Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/065: Fußball ist ein Spiel für 22 Leute... (WM-Tagebuch) (SB)


Christoph Biermann


Fußball ist ein Spiel für 22 Leute

und am Ende gewinnt immer Deutschland. Außer manchmal.



Fußball ist immer noch ein Spiel für 22 Leute. Aber am Ende gewinnt nicht mehr, wie der englische Stürmerstar Gary Lineker einmal resigniert gewitzelt hat, immer Deutschland. Wer bei der 16. Fußball- Weltmeisterschaft die Mannschaften aus Brasilien und Holland hat spielen sehen, den Weltmeister Frankreich oder Dänemark, England und Nigeria, muß deutsche Tugenden inzwischen für das Ding von Vorgestern halten. Und interessiert hat sich dafür, außer in Deutschland, auch niemand mehr. In Frankreich ist eine neue Ära des Hochgeschwindigkeits-Fußballs angebrochen, in der eine neue Schönheit des Spiels andere Protagonisten gefunden hat als der deutsche Kämpfer. (Vorwort)

Vor zwei Jahren, genauer gesagt im Sommer 1996, als die deutsche Nationalmannschaft in England mehr oder minder überraschend Europameister wurde, war der Witz mit den 22 Leuten und `am Ende gewinnt immer Deutschland' wirklich noch ein Witz - und das vor allem aus deutscher Sicht, kitzelte diese so treffliche Formulierung doch im nebenherein den so tiefsitzend verpönten Nationalstolz. Von dem sportlich-nüchternen Kern dieses geflügelten Wortes, daß nämlich so genau keiner sagen kann, wie der damalige Erfolg eigentlich zustande gekommen sein mochte, wollte in diesem unseren Lande schon bald niemand mehr etwas wissen; und so nahm man dann im Siegesrausch der zum dritten Mal gewonnenen Europameisterschaft auch gern so manch spöttischen Unterton in Kauf:

Jaja, unterschätze nie die Deutschen! Sie geben sich erst geschlagen, wenn der Schiedsrichter schon lange unter der Dusche steht. (De Telegraaf, 1996)

Einzig Berti Vogts, damals noch erfolgreicher Bundestrainer, war überzeugt davon, daß die beste Mannschaft das Turnier gewonnen habe, und scheute sich nicht, die (deutschen?) Kämpfertugenden im tiefsten Brustton der Überzeugung zu loben. Wenn also Christoph Biermann im Vorwort seines WM-Tagebuchs auf die "deutschen Tugenden" als einem "Ding von Vorgestern" zurückgreift, könnte leicht in Vergessenheit geraten, daß diese Worthülsen auch vorgestern bestenfalls zum Ersatz gereichten und keineswegs dazu angetan waren, den deutschen EM-Titelgewinn plausibel zu machen.

Doch all das ist, wie jeder weiß, längst Schnee von gestern; und so muß sich Christoph Biermann den stillen Vorwurf gefallen lassen, mit dem Titel seines nur wenige Tage nach der Weltmeisterschaft von 1998 erschienenen Buches - "Fußball ist ein Spiel für 22 Leute, und am Ende gewinnt immer Deutschland. Außer manchmal." - den Finger in eine schlecht vernarbte Wunde gelegt oder einen etwas mißglückten Witz gelandet zu haben. Die `deutschen Kampftugenden', so es sie denn je gab, haben bei der France '98 bekanntlich versagt, das DFB-Team schied wie schon bei der Weltmeisterschaft von 1994 in den USA im Viertelfinale aus und konnte den hochgeschraubten Erwartungen nicht gerecht werden.

Das schnelle bzw. schnell produzierte WM-Tagebuch des Christoph Biermann verspricht in dieser für die deutsche Fan-Gemeinde mißlichen Lage nun eine - wie vom Verlag angekündigt - "eigenwillige Berichterstattung", die sich jedoch schon beim ersten Hinsehen als Sammelsurium unzusammenhängender Tagesmeldungen mitsamt recht inhaltsleerer und standpunktloser Glossen entpuppt, die an analytischen Betrachtungen zu der schmerzlich-heiklen Frage nach den Ursachen und Hintergründen des in Frankreich offenbar gewordenen Leistungsstandes des deutschen Fußballs nichts anderes zu bieten haben als eben die eingangs bereits zitierte Bemerkung, Hochgeschwindigkeits-Fußball werde woanders gespielt.

