gar in schlimmeren Zuständen resultieren. Stellt man zudem die Abhängigkeit medicos von öffentlichen Mitteln in Rechnung, dann muß die Organisation sich schon sehr kämpferisch zeigen, um sich etwa staatlichen Konzepten der zivil-militärischen Zusammenarbeit beim Konfliktmanagement zu entziehen. Seit dem Jugoslawienkrieg hat die Integration der NGOs in die westliche Kriegsführung große Fortschritte gemacht, besteht doch im Menschenrechtskrieg erheblicher Legitimationsbedarf, um sich von den vermeintlichen Übeltätern, denen der humanitäre Interventionismus gewidmet ist, abzugrenzen.

So klärt der Titel "Die Gewalt überleben" denn auch hinreichend über das Ziel der psychosozialen Arbeit auf - "die Gewalt" wird als vermeintlich hintergrundloses Phänomen des Weltgetriebes hingenommen, um sich mit ihr im Rahmen einer Überlebensstrategie zu arrangieren. Daß politische und gesellschaftliche Gewalt nicht als anthropologische Eigenart des Menschen auftreten, sondern von konkreten Interessen beflügelt werden, an der jeder teilhat, der auf Kosten anderer Menschen sein Überleben sichert, ist eine Sicht auf die Verhältnisse, die den institutionellen Rahmen jeder NGO, deren vermeintliche Unabhängigkeit vom Staat nicht umsonst konstatiert wird, sprengte.

Beim "Kontext von Krieg, Diktatur und Armut", dessen Berücksichtigung in der Arbeit der medico-Organisationen besonders herausgestrichen wird, handelt es sich daher um nichts anderes als die Affirmation der Bedingungen, denen man entgegenzutreten hätte, wenn man sie nicht als integrative Kehrwerte der therapeutischen Ratio begriffe. Der Fortschritt einer Traumaarbeit, die die Bedingungen der Leiden, unter denen die Opfer leben, gründlicher einbezieht, als es etwa der PTSD- Ansatz tut, ist bestenfalls gradueller Art, überschreitet die Grenze zum Widerstand gegen physische Gewaltanwendung und die sie erzeugenden sozioökonomischen Voraussetzungen jedoch nicht. Da die im medico Report vorgestellten Projekte zudem sehr zeitaufwendig sind, können sie dem Anspruch der Hilfe nicht einmal auf breiter Ebene gerecht werden, sondern müssen notgedrungen exemplarischer Art bleiben.

Die vorgestellten Projekte psychoszialer Arbeit mögen bei den daran teilnehmenden Menschen durchaus zu einer Besserung ihres Befindens beitragen, verbleibt man doch im bescheidenen Rahmen des Vergleichs zu den überwundenen Schrecken. Die Linderung psychischer Symptome und ihre Anerkennung als Krankheit im Rahmen des Konzepts von der "Entprivatisierung des Leids", die die eingeschränkte Leistungsfähigkeit der Betroffenen gesellschaftlich akzeptabel machen und damit ihrer beabsichtigten Stigmatisierung die Wirkung nehmen soll, vermag nur im Traum einer von Herrschaft und Überlebenszwang befreiten Welt das Ziel zu erreichen, "daß die Menschen wieder Subjekt ihres Lebens werden und ihr Leben als Subjekte wieder in die Hand nehmen und als Zeugen unmenschlicher Politik auf diese Einfluß nehmen". Verfügte die Masse der Menschen über die in diesen Worten ausgedrückte Freiheit von Fremdbestimmung, dann wäre ein Zustand erreicht, den das medico-Konzept von vorneherein postuliert, um nicht für ihn kämpfen zu müssen. Psychosoziale Arbeit steht damit im Widerspruch zu jedem Ansatz emanzipativer Politik, der es mit der Aussichtslosigkeit aufnimmt, gegen herrschende Verhältnisse anzutreten.

Als im Süden tätige Organisation eines reichen Industrielands ist medico Bestandteil dieser Verhältnisse, und so selbstkritisch man auch um die Vermeidung eines kulturellen Übergriffs bemüht sein mag, die prinzipielle Gutheißung westlicher Werte und Rechte kann diese Arbeit nur zum Transportmittel der sie ermöglichenden politischen Strukturen machen. Auf welch absurde Weise diese mitunter durchschlagen, zeigt etwa das Eintreten des medico- Nahostkoordinators, Hans Branscheidt, für die Aufrechterhaltung der UN-Sanktionen gegen den Irak. Zwar heißt er die menschenfeindliche Aushungerung des Landes nicht gut, propagiert sie jedoch als bedingt sinnvoll, solange die nordirakischen Kurden bei Aufhebung des Embargos neuerliche Repression durch die irakische Regierung zu befürchten hätten.

Vorbedingung für ein Ende des schleichenden Massenmords wäre also der Sturz der amtierenden Bagdader Regierung und die Einsetzung einer vom Westen kontrollierten Administration, die eine solche Möglichkeit verhinderte. Die im Zuge dieses Engagements Branscheidts erfolgte Diffamierung deutscher Sanktionsgegner als Rechtsextremisten entspricht dem Schweigen der Organisation zum gegenwärtigen Nahostkonflikt. Während sie sich in anderen Fällen, etwa bei deutschen Rüstungslieferungen an die Türkei, durchaus zu Wort meldete, läßt sie nicht erkennen, daß sie etwas gegen die Unterdrückung der Palästinenser einzuwenden hätte, obwohl sie ein Projekt für behinderte Kinder in Palästina unterstützt.


hrsg. von medico international
Die Gewalt überleben
Psychosoziale Arbeit im Kontext von Krieg, Diktatur und Armut
medico Report 23
Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main, 2001