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REZENSION/047: Krige, Russo - Europe in Space (Raumfahrt 1960-1973) (SB)


John Krige & Arturo Russo


Europe in Space

Raumfahrtgeschichte



Das von der Europäischen Raumfahrtorganisation ESA herausgebrachte Buch "Europe in Space, 1960-1973" von John Krige und Arturo Russo beschränkt sich nicht nur auf die Entstehungsgeschichte der ESA bzw. die Entwicklung ihrer Vorläuferorganisationen ESRO und ELDO, sondern beschreibt auch in kurzen Auszügen den Beginn des Raumfahrtzeitalters und die Entwicklung der amerikanischen und sowjetischen Raumfahrt.

Die knappe, klare Darstellungsweise macht es dem Leser (unabsichtlich?) leicht, das Interesse zu erkennen, von dem die internationale Raumfahrt von Anfang an getragen wird: dem Streben nach militärischer Überlegenheit. So hat die von Wernher von Braun im Zweiten Weltkrieg entwickelte V2-Rakete für die Entwicklung der Raumfahrt Maßstäbe gesetzt, die noch lange nach Kriegsende ihre Gültigkeit behielten. Daß die Erkundung und Erforschung des Weltraums schon immer von zweitrangiger Bedeutung gewesen ist, wird auch in dem Wettrennen der beiden rivalisierenden Supermächte USA und UdSSR deutlich, denen es natürlich in erster Linie um die Entwicklung von Langstreckenraketen und Spionagesatelliten geht:

With the knowledge and the technology that they already had, and with the injection of new ideas, new people, and new resources from a defeated and depleted Germany, both of the superpowers were now poised to take major initiatives in the field of rocketry. A new era in missile development was beginning, and with it the promise of ultimately exploring and exploiting space. [S. 7]

Wären es tatsächlich ausschließlich wissenschaftliche Interessen, die die Entwicklung der Raumfahrttechnologie beflügelt hätten, dann wären viele der unglaublich kostspieligen Projekte mit Sicherheit Konstruktionszeichnungen geblieben. Nur die Finanzierung durch die jeweiligen Verteidigungsetats der beteiligten Staaten sicherte ihre Realisierung.

Auf welche Weise die Wissenschaft den militärischen Interessen als Feigenblatt zu dienen begann, wird am sogenannten "Internationalen Geophysikalischen Jahr" (31. Juli 1957 bis 31. Dezember 1958) deutlich gemacht. Das Problem bestand damals darin, daß erdumrundende Satelliten fremdes Territorium überquerten, was bei der angespannten Lage im Kalten Krieg leicht hätte als aggressiver Akt aufgefaßt werden können. Da allerdings beide Supermächte daran interessiert waren, ihre Satellitentechnik weiterzuentwickeln, einigte man sich auf besagtes "Internationales Geophysikalisches Jahr", um die eigenen technischen Entwicklungen unter dem Vorwand, die Erdatmosphäre erkunden zu wollen, in der Praxis auszuprobieren:

Strategic reconnaissance was the main objective of satellites from the military point of view. This, however, posed a severe political problem, for a spacecraft overflying foreign territory and gathering photographic data beyond the range of retaliation risked being taken as an act of aggression. A vigorous Soviet protest, in particular, was to be expected, with an appeal to international law or even threats against neighbouring states housing United States' tracking stations. The idea of the 'freedom of space' had to be established worldwide before space activities could be undertaken without becoming snarled up in the complexities of Cold War politics. The International Geophysical Year (IGY) offered a solution to such a problem. [...]

On 28 July 1955 the White House Press Secretary announced that the President had agreed to the launch of 'small, Earth-circling satellites' as part of the USA's participation in the IGY. Within a day or two the Kremlin announced that the USSR planned to do likewise. These would be the first satellites into space." [S. 8]

Im Rahmen dieses offiziell vereinbarten "Forschungsjahres" startete Moskau am 4. Oktober 1957 den ersten Satelliten im Erdorbit, Sputnik 1. Damit nahm das Wettrennen im Weltraum seinen Lauf. Von den Autoren wird geschildert, wie sich die europäischen Länder zueinander und zu den USA verhalten und wie schließlich der Wunsch nach einer europäischen Raumfahrtorganisation entsteht. Kaum ein einzelnes europäisches Land ist in der Lage, die enormen Kosten eines umfangreichen eigenen Raumfahrtprogramms auf nationaler Basis aufzubringen. Darüber hinaus muß in vielen Bereichen noch ausgiebig geforscht werden. Auch die Erwägung einiger europäischer Länder, sich lieber den USA anzuschließen, als wertvolle Zeit mit dem Aufbau einer eigenen Organisation zu verbrauchen, wird nachvollziehbar dargestellt.

Insgesamt liefert das Buch einen guten Überblick über die wirtschaftlichen, politischen und militärischen Hintergründe der Raumfahrt. Als Raumfahrtorganisation seien der ESA als Herausgeberin des Buches einige Lücken verziehen, die sowohl den Zweck als auch die politischen Druckmittel, die einige europäische Länder zur Mitgliedschaft bewegt haben mögen, im Dunkeln lassen. Für den raumfahrtkritischen, aufmerksamen Leser ist das vorliegende Buch ohnehin schon aufschlußreicher im Hinblick auf politische Hintergründe, als man es von ESA- Publikationen ansonsten gewohnt ist.

Denn klar wird allemal, daß die Hightech-Schlacht der Supermächte im Weltraum, die im amerikanischen Prestige-Projekt "Mondlandung" gipfelte, nicht etwa vorbei ist, sondern lediglich ihr Gesicht ein wenig gewandelt hat. Da es nicht mehr die Frage ist, wessen Atomraketen die größere Reichweite haben, verlagern die Vernichtungsmethoden sich eher in den wirtschaftlichen Bereich. Wer noch mit der rasanten technischen Entwicklung Schritt halten will, kann sich kaum erlauben, auf die Raumfahrt als Katalysator innovativer Technologien zu verzichten. Schließlich ist nicht zuletzt durch die Entwicklung der Raumfahrt- und Satellitentechnologie die Welt innerhalb eines halben Jahrhunderts zum Dorf geworden und ungeachtet aller nationalen Interessen zeichnet sich immer deutlicher ab, worauf der ganze Aufwand hinausläuft: Auf die Etablierung eines Staatenbündnisses, der aus berufenen (also reichen) Ländern besteht, die bei Bedarf das Wachstum jedes Kohlkopfes beobachten und über die Energieversorgungsnetze alle "Störfaktoren" im wahrsten Sinne des Wortes kaltstellen können.

Das auch für Leser mit mittelmäßigen Englischkenntnissen gut verständliche ESA-Buch bietet dem Raumfahrtinteressierten auf jeden Fall zahlreiche Anhaltspunkte, um sich ausmalen zu können, wie die von den Raumfahrtnationen verfolgte Linie in Zukunft weiterverläuft. Dazu muß man allerdings bereit sein, ein wenig zwischen den Zeilen zu lesen. Sonst könnte man tatsächlich den Eindruck gewinnen, daß die verschiedenen Raumfahrtorganisationen lediglich Ausdruck des unersättlichen menschlichen Forschungsdranges sind.


John Krige & Arturo Russo
Europe in Space
Raumfahrtgeschichte
ESA Publications Division, 1994
Noordwjik, Niederlande
142 Seiten, in englischer Sprache
ISBN 92-9092-125-0