Und selbst dabei bleibt offen, wer nach Biermanns Auffassung bei der erstklassigen Konkurrenz eigentlich Hochgeschwindigkeit erreicht hat. Der Ball? Die Spieler? Die eigenen oder die gegnerischen, die vergeblich hinterherlaufen? Könnte man im Umkehrschluß daraus folgern, daß es den deutschen Spielern, Turbo- Andy vielleicht einmal ausgenommen, an Laufgeschwindigkeit gemangelt habe oder an dem spielerischem Vermögen, Ball und Gegner laufen zu lassen? Doch so genau darf man gar nicht nachfragen, was im übrigen auch für das Etikett der Zweitklassigkeit gilt, das der Autor der erfolgsverwöhnten deutschen Mannschaft ganz im Trend der Zeit nun anheftet und dabei eigentlich nichts anderes tut, als seine eigene (enttäuschte) Erwartungshaltung hinter einem willfährigen `wir' zu verbergen.

Das Parfüm des Abstiegs
Es fühlt sich wie ein Abstieg an, denn wir erkennen einen Abstieg am Selbstbetrug. Selbstverständlich haben wir schon vor Wochen, selbst vor Monaten alle Schwächen unserer Mannschaft gesehen und gewußt, daß ihre Qualitäten nicht ausreichen würden, um die Klasse zu halten. Wir haben die Fakten wider besseren Wissens bis zum Äußersten gebeugt, alle positiven Anzeichen deutlich überbewertet und alle negativen Anzeichen heruntergespielt. Jede Schwäche in der Abwehr haben wir als momentanen Aussetzer und die Einfallslosigkeit im Mittelfeld als zwischenzeitlichen Durchhänger erklärt. Jede gelungene Aktion und jedes unserer Tore hingegen galt uns als Anzeichen des Durchbruchs. Wir haben die anderen Mannschaften gesehen, aber unsere Augen vor ihren Fähigkeiten und ihrer Klasse verschlossen. Blind gemacht haben wir uns, weil ein offener, scharfer Blick nur die Trostlosigkeit der Zeit danach offenbart hätte, im Land der Zweitklassigkeit. (S. 102, Sonntag, 5. Juli)

Sollte dieses Zitat nun zugleich als Kostprobe der besonderen Originalität dieser kleinen WM-Rückschau zu betrachten sein? Leider ja, was nicht unbedingt erwähnenswert gewesen wäre, hätte der Verlag in seiner Buchinformation nicht Erwartungen geweckt, die dieses Werk beim besten Willen nicht zu erfüllen in der Lage ist:

Dies alles ist ein Lesegenuß für jene Fußballfans, denen die üblichen Reporter-Sprachschablonen längst ein Greuel geworden sind und die nach intelligenterer und witziger Fußball- Lektüre suchen.

Unter den `üblichen Reporter-Sprachschablonen' kann man sich auf Anhieb etwas vorstellen, doch offen bleibt, wo und wie der Autor die Ketten dieser Klischees gesprengt haben will. Seine Tagebuch- Eintragungen gemahnen nicht von ungefähr an eine mehr oder minder willkürliche Zusammenstellung der damaligen Pressemeldungen, so wie sie eben weltweit über die Ticker liefen - inklusive ihrer `Sprachschablonen', wie das folgende wahllos herausgepickte Beispiel belegt:

Freitag, 19. Juni
(...) *** Und noch mal Bora Milutinovic, diesmal über seine Pläne nach dem WM-Engagement mit Nigeria: "Ein Trainer plant niemals, andere Leute entscheiden." *** Die Dänen sind, wie die Dänen eben sind. Und wie sind die Dänen? Lustig! Ihre Pressekonferenzen werden mit dem Pfiff aus einer Trillerpfeife eröffnet und ebenso geschlossen. *** Der italienische Nationalspieler Dino Baggio spielt mit dem Franzosen Lilian Thuram zusammen beim AC Parma und fürchtet dessen Eßtaktik: "Thuram stinkt so nach Knoblauch, daß seine Gegner die Konzentration verlieren." (...) *** Nullnummer zwischen Spanien und Paraguay. Geheimfavorit Spanien ist nun Favorit für die größte Pleite bei der WM. Auch Trainer Clemente ist bereits finaler Stimmung: "Wir müssen unser nächstes Spiel gegen Bulgarien wie ein Endspiel angehen." (S. 45)

Über Geschmack, in diesem Fall die Frage, ob das nun "intelligente" und "witzige" Fußball-Lektüre sei oder nicht, läßt sich bekanntlich streiten. Davon einmal abgesehen, hat es dieses WM-Tagebuch ungeachtet seiner inhaltlichen Mängel nun keineswegs verdient, ungelesen in der Bücherkiste zu vermotten, bietet es doch eine Fülle an Material, Meldungen und Kommentaren, die gerade aufgrund ihrer nur losen Verbindung sehr wohl in der Lage sind, den Leser die WM noch einmal Revue passieren zu lassen.

Vom 10. Juni bis zum 12. Juli läßt sich Tag für Tag noch einmal `nacherleben', was sich bei der Weltmeisterschaft an Spektakulärem und weniger Spektakulären zugetragen hat. Diese Erinnerungswirkung setzt allerdings voraus, daß man dieses sportliche Großereignis seinerzeit `live' miterlebt hat - nicht unbedingt in Frankreich vor Ort, aber doch zumindest an heimischen Bildschirmen oder Nachrichtenkanälen. Wenn nicht, dürfte das Verständnis schon schwieriger werden; für den bislang gänzlich uneingeweihten Leser sind Zusammenhänge und Entwicklungsgeschichte dieser Weltmeisterschaft trotz der Datenfülle und des statistischen Anhangs nicht unbedingt ersichtlich.

Christoph Biermann beschrieb am 13. Juli, am Tag nach dem Endspiel der Weltmeisterschaft, in seinem Vorwort die Entstehungsgeschichte seines Werkes wie folgt:

Während des 33tägigen WM-Taumels habe ich bei 20 Spielen im Stadion die besten Mannschaften der Welt erleben dürfen. Ich bin siebentausend Kilometer durch Frankreich gereist, vom Sensations- sieg der Nigerianer gegen Spanien in Nantes zum Belagerungszustand durch deutsche Hooligans in Lens, vom brasilianischen Trainingscamp im Ozoir-La- Ferriere zum deutschen Lager in Saint-Paul-de-Vence. Währenddessen habe ich mit großer Vorfreude auf immer neue Absurditäten stapelweise Zeitungen durchforstet, Hunderte Meldungen aus dem Internet abgerufen und, gleich einer Bakterie, den gigantischen Müllhaufen von Nachrichten zu kompostieren versucht. Dieses Tagebuch ist keines im strengen Sinne und gibt die WM in einer Mischung von täglichem Nachrichtendienst, Kommentar, Glosse und Hörspiel wieder. Es ist insofern ein Tagebuch, als es von Tag zu Tag sagt: So ist die WM. Es zeigt, wie Mannschaften zu Geheimfavoriten und Spieler zu Stars erst hochgelobt werden, aber kurz danach niemand mehr von ihnen redet. (S. 8/9)

Aus diesen Worten nun jedoch zu schlußfolgern, der Autor würde gegenüber der Weltmeisterschaft oder dem Massenkonsumartikel `Fußball' einen wie auch immer gearteten kritischen Standpunkt einnehmen, wäre ein Trugschluß. Zwar werden in seinen Tagesberichten und Glossen immer wieder auch Themen angeschnitten, die zu einer kontroversen Diskussion Anlaß böten - doch das war's dann auch schon.

Ein Beispiel: Jürgen Klinsmann äußerte noch während der Weltmeisterschaft heftige Kritik an der Kommerzialisierung, was Christoph Biermann in seiner Sammelleidenschaft keineswegs untergehen ließ - "Ich habe das Gefühl, Fußball entwickelt sich zu dem, was Tennis früher ein war. Ein Snob-Sport, ein elitärer Sport." Der damalige Kapitän der deutschen Nationalmannschaft fand auch deutliche Worte zur Rolle des Fernsehens, doch auch sie blieben völlig unkommentiert:

Es zählt nicht mehr das eigentliche Ereignis. Es zählt nicht mehr die Atmosphäre, die die Spieler in sich aufsaugen können. Es wird nur noch versucht, das Spektakel Fußball über das Fernsehen zu verkaufen. Das ist teilweise schon erdrückend für das Spiel. (Montag, 29. Juni, S. 82)

Eine inhaltliche Stellungnahme von seiten des Autors? Fehlanzeige. Statt dessen taucht wenige Tage später eine Notiz auf, die daran erinnert, wie seinerzeit mit Klinsmanns Kritik umgegangen wurde. "Er hat das Recht, Blödsinn zu erzählen" (Donnerstag, 2. Juli, S. 89), lautete der Kommentar von Michel Platini, Ex-Weltstar und WM-Organisator, der damit ein beredtes Beispiel für den Geist und Umgangston lieferte, der allen PR- Darstellungen zum Trotz bei diesem sportlichen Medienereignis nie gekannten Ausmaßes vorherrschte. Eine Stellungnahme von seiten des Autors? Fehlanzeige.

Zur Ehrenrettung Biermanns, der nun einmal das Pech hat, sich an den seitens des Verlags hochgeschraubten Erwartungen messen lassen zu müssen, sei jedoch hinzugefügt, daß er durchaus nicht völlig darauf verzichtet, bissige Seitenhiebe zu verteilen. So etwa bekommt die Lichtgestalt des deutschen wie internationalen Fußballs - Franz Beckenbauer - durchaus Saures:

Franz Beckenbauer hat per kaiserlichem Dekret entschieden, daß "diese WM erst mit dem Achtel- finale" begonnen hat. Weil den beliebten Alles- Kommentierer in der Vorrunde "kein einziges Spiel überzeugt" hat, erklärte er kurzerhand 48 Spiele für null und unwichtig. Damit hat sich Beckenbauer zu einem Wortführer jener Klage aufgeschwungen, daß es den kleinen Fußballnationen nicht gelungen ist, die bestehende Fußball-Weltordnung durchzuschütteln. Also, so lautet der Kurzschluß, sollen sie doch gleich zuhause bleiben. (S. 75)

Immerhin, hier macht Biermann deutlich, daß die Beckenbauer'sche Sicht nicht die seine ist und spricht sich für die Zahl von weiterhin 32 WM-Teilnehmern aus, damit auch die im großen Sportgeschäft weniger etablierten Nationen eine Chance haben. Im Kampf der Fußballgiganten gegen die -zwerge schlägt er sich - und das spricht eindeutig für ihn - auf die Seite der `Kleinen':

Was ist so schlimm an einem voraussehbaren 2:0-Sieg des deutschen Teams gegen die USA? Die Kleinen mögen in Frankreich den großen Sprung nach vorne nicht geschafft haben, aber sie waren keine Fußabtreter. Die Zeiten, als 1974 Zaire mit 0:9 gegen Jugoslawien verlor oder acht Jahre später das unglückliche Team aus El Salvador den Ungarn mit 1:10 unterlag, sind längst vorbei. (S. 75)

Kleiner Schönheitsfehler an dieser Argumentation, daß der Sieg der deutschen Mannschaft gegen den späteren WM-Letzten USA keineswegs eine so klare Sache war, wie das 2:0 im nachhinein vermuten läßt, und schon gar nicht "vorhersehbar" - siehe die deutsche "Zweitklassigkeit"!

Unterm Strich gesehen bleibt anzumerken, daß dieses WM-Tagebuch in gewisser Weise sehr wohl hält, was es verspricht: Es spiegelt die tagtäglichen Geschehnisse der Weltmeisterschaft so hautnah wider, wie der Autor sie seinerzeit erlebt, recherchiert und zusammengetragen hat, und insofern stellt dieses Buch ein Stück festgehaltener Sportgeschichte dar. Mehr aber auch nicht, und so kann ein WM-Veteran seinen Lesegenüssen frönen, solange er nicht kritische Inhalte erwartet, die dieses kommerzielle Großereignis tatsächlich in Frage stellen oder der Entwicklung des Fußballs grundsätzlich auf den Zahn fühlen.

F R A N C E '98


Christoph Biermann
Fußball ist ein Spiel für 22 Leute,
und am Ende gewinnt immer Deutschland. Außer manchmal.
Verlag Die Werkstatt, Göttingen 1998
ISBN 3-89533-238-0